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Straßenverkehrsgefährdung durch Ausscheren auf Überholspur

OLG Koblenz, Az.: 1 Ss 421/88, Urteil vom 03.11.1988

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Strafrichters in Worms vom 18. April 1988 wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen, jedoch wird der Urteilstenor dahin ergänzt, daß der Angeklagte auch des unerlaubten Entfernens vom Unfallort schuldig ist.

Gründe

Der Strafrichter hat den Angeklagten wegen rechtlich selbständiger Vergehen der fahrlässigen Verkehrsgefährdung durch grob verkehrswidrige und rücksichtslose Fahrweise und des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (dieser Teil des Schuldspruchs erscheint im Urteilstenor versehentlich nicht) zu einer Gesamtgeldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 30,– DM verurteilt und ihm für die Dauer von zwei Monaten verboten, Kraftfahrzeuge jeder Art im öffentlichen Straßenverkehr zu führen. Dabei ist er im wesentlichen von folgenden Feststellungen ausgegangen:

Am 6. Juli 1987 befuhr der Angeklagte gegen 10.00 Uhr mit einem Lastkraftwagen mit Tandemanhänger die Bundesautobahn A … im Kreis A.-W. in südlicher Richtung mit etwa 80 km/h. Er wollte einen vorausfahrenden Lastzug überholen, hatte deshalb den linken Blinker gesetzt und bereits mit dem Ausscheren begonnen, als sich von hinten auf der Überholspur der Verkehrsteilnehmer B. mit seinem Pkw Audi und einer Fahrgeschwindigkeit von 180-190 km/h näherte. Auf das mit der Lichthupe gegebene Zeichen des Fahrers B. zog der Angeklagte in einem kurzen Schlenker sein Gespann wieder auf den rechten Fahrstreifen zurück, ließ das überholende Fahrzeug vorbei und zog sofort wieder auf die Überholspur, obgleich dem Fahrer B. in einer Entfernung von etwa 100 m, ebenfalls auf der Überholspur, der Verkehrsteilnehmer R., der gleichfalls eine Geschwindigkeit von etwa 180 km/h einhielt, folgte und ebenso wie B. den Angeklagten und den vorausfahrenden Lastzug überholen wollte. Als der Angeklagte erneut nach links zog, war R. mit seinem Pkw bereits auf 60-80 m herangekommen und gab ebenfalls mit der Lichthupe Blinkzeichen, um den Angeklagten zu veranlassen, auf dem rechten Fahrstreifen zu bleiben. Der Angeklagten scherte jedoch zum Überholen vollständig nach links aus und zwang den Zeugen R. dadurch zu einer Vollbremsung. Das Abbremsen erfolgte so scharf, daß eine große Staubwolke entstand. Der Zeuge R. zog außerdem zur Vermeidung eines Auffahrunfalles sein Fahrzeug nach rechts und geriet dabei über die Standspur hinaus, wo er in der seitlichen Böschung aufprallte. Er blieb unverletzt. An seinem Fahrzeug entstand Sachschaden in Höhe von 1.000,– DM. Der Angeklagte setzte seine Fahrt fort und wurde in der Markthalle des Großmarktes in M. von der Verkehrsteilnehmerin N., die er kurz vor dem Unfall überholt hatte und die das Unfallgeschehen beobachtet hatte, auf den Unfall und sein Verhalten angesprochen. Dabei antwortete der Angeklagte, er habe den nachfolgenden Fahrer gesehen, jedoch lange Zeit zuvor den Blinker gesetzt gehabt. Die Entfernung vom Unfallort nach M. beträgt höchstens 20 km, der Vorhalt der Fahrerin N. gegenüber dem Angeklagten erfolgte noch vor 11.30 Uhr.

Gegen das auf diesen Feststellungen beruhende Urteil des Strafrichters richtet sich die rechtswirksam erhobene Sprungrevision des Angeklagten, der mit ihr die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.

Die Revision ist unbegründet.

Weder die Verfahrensrüge noch die Sachbeschwerde greifen durch. Da die Verfahrensrüge sich nur gegen den Rechtsfolgenausspruch richtet, wird auf sie im Rahmen der Überprüfung des Rechtsfolgenausspruches eingegangen werden.

Der Schuldspruch des angefochtenen Urteils hält den Angriffen der Sachbeschwerde stand. Die getroffenen Feststellungen sind vollständig, klar und ohne Widersprüche. Sie lassen keine Verstöße gegen die Denkgesetze oder gegen Erfahrungssätze zwingenden Charakters erkennen und tragen in objektiver und subjektiver Hinsicht den Schuldspruch der fahrlässigen Straßenverkehrsgefährdung in Tatmehrheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort nach den §§ 315 c Abs. 1 Nr. 2 b, Abs. 3, 142 Abs. 2, 53 StGB.

