LG Frankfurt am Main – Az.: 5/16 Qs 50/22 – Beschluss vom 13.12.2022
In dem Strafverfahren wegen Körperverletzung sofortige Beschwerde gegen Ablehnung einer Pflichtverteidigerbestellung hat die 16. Große Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main am 13.12.2022 beschlossen:
1. Auf die Beschwerde der Beschwerdeführerin wird der Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 17. Oktober 2022 (Az. 916 Cs – 752 Js 16056/22) aufgehoben und wie folgt neu gefasst:
1. „Der Angeklagten wird der Rechtsanwalt pp. zum Pflichtverteidiger bestellt.”
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die darin entstandenen notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe:
I.
Am 02. Juni 2022 erließ das Amtsgericht Frankfurt am Main (Az.: 916 Cs – 752 Js 16056/22) wegen einer am 07. Januar 2022 begangenen Körperverletzung einen Strafbefehl gegen die Beschwerdeführerin (BI. 29 ff. d. A.). In diesem wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 100,– EUR verhängt. Die Beschwerdeführerin legte Einspruch gegen den Strafbefehl ein.
Die Beschwerdeführerin beantragte zudem mit Schreiben vom 06. Juli 2022, eingegangen am Amtsgericht Frankfurt am Main – Außenstelle Höchst am 08. Juli 2022, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers (BI. 42 d. A.). Auf diesen Antrag wies sie telefonisch am 19. Juli 2022 gegenüber der JFAen pp. erneut hin (BI. 45 d. A.). Rechtsanwalt pp. zeigte mit Schreiben vom 11. August 2022, eingegangen am selben Tag, an, die Interessen der Beschwerdeführerin als Verteidiger zu vertreten und beantragte seine Beiordnung als Pflichtverteidiger (BI. 50 d. A.). Zur Begründung führte er aus, dass die Beschwerdeführerin an einer Persönlichkeitsstörung (Borderline-Syndrom) leide und sich selbst nicht verteidigen könne. Ferner sei -hieraus folgend – die Frage der Schuldfähigkeit zentral für das Verfahren, was die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage begründe und seine Hinzuziehung als geboten erscheinen lasse (BI. 50 d. A.). Durch Schreiben vom 17. August 2022 (BI. 57 d. A.), vom 22. September 2022 (BI. 66 d. A.), vom 5. Oktober 2022 (BI. 77 d. A.) und vom 20. Oktober 2022 (BI. 79 d. A.) rief der Verteidiger diesen Antrag erneut in Erinnerung. Am 11. Oktober 2022 nahm die Amtsanwaltschaft Frankfurt am Main Stellung zum Beiordnungsantrag und beantragte, die Beiordnung abzulehnen (BI. 71 – 72 d. A.). Das Amtsgericht Frankfurt am Main erließ am 17. Oktober 2022 den angefochtenen, abweisenden Beschluss und führte hierzu aus, dass die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO nicht vorlägen (BI. 75 d. A.). Dieser Beschluss wurde dem Verteidiger am 26. Oktober 2022 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt (BI. 81 d. A.). Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 26. Oktober 2022 legte er hiergegen sofortige Beschwerde ein (BI. 82 d. A.). Begründet wird die sofortige Beschwerde mit der Persönlichkeitsstörung der Angeklagten, die eine selbstständige Verteidigung und gebotene Wahrnehmung ihrer eigenen Rechte unmöglich mache.
Die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen (BI. 85 d. A.).
II.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig. Insbesondere ist sie gemäß § 142 Abs. 7 S. 1 StPO i.V.m. § 311 StPO statthaft und überdies fristgemäß im Sinne des § 311 Abs. 2 StPO eingelegt worden.
Sie ist auch begründet. Das Amtsgericht Frankfurt am Main hat verkannt, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers hier geboten ist, weil ersichtlich ist, dass die Beschwerdeführerin nicht fortlaufend in der Lage sein wird, sich selbst zu verteidigen, § 140 Abs. 2 StPO.
Insoweit kann dahinstehen, ob schon die verfahrensgegenständliche Frage der (eingeschränkten) Schuldfähigkeit zur Bejahung der Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage genügt (vgl. hierzu OLG Zweibrücken, Beschl. v. 6.7.2009 – Az.: 1 Ws 151/09 = BeckRS 2009, 23411 bei notwendiger Würdigung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens; ähnlich OLG Hamm, Beschl. v. 23.11.1983 – Az.: 1 Ws 172/83 = BeckRS 2008, 7678). Hierbei verkennt die Kammer nicht, dass das Tatgericht die Einholung eines solchen Gutachtens zurzeit nicht beabsichtigt. Schon das Bestehen umfangreicher Kasuistik zu den §§ 20, 21 StGB kann aber bereits die Schwierigkeit der Rechtslage indizieren (vgl. hierzu MüKoStPO/Kämpfer/Travers, StPO § 140 Rn. 43).
