LG Offenburg – Az.: 3 Qs 29/18 – Beschluss vom 27.03.2019
1. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Offenburg wird der Beschluss des Amtsgerichts Kehl vom 08. Februar 2018 (2 Cs 206 Js 10658/15) aufgehoben.
2. Die Sache wird zur Entscheidung auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens an das Amtsgericht Kehl zurückgegeben.
Gründe
I.
Die Staatsanwaltschaft legt im Strafverfahren 2 Cs 206 Js 10658/15 M. zur Last, am 15.05.2015 mit einem Pkw in R. am öffentlichen Straßenverkehr teilgenommen zu haben, obwohl er nicht im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis gewesen sein soll. Dies habe er gewusst. Er soll sich wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis gemäß § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG schuldig gemacht haben. Auf dieser Grundlage hat die Staatsanwaltschaft mit Datum vom 20.07.2015 den Erlass eines Strafbefehls und die Verhängung einer Geldstrafe in Höhe von 25 Tagessätzen beantragt.
Da M. zwar nicht im Besitz einer deutschen Fahrerlaubnis war, in Frankreich aber bereits erfolgreich die Prüfungen für die Erteilung der Fahrerlaubnis Klasse B bestanden und ihm insoweit am 17.04.2015 die entsprechende Bescheinigung (Certificat D´Examen du Permis de Conduire, kurz CEPC) erteilt, ihm aber erst am 09.07.2015 der endgültige französische Führerschein ausgestellt worden war, legte das Amtsgericht Kehl mit Beschluss vom 22.03.2016 dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen zur Vorabentscheidung vor. Es wurde unter anderem zur Entscheidung gestellt, ob das Recht der Europäischen Union einer Regelung eines Mitgliedstaates entgegensteht, die das Führen eines Kraftfahrzeugs wegen eines Vergehens mit einer Kriminalstrafe bedroht, weil der Fahrzeugführer nicht über das Recht zum Fahren verfüge, obwohl dieser Fahrzeugführer in einem anderen Mitgliedsstaat eine Fahrerlaubnis nach den Vorgaben der 3. Führerscheinrichtlinie erworben hat, ohne darüber jedoch durch ein Legitimationspapier, welches dem Führerscheinmuster der 3. Führerscheinrichtlinie entspricht, Nachweis führen zu können. In diesem Vorabentscheidungsverfahren hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 26.10.2017 (C-195/16) entschieden.
Mit Beschluss vom 20.11.2017 nahm das Amtsgerichts Kehl das gegen M. geführte Strafverfahren wieder auf. Mit dem im Tenor genannten Beschluss vom 08.02.2018 hat das Amtsgericht Kehl den Erlass des von der Staatsanwaltschaft beantragten Strafbefehls abgelehnt. Zur Begründung ist unter anderem ausgeführt worden, dem entsprechenden Gesuch stünden Rechtsgründe entgegen. Nach den Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union im Urteil vom 26.10.2017 sei bereits ein Schuldspruch wegen eines Vergehens des Fahrens ohne Fahrerlaubnis unverhältnismäßig, selbst wenn keine unmittelbare Bestrafung erfolgen würde. Die geringstmögliche Rechtsfolge nach einem Schuldspruch wäre eine Verwarnung mit Strafvorbehalt gemäß § 59 StGB ohne Verhängung von Bewährungsauflagen nach § 59a Abs. 2 StGB. Diese Rechtsfolge wäre im Hinblick auf die von der Tat ausgehenden konkreten Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs nicht erforderlich und würde eine weitaus schwerere Sanktion bedeuten, als sie für vergleichbare, rein inländische Sachverhalte drohen würde. In diesem Fall stünde der Angeschuldigte für mindestens ein Jahr unter Bewährung und auf jeden Fall würde ein Eintrag im Bundeszentral- und im Fahreignungsregister erfolgen. Ein Fahrzeugführer, dessen Fahreignung in vergleichbarer Weise in Deutschland festgestellt worden wäre, drohe hingegen lediglich eine Ordnungswidrigkeit nach § 75 Abs. 1 Nr. 4 FeV. Der dem Angeschuldigten vorgeworfene Sachverhalt begründe kein höheres Sanktionsbedürfnis als die Ahndung einer Ordnungswidrigkeit nach der genannten Vorschrift. Dafür, dass allenfalls die Ahndung als Ordnungswidrigkeit mit einem Bußgeld als verhältnismäßig angesehen werden könne, spreche auch die Begründung des Urteils des EuGH vom 26.10.2017. Dieser habe ausgeführt, dass eine auferlegte Sanktion nicht außer Verhältnis zur Schwere der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Tat stehen dürfe. Würde eine harte -straf- oder verwaltungsrechtliche- Sanktion wie eine Freiheitsstrafe oder eine hohe Geldstrafe auferlegt, stünde dies außer Verhältnis zur Schwere der in Rede stehenden Tat und würde damit das Recht dieses Fahrzeugführers, sich im Gebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten oder die Grundfreiheiten beeinträchtigen. Nicht unverhältnismäßig sei dagegen die Auferlegung einer milden Sanktion wie eine Geldbuße in angemessener Höhe. Es sei ferner zu berücksichtigen, dass der Gerichtshof die vom Generalstaatsanwalt vorgeschlagene Beantwortung der Vorlagefragen nicht ausdrücklich verworfen habe.