Straßenverkehrsgefährdung durch Ausscheren auf Überholspur
Symbolfoto: SchnepfPictures/Bigstock

Soweit es den Schuldspruch wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung anlangt, begegnet die Annahme des Tatrichters, der Angeklagte habe grob verkehrswidrig und rücksichtslos gehandelt, keinen rechtlichen Bedenken. Das Verhalten des Angeklagten beim Ausscheren zum Überholen des vorausfahrenden Lastzuges trotz des auf der Überholspur mit 180 km/h schon nahe herangekommenen Zeugen R. war grob verkehrswidrig. Der Schnellverkehr auf Bundesautobahnen erfordert besondere Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme auf den schnelleren Verkehrsteilnehmer. Wer nur 80 m vor einem mit 180 km/h auf der Überholspur herannahenden anderen Kraftfahrer auf die Überholspur ausschert, wobei er selbst nur 80 km/h fährt, begeht einen besonders schweren Verstoß gegen die Verkehrsregeln. In einem solchen Fahrmanöver liegt ein besonders gefährliches Abweichen vom pflichtgemäßen Verhalten, das die Sicherheit des Straßenverkehrs erheblich beeinträchtigt und zu schwerwiegenden Folgen führen kann (OLG Köln, VRS 59, 123, 124; Cramer in Schönke/Schröder, StGB, 23. Aufl., § 315 c Rdnr. 25). Der Zeuge R. wurde hierdurch auch konkret gefährdet und geschädigt. Die Ausführungen der Revision und die von ihr angestellten Berechnungen, wonach der Zeuge R. noch hinter dem Zug des Angeklagten gefahrlos hätte abbremsen können, sind angesichts der klaren Feststellungen im angefochtenen Urteil nicht nachzuvollziehen. Sie sind rein theoretischer Art. Der Strafrichter stellt ausdrücklich fest, daß der Zeuge R. eine Vollbremsung durchgeführt und zuletzt sein Fahrzeug über den Randstreifen gelenkt hat, um nicht unter den Tandemanhänger des Zuges des Angeklagten zu geraten. Dabei prallte er schließlich in die seitliche Böschung.

Die Fahrweise des Angeklagten war auch rücksichtslos im Sinne des § 315 c Abs. 1 StGB. Rücksichtslos handelt, wer sich im Straßenverkehr aus eigensüchtigen Gründen über seine Pflichten gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern hinwegsetzt oder wer aus Gleichgültigkeit von vornherein Bedenken gegen sein Verhalten nicht aufkommen läßt und unbekümmert um die Folgen seines Verhaltens darauf losfährt (BGHSt 5, 392; OLG Stuttgart, VRS 41, 274, 275; Cramer, aaO, § 315 c Rdnr. 27 m.w.N.). Die erste Alternative diese Definition scheidet allerdings von vornherein aus. Dem Strafrichter ist jedoch beizupflichten in der Feststellung, der Angeklagte habe rücksichtslos gehandelt, weil er Bedenken gegen seine verkehrsgefährliche Fahrweise nicht aufkommen ließ, obwohl sie sich aufdrängten. Dies begründet der Strafrichter damit, daß der Angeklagte den nachfolgenden Verkehr auf dem Überholstreifen so nachlässig beobachtet habe, daß er das Fahrzeug des Zeugen R. völlig übersehen habe. Grobe Nachlässigkeit würde allerdings allein nicht unbedingt die Annahme rücksichtslosen Handelns rechtfertigen. Ein rücksichtsloses Fahrverhalten setzt nämlich in aller Regel Leichtsinn oder Gleichgültigkeit gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern voraus. Sie wird durch einen gesteigerten Grad mangelnder Rücksichtsnahme und subjektiver Vorwerfbarkeit gekennzeichnet (OLG Stuttgart, aaO). Dieser gesteigerte Schuldvorwurf muß dem Angeklagten gemacht werden. Seine Nachlässigkeit zeigte sich nämlich nicht nur im Übersehen des Zeugen R. Der Angeklagte war vorher schon einmal zum Überholen ausgeschert, obwohl ein schnellerer Überholer, der Zeuge B. sich ihm auf der Überholspur mit 180 km/h fahrend genähert hatte. Erst als dieser auf sich und die sich anbahnende Gefahr aufmerksam machte, brach der Angeklagte diesen Überholvorgang ab und ließ den Zeugen B. vorbei, um sodann erneut, ohne sich um den nachfolgenden Zeugen R. zu kümmern, wiederum auf die Überholspur zu ziehen. Eine solche sich wiederholende Fahrweise muß als grob nachlässig und gleichzeitig gleichgültig angesehen werden. Wer gleich zweimal unter Mißachtung nachfolgenden Überholverkehrs zum Überholen auf die Überholspur ausschert, beweist ein so hohes Maß an Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit, daß ihm der erschwerte Schuldvorwurf rücksichtslosen Handelns zu machen ist. In einem so grob nachlässigen Fehlverhalten kann nicht mehr nur eine gelegentliche Unaufmerksamkeit (OLG Köln, aaO) gesehen werden. Auch die Annahme der Fahrlässigkeit im angefochtenen Urteil begegnet insoweit keinen rechtlichen Bedenken. Selbst in Fällen nur unbewußter Fahrlässigkeit kann der Vorwurf rücksichtslosen Handelns gerechtfertigt sein (BGH, VRS 16, 356; 23, 291; Cramer, aaO, § 315 c Rdnr. 27). Dieser Vorwurf ist nach den getroffenen Feststellungen aber zumindest gegen den Angeklagten zu erheben. Der Schuldspruch der fahrlässigen Verkehrsgefährdung durch grob verkehrswidrige und rücksichtslose Fahrweise nach § 315 c Abs. 1 Nr. 2 b, Abs. 3 StGB besteht daher zu Recht.