Jedenfalls liegt ein Fall der Unfähigkeit zur Selbstverteidigung im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO vor. Die diagnostizierte Persönlichkeitsstörung der Angeklagten indiziert eine latente Unfähigkeit zur Selbstverteidigung, die den Anforderungen des § 140 Abs. 2 StPO genügt. Hiernach ist die Verteidigung notwendig, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Angeklagte aus in ihrer Person liegenden Gründen nicht in der Lage sein wird, alle Möglichkeiten einer sachgemäßen Verteidigung zu nutzen (BeckOK StPO/Krawczyk, 45. Ed. 1.10.2022, StPO § 140 Rn. 39). Die Verteidigungsfähigkeit richtet sich hierbei nach den geistigen Fähigkeiten, dem Gesundheitszustand und den sonstigen Umständen des Falls (vgl. hierzu KG, Beschl. v. 23.2.2016 – Az.: 3 Ws 87/16 – 141 AR 96/16= BeckRS 2016, 4227 m.w.N.; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, stopp, § 140 Rn. 30). Zur Bejahung dieser Voraussetzungen genügt bereits, dass an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen (Meyer-Goßner/Schmitt, ebd.; vgl. auch OLG Celle, Beschl. v. 19. 1. 2007 -Az.: 1 Ws 6/07= NStZ-RR 2008, 80). Die Verteidigungsfähigkeit muss nicht gänzlich ausgeschlossen sein (MüKoStPO/Kämpfer/Travers, StPO § 140 Rn. 47). Maßstab ist vielmehr, inwieweit die psychischen Beeinträchtigungen nach ihrer Art und ihrem Schweregrad geeignet erscheinen, die Zweifel an der Verteidigungsfähigkeit zu untermauern (KK-StPO/Willnow, StPO § 140 Rn. 24; MüKoStPO a.a.O., jeweils m.w.N.).
Unter Anlegung dieses rechtlichen Maßstabs liegen die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO wegen Unfähigkeit zur Selbstverteidigung der Beschwerdeführerin vorliegend vor. Der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin und die sonstigen Umstände des Falles begründen erhebliche Zweifel an ihrer fortdauernden Selbstverteidigungsfähigkeit.
Der dargelegte Gesundheitszustand wirkt latent instabil und lässt keine positive Prognose zur Selbstverteidigungsfähigkeit zu. Der Beschwerdeführerin ist eine Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typ, im Sinne der Ziffer F60.31G nach ICD-10-Klassifikation attestiert. Gemäß den Richtlinien der ICD-10-Klassifikation zeichnet sich diese Störung u.a. durch mangelnde Impulskontrolle, selbstschädigendes Verhalten und unberechenbare Handlungen aus. Auch dissoziative Episoden können hiernach Teil des Krankheitsbildes sein. Die Beschwerdeführerin hat – nach eigenem Vortrag unter Bezugnahme auf den eingereichten Anamnesebogen – dargelegt, dass sie zu impulsivem, selbstschädigendem und irrationalem Verhalten im Angesicht widrig empfundener Umstände neigt.
Insofern kommt es – anders als das Amtsgericht Frankfurt am Main in dem angefochtenen Beschluss darlegt – nicht darauf an, ob konkret kognitive Einschränkungen vorliegen, die im Sinne einer verminderten Aufnahmefähigkeit die Verteidigungsfähigkeit einschränken. Vielmehr genügt, dass die Prädisposition der Beschwerdeführerin keine positive Prognose für ihre fortdauernde Verteidigungsfähigkeit zulässt. Die latent vorhandene Verteidigungsunfähigkeit droht sich aufgrund der Umstände und des Ablaufs der Hauptverhandlung eines Strafverfahrens zu materialisieren. Die damit einhergehenden Belastungen sind geeignet, bei der Beschwerdeführerin aufgrund der vorliegenden Störung irrationale, selbstschädigende Abwehrhandlungen zu erwirken. Strafverfahren gehen für die Beteiligten mit insbesondere psychologischen Belastungen einher. Es sind aber gerade diese Belastungen, die für Patienten mit dem hier einschlägigen Krankheitsbild als Auslöser störungstypischer Episoden fungieren können. Dementsprechend widerlegt das bisherige Prozessverhalten der Beschwerdeführerin die hier dargelegten Zweifel nicht. Zwar waren die bisherigen Prozesshandlungen – das Einlegen des Einspruchs und Beantragung der Beiordnung eines Pflichtverteidigers – wohl Ausdruck der (beschränkten) Fähigkeit zur Wahrnehmung ihrer rechtlichen Interessen. Hieraus lässt sich aber keine Prognose herleiten, dass das gezeigte Verhalten auch im Rahmen einer Hauptverhandlung fortgesetzt wird. Es ist zu berücksichtigen, dass die Hauptverhandlung in Präsenz der Verfahrensbeteiligten und in einem dem Bürger regelmäßig unbekannten Umfeld oftmals als besonders eindrücklich und belastend wahrgenommen wird. Entsprechend bestehen erhebliche Zweifel daran, dass die Beschwerdeführerin fortlaufend in der Lage sein wird, ihre Interessen selbstständig adäquat wahrzunehmen.
Hierfür streiten auch die sonstigen Umstände des Falles. Der Tatvorwurf – zu dessen Begründetheit sich der vorliegende Beschluss nicht verhält – zeichnet ein entsprechendes Bild der Beschwerdeführerin. Auch in einem Umfeld, das zu ihrer Hilfe bereitsteht, neigt sie hiernach im Angesicht von Rückschlägen und als Bedrohung empfundenen Situationen zu irrationalem, interessenwidrigen Verhalten.
Die Kammer hat zuletzt zu berücksichtigten, dass das Institut der notwendigen Verteidigung nach § 140 StPO auch dem Interesse des Rechtsstaats an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren dient (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 18.10.1983 – Az.: 2 11./R 462/82 = NJW 1984, 113). Es ist daher geboten, zum gegenwärtigen Verfahrensstand einen Pflichtverteidiger beizuordnen und nicht er abzuwarten, ob und wie sich die Störung der Beschwerdeführerin in einer Hauptverhandlung niederschlagen würde.
Die Kostenentscheidung ergeht analog § 467 StPO (vgl. OLG Hamm Beschl. v. 15.10.2013 – Az.: 5 RVs 96/13 – Az.: 5 Ws 380 u. 381/13 = BeckRS 2014, 894; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO § 473, Rn. 2).