Der Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit nach § 75 Abs. 1 Nr. 4 FeV stehe im zu entscheidenden Fall das dauerhafte Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung entgegen. Nach alldem sei der Erlass des beantragten Strafbefehls gem. § 408 Abs. 2 StPO aus rechtlichen Grüßen abzulehnen.
Gegen diesen Beschluss hat die Staatsanwaltschaft Beschwerde eingelegt und diese mit Schreiben vom 28.03.2018 begründet. Das Amtsgericht habe nur drei Möglichkeiten der Verfahrensweise. Entweder erlasse es den Strafbefehl, oder es lehne diesen bei fehlendem hinreichenden Tatverdacht ab oder es beraume Hauptverhandlung an. Weitere Möglichkeiten bestünden nicht. Im deutschen Strafrecht bestünde keine Möglichkeit, von der Verfolgung einer Straftat abzusehen, weil von einer Unverhältnismäßigkeit des Schuldspruchs ausgegangen werde. Wenn die Voraussetzungen der Strafnorm gegeben seien -hier des § 21 StVG- könne nicht von der Verfolgung abgesehen und dies damit begründet werden, ein Schuldspruch wäre unverhältnismäßig.
M. hat über seine ihm beigeordnete Verteidigerin Gelegenheit erhalten, zur Beschwerde Stellung zu nehmen. Insoweit hat er sich der Auffassung des Amtsgerichts Kehl angeschlossen, wie im Schriftsatz vom 01.06.2018 ausgeführt worden ist.
II.
Die zulässige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
Der Erlass eines Strafbefehls bzw. die Anberaumung der Hauptverhandlung nach § 408 Abs. 3 StPO hat zur (Mindest-)Voraussetzung, dass der Angeschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint, dass also die Wahrscheinlichkeit besteht, es werde zu einer Verurteilung kommen. Liegen unüberwindlich erscheinende Zweifel am Tatnachweis vor, ist die dem Angeschuldigten vorgeworfene Tat aus Rechtsgründen nicht strafbar oder besteht ein nicht behebbares Verfahrenshindernis, unterliegt der Antrag auf Erlass eines Strafbefehls der Ablehnung (vgl. Maur, Karlsruher Kommentar zu StPO, 7. Auflage, Rdn. 9 zu § 408).
Das Amtsgericht hat auf der Grundlage seiner Bewertung der materiellen Rechtslage zwar folgerichtig den Erlass des Strafbefehls aus rechtlichen Gründen abgelehnt. Insoweit spricht vieles dafür, dass im Falle der Unverhältnismäßigkeit jeglicher denkbarer strafrechtlichen Sanktion ein Verfahrenshindernis besteht. Ein solches kommt – ausnahmsweise – in Betracht, wenn die gegen eine Sachentscheidung sprechenden Gesichtspunkte derart schwer wiegen, dass von ihnen die Zulässigkeit des gesamten Verfahrens abhängig gemacht werden muss (vgl. BGHSt, 46, 159; Fischer, Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Auflage, Rdn. 409 der Einleitung).
Nach dem bisherigen Sach- und Rechtsstand ist aber ein für den Erlass eines Strafbefehls bzw. für die Anberaumung der Hauptverhandlung hinreichender Tatverdacht gegeben und stehen einer Verurteilung des Angeschuldigten weder ein Verfahrenshindernis noch sonstige rechtliche Erwägungen entgegen.
