LG Passau – Az.: Qs 16/23 jug – Beschluss vom 22.02.2023
In dem Strafverfahren wegen Einschleusens von Ausländern erlässt das Landgericht Passau – Jugendkammer – durch die unterzeichnenden Richter am 22. Februar 2023 folgenden Beschluss
1. Der Beschluss des Amtsgerichts Passau vom 03.01.2023 wird aufgehoben.
2. Der Angeklagten wird gemäß § 68 JGG Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger bestellt.
Zusammenfassung
Landgericht Passau ordnet Pflichtverteidiger für minderjährige Angeklagte an.
Im Strafverfahren wegen Einschleusens von Ausländern hat das Landgericht Passau – Jugendkammer – einen Beschluss gefasst, der besagt, dass eine minderjährige Angeklagte einen Pflichtverteidiger erhalten soll. Die Beschwerdeführerin sowie zwei weitere Mitangeschuldigte werden beschuldigt, Ausländer eingeschleust zu haben. Die Mitangeschuldigten werden jeweils anwaltlich durch Wahlverteidiger vertreten, während die Beschwerdeführerin finanziell nicht in der Lage ist, einen Wahlverteidiger zu beauftragen.
Das Amtsgericht Passau hatte den Antrag der Beschwerdeführerin auf Bestellung eines Pflichtverteidigers abgelehnt, da es nicht um eine besonders schwierige Angelegenheit oder eine komplizierte Rechtslage handele und die Straferwartung nicht derart hoch sei, dass eine Pflichtverteidigung erforderlich wäre. Das Landgericht Passau hat jedoch in seiner Entscheidung berücksichtigt, dass die Mitangeschuldigten bereits verteidigt werden und dass die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer jungen Jahre und der familiären Situation eine besondere Schutzbedürftigkeit aufweist. Das Gericht hat daher die Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 68 JGG angeordnet.
Die Entscheidung des Landgerichts Passau zeigt, dass im Jugendstrafverfahren dieselben Grundsätze wie im Strafverfahren gegen Erwachsene gelten, jedoch mit einer extensiveren Auslegung des § 140 StPO. Eine Pflichtverteidigerbestellung kann auch dann erfolgen, wenn es verteidigte Mitangeklagte gibt und wenn das Verteidigungsinteresse mit den Interessen in der Familie kollidieren kann.
Gründe:
I.
Mit Anklageschrift vom 11.11.2022 erhob die Staatsanwaltschaft Passau Anklage gegen die Beschwerdeführerin sowie gegen zwei weitere Mitangeschuldigte und legte diesen zur Last, Ausländer gemäß §§ 96 Abs. 1 Nummer 1 lit. a), lit. b), 95 Abs. 1 Nummer 1-3,3 Abs. 1,14 Abs. 1,4 Abs. 1 Aufenthalt, § 44 StGB eingeschleust zu haben (BI. 315 d. Ea).
Beide Mitangeschuldigte sind jeweils anwaltlich durch Wahlverteidiger vertreten (BI. 43 und BI 53 d. EA).
Mit E-mail vom 12.12.2022 stellte die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers (BI. 340 d. EA).
Die Staatsanwaltschaft Passau beantragte mit Verfügung vom 19.12.2022 (BI. 342 d. EA), den Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers abzulehnen, da es sich nicht um eine besonders schwierige Angelegenheit oder komplizierte Rechtslage handle und die Straferwartung nicht derartig hoch sei, dass eine Pflichtverteidigung erforderlich wäre. Insbesondere im Falle der Anwendung von Jugendstrafrecht sei nicht mit der Verhängung einer Jugendstrafe zu rechnen, was bereits aus der Anklageerhebung zum Jugendrichter erkennbar sei.
Mit Beschluss vom 03.01.2023 lehnte das Amtsgericht den Antrag der Beschwerdeführerin, ihr einen Pflichtverteidiger zu bestellen, ab. Das Gericht begründete die Entscheidung damit, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 109 JGG i. V. m. § 68 JGG, §140 StPO nicht vorliege. Insbesondere sei die Mitwirkung eines Verteidigers auch nicht wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen oder wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten. Im Falle einer Anwendung von Jugendstrafrecht sei nicht mit der Verhängung einer Jugendstrafe zu rechnen. Ebenfalls sei nicht ersichtlich, dass sich die Angeklagte nicht selbst verteidigen könne (BI. 343/345 d. EA).
Der Beschluss wurde der Beschwerdeführerin nachweislich PZU am 05.01.2023 zugestellt.
Am 03.01.2023 wurde die Anklage der Staatsanwaltschaft Passau vom 04.06.2022 zur Hauptverhandlung zugelassen. Ferner wurde das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht Passau — Jugendrichter — eröffnet (BI. 346/349 d. EA).
