Akteneinsicht für Nebenkläger im Hauptverfahren: Ein Fall von Kindesmissbrauch vor dem KG Berlin
Die Klärung eines verzwickten Rechtsproblems um Akteneinsicht in einem gravierenden Fall sexuellen Kindesmissbrauchs bildete den Gegenstand eines Verfahrens vor dem Kammergericht Berlin. Im Mittelpunkt des Falles standen die Belange einer Nebenklägerin, die das Opfer der mutmaßlichen Straftaten war, und deren Wunsch nach Akteneinsicht durch ihren anwaltlichen Vertreter.
Direkt zum Urteil Az: 5 Ws 85/21 – 161 AR 62/21 springen.
Übersicht
Streit um Akteneinsicht im Hauptverfahren
In dem strittigen Fall hatte die Staatsanwaltschaft Berlin gegen den Angeklagten Anklage wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei Fällen erhoben, von denen einer in Tateinheit mit besonders schwerer sexueller Nötigung erfolgte. Die Vorfälle betrafen die Tochter der damaligen Lebensgefährtin des Angeklagten. Nachdem das Hauptverfahren eröffnet wurde, trat die Betroffene als Nebenklägerin auf und beantragte über ihren Rechtsanwalt Akteneinsicht.
Verweigerung der Akteneinsicht durch den Angeklagten
Die Verteidigung des Angeklagten stellte sich gegen die Gewährung der Akteneinsicht. Sie argumentierte, dass eine „Aussage-gegen-Aussage-Konstellation“ bestehe und die Akteneinsicht in die protokollierten Aussagen der Belastungszeugin den Untersuchungszweck gefährden könnte. Zudem sei die Weitergabe von Akteninhalten durch den Nebenklagevertreter an seine Mandantin „weder kontrollierbar noch durchsetzbar“.
Urteil des KG Berlin und seine Auswirkungen
Das KG Berlin entschied schließlich, die Beschwerde des Angeklagten gegen die Gewährung der Akteneinsicht abzuweisen, jedoch mit der Maßgabe, dass der Sonderband Gutachten von der gewährten Akteneinsicht ausgenommen ist. Diese Entscheidung stellt einen wichtigen Präzedenzfall dar, da sie die Akteneinsicht für Nebenkläger in Strafverfahren und deren anwaltliche Vertretung betrifft, insbesondere in Fällen schwerwiegender Straftaten wie sexuellen Missbrauchs.
Die Kosten des Rechtsmittels
Die Kosten für das Rechtsmittel, in diesem Fall die Beschwerde gegen den Beschluss, wurden dem Angeklagten auferlegt. Dies ist ein wesentlicher Aspekt der gerichtlichen Entscheidungen, da er die finanzielle Verantwortung für das Anstreben rechtlicher Schritte unterstreicht.
Insgesamt verdeutlicht der vorliegende Fall die feine Balance zwischen den Rechten der Angeklagten und den Interessen der Nebenkläger in Strafverfahren, insbesondere in Fällen von sexuellem Missbrauch. Dabei spielen Aspekte wie Akteneinsicht und der Schutz des Untersuchungszwecks eine zentrale Rolle.
Das vorliegende Urteil
KG Berlin – Az.: 5 Ws 85/21 – 161 AR 62/21 – Beschluss vom 10.05.2021
Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss der Vorsitzenden der 37. großen Strafkammer des Landgerichts Berlin vom 24. Februar 2021 wird mit der Maßgabe verworfen, dass der Sonderband Gutachten von der gewährten Akteneinsicht für den anwaltlichen Vertreter der zugelassenen Nebenklägerin … auszunehmen ist.
Der Beschwerdeführer trägt die Kosten seines Rechtsmittels.
Gründe
I.
Die Staatsanwaltschaft Berlin hat am 16. Juni 2020 gegen den Angeklagten bei der großen Strafkammer des Landgerichts Berlin Anklage wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit besonders schwerer sexueller Nötigung gemäß § 176 Abs. 1 StGB (in der Fassung vom 10. März 1987 sowie vom 13. November 1998), 177 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 Nr. 1 (in der Fassung vom 13. November 1998), 52, 53 StGB erhoben. Geschädigte ist die am 9. September 1989 geborene Zeugin H., geborene P., die Tochter der damaligen Lebensgefährtin des Angeklagten, P..