Nach der deutschen Rechtsordnung besitzen diejenigen Personen, die eine ausländische Fahrerlaubnis innehaben, aber lediglich über einen vorläufig ausgestellten Führerschein im Sinne § 29 Abs. 3 Nr. 1 FeV verfügen, im deutschen Inland nicht die Berechtigung nach § 29 Abs. 1 S. 1 FeV zum Führen von Kraftfahrzeugen. Inhaber einer ausländischen EU-/EWR-Fahrerlaubnis mit nur vorläufig ausgestelltem Führerschein, die gleichwohl mit einer derartigen nicht anerkannten ausländischen Fahrerlaubnis als Kraftfahrzeugführer am Straßenverkehr teilnehmen, erfüllen damit den objektiven Tatbestand des § 21 StVG (vgl. Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Auflage 2016, Rdn. 22 zu § 28 FeV i.V.m. Rdn. 28 zu § 29 FeV).
Der Europäische Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 26.10.2017 ausdrücklich ausgeführt, dass die – in den eben genannten Vorschriften zum Ausdruck gekommene – Weigerung eines Mitgliedstaates, ein von einem anderen Mitgliedstaat zum Nachweis des Bestehens einer Fahrerlaubnis ausgestelltes Dokument anzuerkennen, nicht gegen europäisches Recht verstößt.
Europarechtlich unterliegt in erster Linie die Standardisierung der Bescheinigung zum Führen von Kraftfahrzeugen – der Führerschein – der Harmonisierung. Trotz bestehender (materieller) Fahrberechtigung kann ein Mitgliedstaat damit von einer fehlenden Fahrberechtigung des Inhabers eines nicht den (formellen) Anforderungen der [3.] Führerscheinrichtlinie entsprechenden Dokumentes ausgehen (vgl. Rebler, Anmerkung zu VGH Mannheim, Urt. vom 29.8.2017 – 10 S 856/17, NZV 2018, 181ff.).
Das europäische Recht erlaubt mithin gerade die vom Amtsgericht Kehl als kritisch hervorgehobene grundsätzlich unterschiedliche Behandlung von Personen, die ihre jeweilige Fahrprüfungen erfolgreich absolviert und nur über eine vorläufige Bescheinigung verfügen, danach ob sie In- oder Ausländer sind. Der Umstand, dass trotz bestandener Fahrprüfung von der Fahrerlaubnis – also der Berechtigung zum Führen von Kraftfahrzeugen – im EU-/EWR-Ausland erst dann Gebrauch gemacht werden darf, wenn ein Führerschein nach dem harmonisierten EU-Muster zur Verfügung gestellt worden ist, betrifft im Übrigen auch deutsche Staatsangehörige, die mit zur Verfügung gestellter Prüfbescheinigung ebenfalls nur im Inland von ihrer Fahrerlaubnis Gebrauch machen können (vgl. Dauer/König, DAR 2018, 459 f).
Es ist mithin unionsrechtskonform, dass die deutsche Rechtsordnung Personen, die eine ausländische Fahrerlaubnis innehaben, denen aber ein Führerschein nach EU-Muster fehlt, die Berechtigung zum Führen von Kraftfahrzeugen im Inland versagt und den Fall der Missachtung als Straftat einstuft, während sie bei ähnlicher – gleichwohl nicht derselben – Sachlage die Verkehrsteilnahme eines Inländers ohne formellen Nachweis seiner Fahrberechtigung als bloßes Fahren ohne gültigen Führerschein und damit nur als Ordnungswidrigkeit einstuft. Die vom Amtsgericht Kehl angenommene, im Ergebnis unterschiedslose Vergleichbarkeit beider vorgenannten Fälle und das daraus abgeleitete selbe Sanktionsbedürfnis entspricht nicht, schon gar nicht in der vom Amtsgericht zu Grunde gelegten Absolutheit, den Wertungen des deutschen Regelwerkes und ist europarechtlich auch nicht zwingend.
Eine Sanktionierung des ausländischen Verkehrsteilnehmers mit im Inland nicht anerkannter vorläufiger Prüfbescheinigung ist – in Übereinstimmung mit dem EuGH – vielmehr auch mittels Strafe und nicht nur mittels Geldbuße möglich.