Mit Schriftsatz vom 06.01.2023 legte der bevollmächtigte Rechtsanwalt pp. sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Passau vom 03.01.2023 ein und beantragte, den unterzeichneten als Pflichtverteidiger zu bestellen. Im Falle einer Beiordnung würde das (nicht gesicherte) Wahlmandat niedergelegt werden. Zur Begründung der sofortigen Beschwerde führt der Wahlverteidiger aus, dass die beiden Mitangeklagten jeweils verteidigt seien. Die Beschwerdeführerin habe die Beiordnung eines Pflichtverteidigers beantragt, da sie finanziell nicht in der Lage sei, einen Wahlverteidiger zu beauftragen. Die Ablehnung sei rechtswidrig und beschränke die Beschwerdeführerin unzulässig in ihren Verfahrensrechten. Zum einen sei bei Heranwachsenden eine extensive und großzügige Auslegung des § 140 Abs. 2 geboten. Zum anderen sei eine Pflichtverteidigerbestellung unter dem Aspekt der Waffengleichheit geboten, wenn es verteidigte Mitangeklagte gibt. Ein Pflichtverteidiger sei jedenfalls zu bestellen, wenn die Möglichkeit bestehe, dass Mitbeschuldigte sich gegenseitig belasten, was im vorliegenden Fall nicht auszuschließen sei. Der nicht verteidigte Beschuldigte wäre ansonsten gegenüber den weiteren Be-schuldigten im Nachteil. Die notwendige Verteidigung könne schließlich vorliegen, wenn das Verteidigungsinteresse mit den Interessen in der Familie kollidieren könne. Vorliegend sei es so, dass der Beschuldigte pp. und die Beschwerdeführerin Eltern des gemeinsamen Sohnes A. seien. Abhängig vom Aussageverhalten könne das Verteidigungsinteresse der Beschwerdeführerin mit dem Familieninteresse kollidieren (BI. 350/352 d. EA).
Mit Verfügung vom 16.01.2023 (BI. 355 d. EA) legte das Amtsgericht Passau die Hauptakte an die Staatsanwaltschaft Passau zur Vorlage der sofortigen Beschwerde an das Landgericht Passau vor.
Mit Verfügung vom 18.01.2023 beantragte die Staatsanwaltschaft Passau, die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Passau – Jugendrichter – vom 03.01.2023 kostenpflichtig als unbegründet zu verwerfen (BI. 356 d. EA).
II.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet.
1. Die Jugendkammer des Landgerichts Passau ist gemäß § 73 Abs. 1 GVG, §§ 41 Abs. 2, 42 JGG, § 7 StPO sachlich und örtlich zuständig.
Die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Passau ist gemäß § 142 Abs. 7 StPO statthaft. Sie wurde gemäß § 311 Abs. 2 StPO fristgerecht eingelegt.
2. Die Beschwerde ist darüber hinaus auch begründet.
a) Gemäß §§ 68 Nr. 1, 109 JGG liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn im Verfahren gegen einen Erwachsenen ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegen würde. Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.
Im Jugendstrafverfahren gelten folglich für die Beurteilung der Pflichtverteidigerbestellung dieselben Grundsätze wie im Strafverfahren gegen Erwachsene. Allerdings sind insoweit die Voraussetzungen des § 140 extensiv auszulegen (OLG Schleswig StV 2009, 86 mAnm Gubitz; LG Am-berg BeckRS 2021, 3097; LG Mannheim StraFo 2022, 105; MüKoStPO/Thomas/Kämpfer Rn. 54).
b) Ein Fall der notwendigen Verteidigung ist jedoch im Falle von mehreren sonst verteidigten Angeklagten auch bei Erwachsenen anzunehmen (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 142 Rn 31; OLG Hamm StV 2009,85).
Vorliegend sind beide Mitangeklagte anwaltlich vertreten. Folglich wäre wohl bereits aus diesem Grund ein Fall der notwendigen Verteidigung bei einem Erwachsen anzunehmen. Erst Recht ist daher unter Berücksichtigung einer extensiven Auslegung des § 140 StPO bei Jugendlichen und Heranwachsenden die Bestellung eines Pflichtverteidigers bei der Beschwerdeführerin geboten.
c) Hierbei hat das Beschwerdegericht ebenfalls die vorliegende Konstellation im Hinblick auf das Alter der Beschwerdeführerin im Vergleich zu den Mitangeklagten und der familiären Situation berücksichtigt, welche im Rahmen der Entscheidung über die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Jugendverfahren einfließen kann (Krawczyk in Beck0K/ StPO, § 140 Rn 62).
Die Beschwerdeführerin ist mit Abstand die jüngste Mitangeklagte und verfügt somit über eine geringere Lebenserfahrung bei gleichzeitiger größerer Schutzbedürftigkeit, als die beiden Mitangeklagten, die jedoch verteidigt sind. Zudem ist die Beschwerdeführerin die Mutter des gemeinsamen Sohnes des Mitangeklagten KM Diese Familienkonstellation kann zu einem Prozessverhalten der unverteidigten Beschwerdeführerin führen, welches von Familieninteressen abhängt.