Die Revision des Angeklagten ist auch unbegründet, soweit sie sich gegen den Schuldspruch wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort nach § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB richtet. Insbesondere hinderte die Tatsache, daß der Angeklagte von dem Unfall des Zeugen R. keine Kenntnis hatte, sich somit „ohne Vorsatz von der Unfallstelle entfernte“, nicht seine Verurteilung insoweit. Seit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 30. August 1978 (BGHSt 28, 129, 131) trifft auch den Kraftfahrer die besondere Pflicht zur unverzüglichen Ermöglichung nachträglicher Feststellungen, der sich ohne Kenntnis von dem Unfall von der Unfallstelle entfernt. Denn nach dieser Rechtsprechung ist das nicht vorsätzliche Sichentfernen dem „Berechtigten“ oder dem „Entschuldigten“ gleichzusetzen, wenn der Kraftfahrer noch innerhalb eines zeitlichen und räumlichen Zusammenhangs von dem Unfall Kenntnis erlangt. Diese Rechtsauffassung entspricht auch einer seit längerem gefestigten Rechtsprechung des Senats. Soweit aus der früheren Senatsentscheidung vom 7. April 1977 (VRs 53, 339) in der Literatur stellenweise auf eine gegenteilige Rechtsansicht geschlossen wird (vgl. Cramer, aaO., § 142 Rdnr. 47 a und Dreher/Tröndle, StGB, 43. Aufl., § 142 Rdnr. 43, jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen), ist festzustellen, daß dieser Entscheidung ein völlig anders gearteter Sachverhalt zugrunde lag, so daß die in der Literatur gezogene Schlußfolgerung nicht zutrifft. Die Annahme des Strafrichters, daß der Angeklagte von der Zeugin N. noch innerhalb dieses räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs über das Unfallgeschehen informiert wurde, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

Nach allem begegnet der Schuldspruch des angefochtenen Urteils keinen rechtlichen Bedenken.

Der Rechtsfolgenausspruch hält ebenfalls der rechtlichen Nachprüfung stand. Die insoweit erhobene Aufklärungsrüge nach § 244 Abs. 2 StPO, mit der beanstandet wird, das Gericht hätte durch Vorlage des Führerscheins des Angeklagten oder durch eine Auskunft der Führerscheinstelle aufklären müssen, wann dem Angeklagten die Fahrerlaubnis erteilt worden ist, greift nicht durch. Nach den klaren und eindeutigen Feststellungen hat der Strafrichter das Datum der Erteilung der Fahrerlaubnis des Angeklagten festgestellt. Dies kann durch Vorhalt geschehen sein, ohne daß sich das aus der Sitzungsniederschrift über die Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht zu ergeben braucht. Revisionsrechtlich ist diese Feststellung nicht angreifbar, zumal sich aus der Verkehrsunfallanzeige und der vom Angeklagten unterzeichneten Unfallanhörung ergibt, daß dem Angeklagten die Fahrerlaubnis am 3. März 1986 erteilt worden ist. Im Rahmen der Verfahrensrüge konnte der Senat dies im Wege des Freibeweises feststellen. Hiernach drängte sich die vermißte Beweiserhebung dem Gericht nicht auf. Die Verfahrensrüge ist daher unbegründet.

In sachlich-rechtlicher Hinsicht lassen die Erwägungen des angefochtenen Urteils zum Rechtsfolgenausspruch Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht erkennen. Der Strafrichter hat die Schuld des Angeklagten zur Grundlage für die Zumessung der Strafe gemacht (§ 46 StGB) und glaubte, gegen den Angeklagten noch auf eine Geldstrafe erkennen zu können. Die von ihm festgesetzte Zahl der Tagessätze liegt im unteren Bereich und entspricht tatrichterlichem Ermessen. Auch die aus den Einzelstrafen gebildete Gesamtgeldstrafe und die Höhe des einzelnen Tagessatzes ist nicht zu beanstanden.

Letztlich begegnet auch das Fahrverbot von zwei Monaten gemäß § 44 StGB anstelle der an sich in Betracht kommenden Regelmaßnahme der Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 Abs. 2 Nr. 1 und 3 StGB) keinen rechtlichen Bedenken. Die Urteilsgründe lassen erkennen, daß der Strafrichter das Fahrverbot als Warnungs- und Besinnungsstrafe neben der Geldstrafe für erforderlich gehalten hat (BVerfGE 27, 36; OLG Koblenz, NJW 1969, 282; Dreher/Tröndle, aaO, § 44 Rdnr. 2).

Die Revision des Angeklagten war nach allem als unbegründet mit der Kostenfolge aus § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO zu verwerfen.

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