Soweit in der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ausgeführt ist, eine harte -straf- oder verwaltungsrechtliche- Sanktion wie eine Freiheitsstrafe oder eine hohe Geldstrafe stünde für das in Rede stehende Verhalten außer Verhältnis zur Schwere der in Rede stehenden Tat und würde die Grundfreiheiten beeinträchtigen, lässt sich dem nicht entnehmen, dass das Unionsrecht einer Verurteilung als solcher -mithin einem Schuldspruch- wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis entgegenstünde. Derartiges hat der Gerichtshof nicht judiziert, vielmehr ist er der Auffassung des Generalanwaltes gerade nicht gefolgt, nach der eine strafrechtliche Verfolgung und Ahndung europarechtlich nicht möglich sein sollte (so auch Dauer/König, DAR 2018, 459 f). Bei der Bemessung der Sanktion ist lediglich dem verminderten Unrechtsgehalt der Tat und den geringeren Gefahren für die Sicherheit des Straßenverkehrs Rechnung zu tragen. Wenngleich die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs als Möglichkeit einer verhältnismäßigen Sanktion eine Geldbuße erwähnt, lässt das Urteil ohne weiteres auch eine „nicht hohe“ Geldstrafe als zulässige Rechtsfolge zu (so auch Dauer/König, a.a.O.; a.A. ohne Begründung Ternig, Anmerkung zu EuGH, Urt. V. 26.10.2017 – C.195/16, NZV 2018, 573ff.).
Die Folgerungen, die das Amtsgericht Kehl aus dem Vergleich zwischen dem bloß eine Ordnungswidrigkeit verwirklichenden inländischen Fahrzeugführer und dem ausländischen Kraftfahrzeugfahrer, der ein im Inland nicht anerkanntes vorläufiges Führerscheindokument mit sich führt, können deshalb mit den Konsequenzen, wie es das Amtsgericht getan hat, welches nur die Ahndung als Ordnungswidrigkeit als zulässige Sanktion ansieht, nicht abgeleitet werden.
Auch im konkreten verfahrensgegenständlichen Fall sind nach derzeitiger Aktenlage keine solchen (Ausnahme-)Umstände gegeben, die die Annahme einer Unverhältnismäßigkeit jeglicher strafrechtlichen Sanktion rechtfertigen. Dies gilt unbeschadet dessen, dass sich vor dem Hintergrund der nicht primär europarechtsbezogenen Besonderheiten des verfahrensgegenständlichen Falles, insbesondere auch angesichts des weit zurückliegenden Tatzeitpunktes und der Verfahrensdauer, ein Vorgehen nach § 153 Abs. 2 StPO aufdrängt.
Nach dem derzeitigen Sachstand unterliegt es keinem ernsthaften Zweifel, dass der Angeschuldigte während des ihm zur Last gelegten Tatgeschehens mit der CEPC lediglich über einen vorläufig ausgestellten Führerschein im Sinne § 29 Abs. 3 Nr. 1 EeV verfügte. Damit fehlte ihm die Berechtigung nach § 29 Abs. 1 S. 1 FeV zum Führen von Kraftfahrzeugen im Inland, sodass sich hieraus der konkrete und hinreichende Tatverdacht bezüglich der Verwirklichung des objektiven Tatbestandes des § 21 StVG ergibt.
Mangels Verfahrenshindernisses besteht mithin eine solch hohe Verurteilungswahrscheinlichkeit, dass eine Ablehnung des von der Staatsanwaltschaft beantragten Erlasses des Strafbefehls nicht in Betracht kommt. Der angefochtene Beschluss des Amtsgerichts Kehl ist deshalb aufzuheben.
Da die Beschwerdekammer gehindert ist, den von der Staatsanwaltschaft beantragten Strafbefehl selbst zu erlassen, ist das Verfahren an das Amtsgericht Kehl zurückzuverweisen. Das Amtsgericht hat darüber zu befinden, ob es den beantragten Strafbefehl gemäß § 408 Abs. 3 S. 1 StPO erlässt oder gemäß § 408 Abs. 3 S. 2 StPO Hauptverhandlung anberaumt. Bei der entsprechenden Entscheidungsfindung wird auch zu berücksichtigen sein, dass die Frage des von der Staatsanwaltschaft angenommenen Vorsatzes hinsichtlich des Fahrens ohne Fahrerlaubnis gewissen Zweifel unterliegt. Unter Umständen kommt auch eine bloß fahrlässige Begehungsweise in Betracht. Schließlich bedarf auch die Höhe der bislang angesetzten Strafe der eingehenden Überprüfung.