Mit Beschluss vom 3. August 2020 hat die 37. große Strafkammer des Landgerichts Berlin die Anklage der Staatsanwaltschaft Berlin hinsichtlich des Angeklagten unter Eröffnung des Hauptverfahrens zur Hauptverhandlung zugelassen, während die Eröffnung des Hauptverfahrens in Bezug auf die im hiesigen Verfahren zunächst Mitangeschuldigte P. abgelehnt wurde.
Mit Beschluss vom 24. Februar 2021 wurde festgestellt, dass sich die Zeugin H. als Nebenklägerin wirksam der öffentlichen Klage angeschlossen hat; ihr wurde Rechtsanwalt P. als Beistand gemäß § 397a Abs. 1 Nr. 4 StPO beigeordnet. Letzterer hatte mit Schriftsatz vom 2. September 2020 Akteneinsicht beantragt; diesbezüglich hat die Strafkammervorsitzende dem Angeklagten mit Schreiben vom 17. September 2020 über seine Verteidigerin, Rechtsanwältin K., rechtliches Gehör gewährt.
Rechtsanwältin K. nahm am 30. September 2020 für den Angeklagten M. Stellung und beantragte, die Akteneinsicht zu versagen. Der Angeklagte macht den Versagungsgrund nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO geltend. Hierzu trägt er namentlich vor, dass „eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation“ bestehe, so dass durch die Gewährung von Akteneinsicht in die protokollierten Aussagen der Belastungszeugin der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte. Etwaige Zusicherungen des Nebenklagevertreters, den zu seiner Kenntnis gelangten Akteninhalt ungeachtet möglicher Unterrichtungspflichten nach § 11 BORA (Berufsordnung für Rechtsanwälte) nicht an seine Mandantin weiterzugeben, seien „weder kontrollierbar noch durchsetzbar“.
Mit dem angefochtenen Beschluss vom 24. Februar 2021 hat die Strafkammervorsitzende entschieden, dem Nebenklagevertreter vollumfängliche Akteneinsicht zu gewähren. Hiervon umfasst ist neben der Hauptakte auch der im hiesigen Beschlusstenor aufgeführte Sonderband Gutachten, der in der Begründung der angefochtenen Entscheidung keine gesonderte Erwähnung findet. Der gegen den Beschluss gerichteten Beschwerde des Angeklagten hat die Strafkammervorsitzende mit Vermerk vom 31. März 2021 nicht abgeholfen. Termine zur Hauptverhandlung sind auf den 7., 9., 14., 17. und 22. Juni 2021 bestimmt worden.
II.
1. Das eingelegte Rechtsmittel ist zulässig, insbesondere gemäß § 304 Abs. 1 StPO i.V.m. § 406e Abs. 4 Satz 4 StPO statthaft. Wie sich im Umkehrschluss aus § 406e Abs. 4 Satz 4 StPO ergibt, ist die Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht für den Verletzten nach Eröffnung des Hauptverfahrens mit der Beschwerde nach § 304 Abs. 1 StPO anfechtbar (vgl. etwa OLG Braunschweig, Beschluss vom 3. Dezember 2015 – 1 Ws 309/15 –, juris Rn. 2; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 21. März 2016 – 1 Ws 40/16 –, juris Rn. 5; KG, Beschluss vom 2. Oktober 2015 – 4 Ws 83/15 –, juris Rn. 4f. = NStZ 2016, 438; Wenske in: Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl., Nachtr. § 406e Rn. 8).
2. Die Beschwerde hat jedoch in der Sache – soweit es die Hauptakten betrifft – keinen Erfolg. Lediglich der im hiesigen Beschlusstenor bezeichnete Sonderband mit dem aussagepsychologischen Gutachten der Sachverständigen T. und den im Rahmen der Exploration der Belastungszeugin erstellten Wortprotokollen ist von der Gewährung der Akteneinsicht für Rechtsanwalt P. durch die nach § 406e Abs. 4 Satz 1 Hs. 2 StPO zuständige Vorsitzende der mit der Sache befassten Strafkammer auszunehmen.
a) Der Nebenklägerin steht gemäß § 406e Abs. 1 Satz 1 StPO über ihren Verfahrensbevollmächtigten auch ohne Darlegung eines berechtigten Interesses (vgl. § 406e Abs. 1 Satz 2 StPO) ein Recht auf umfassende Einsicht in die Verfahrensakten zu. Die Versagungsgründe des § 406e Abs. 2 StPO stehen lediglich der Einsichtnahme in den Gutachtenband entgegen.
b) Es ist zunächst nicht zu beanstanden, dass die Strafkammervorsitzende die beantragte Akteneinsicht nicht nach § 406e Abs. 2 Satz 1 StPO abgelehnt hat. Nach dieser Vorschrift ist die Einsicht in die Akten für den Verletzten zu versagen, soweit überwiegende Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen entgegenstehen. Bei der Entscheidung über die Gewährung der Akteneinsicht sind daher die Interessen der Betroffenen gegeneinander abzuwägen, um auf diese Weise festzustellen, welches Interesse im Einzelfall schwerer wiegt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2008 – 2 BvR 1043/08 –, juris Rn. 24; KG, Beschluss vom 2. Oktober 2015 – a.a.O. –, juris Rn. 19 f.). Dies gilt auch bei der Akteneinsicht für den Nebenkläger (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 63. Aufl., Rn. 9 m.w.N.). Vorliegend sind insbesondere die Schwere des gegen den Angeklagten erhobenen Tatvorwurfs und der Umstand, dass angesichts der Eröffnung des Hauptverfahrens ein erheblicher Verdachtsgrad gegen ihn besteht, in den Blick zu nehmen. Hiernach kommt dem Interesse der Nebenklägerin als der mutmaßlichen Verletzten, den vollständigen Akteninhalt kennenzulernen, ein hohes Gewicht zu. Besonders sensible Daten des Angeklagten, wie sie etwa in medizinischen oder psychiatrischen Gutachten enthalten sein können, sind vorliegend nicht Aktenbestandteil; auch enthält der den Angeklagten betreffende Bundeszentralregisterauszug keine Eintragungen. Ein Überwiegen des Geheimhaltungsinteresses des Beschwerdeführers kommt bei dieser Sachlage nicht in Betracht.
c) Die Akteneinsicht kann ferner – auch noch nach Erhebung der öffentlichen Klage (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 11) – nach pflichtgemäßem Ermessen versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint (vgl. § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO). Dies ist dann anzunehmen, wenn zu befürchten ist, dass bei Gewährung der Akteneinsicht die Sachaufklärung beeinträchtigt wird, weil etwa – wie hier vom Beschwerdeführer geltend gemacht – die Kenntnis der Verletzten vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt einer von ihr noch zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen kann (vgl. KG, – a.a.O. –, juris Rn. 23 m.w.N.; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 6. Juli 2020 – 1 Ws 81/20 –, juris Rn. 10; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., Rn 11, jeweils m.w.N.). Der Senat als Beschwerdegericht trifft insoweit eine eigene Ermessensentscheidung (KG, Beschluss vom 21. November 2018 – 3 Ws 278/18 –, juris Rn. 12 m.w.N.), wobei hinsichtlich der Beurteilung der Gefährdung ein weiter Entscheidungsspielraum besteht (vgl. etwa BGH NJW 2005, 1519, 1520). Hierzu bedarf es einzelfallbezogener Gründe; Erwägungen, die lediglich allgemein auf die Effektivität der Strafverfolgung abstellen, reichen nicht aus (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.).
Unter Anlegung dieser Maßstäbe hat die Strafkammervorsitzende im Hinblick auf die Hauptakten zu Recht von der Anwendung des § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO abgesehen, während das Recht der Nebenklägerin auf Akteneinsicht in Bezug auf den in der Beschlussformel benannten „Sonderband Gutachten“ zu begrenzen war.
aa) Vorliegend ist zunächst in den Blick zu nehmen, dass der Angeklagte sich bisher durch Schweigen verteidigt und die Nebenklägerin im Hinblick auf die erhobenen Tatvorwürfe die einzige Zeugin ist, ohne dass ergänzend auf weitere unmittelbar tatbezogene Beweismittel zurückgegriffen werden kann. Es liegt somit gegenwärtig eine Verfahrenssituation vor, die hinsichtlich der für die durch das Tatgericht vorzunehmende Beweiswürdigung geltenden Grundsätze einer sogenannten Aussage-gegen-Aussage-Konstellation nahekommt (vgl. BGH NStZ 2013, 180, 181; Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 24. Oktober 2014 – 1 Ws 110/14 –, juris Rn. 12f.). Den Angaben der Belastungszeugin kommt in derartigen Fällen eine zentrale Bedeutung zu, so dass die insoweit erforderliche besondere Prüfung der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben und die damit verbundene Betrachtung der Aussagekonstanz dafür sprechen können, Teile der Akten – insbesondere die Protokolle ihrer polizeilichen Vernehmungen – von der Akteneinsicht auszunehmen (vgl. Hanseatisches OLG Hamburg, – a.a.O. –, juris Rn. 25; siehe auch KG, Beschluss vom 5. Oktober 2016 – 3 Ws 517/16 –; vgl. aber auch BGH, Beschluss vom 5. April 2016 – 5 StR 40/16 –, juris). In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass es sich vorliegend um ein Verfahren mit nur einer Tatsacheninstanz handelt, weshalb den besonderen Erkenntnismöglichkeiten des Tatgerichts aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung erhöhte Bedeutung zukommt.
Gleichwohl erscheint vorliegend der Grad der Gefährdung des Grundsatzes der Wahrheitsermittlung bei einer umfassenden Akteneinsicht in die Hauptakten für Rechtanwalt P. im hier zu prüfenden Einzelfall so gering, dass das Informationsinteresse der Nebenklägerin die für deren Versagung streitenden Gründe überwiegt.
Im Rahmen der hier erforderlichen umfassenden Würdigung ist zum einen zu berücksichtigen, dass allein die (theoretische) Möglichkeit einer „Präparierung“ der Nebenklägerin und ihrer Aussage anhand des Akteninhalts für eine Versagung der Akteneinsicht grundsätzlich nicht ausreicht (vgl. KG Beschlüsse vom 24. November 2017 – 2 Ws 178/17 – und vom 16. März 2020 – 4 Ws 12/20; LG Stralsund StraFo 2006, 76, juris Rn. 10). Mit der Wahrnehmung des gesetzlich eingeräumten Akteneinsichtsrechts geht auch nicht typischerweise eine Entwertung des Realitätskriteriums der Aussagekonstanz einher (BGH, a.a.O.). Durch die generalisierende Annahme, dass mit der Akteneinsicht durch den Nebenklägervertreter die Glaubhaftigkeit der Angaben eines Nebenklägers stets in besonderer Weise in Zweifel zu ziehen sei, würde seine freie Entscheidung, Akteneinsicht zu beantragen, beeinträchtigt werden; gerade denjenigen, die Opfer einer Straftat geworden sind, würden damit die Schutzwirkungen der §§ 406d ff. StPO entzogen (vgl. KG, Beschluss vom 2. Oktober 2015 – a.a.O. –, juris Rn. 24 m.w.N.). Zudem wäre – worauf auch die Strafkammervorsitzende in ihrem Beschluss schon hingewiesen hat – die sinnvolle Ausübung der prozessualen Rechte der Nebenklägerin, insbesondere des Fragerechts aus §§ 397 Abs. 1, 240 Abs. 2 StPO, ohne vollständige Aktenkenntnis erheblich beeinträchtigt, da es ihr in diesem Fall kaum möglich sein dürfte, Widersprüche zwischen Akteninhalt und Beweisaufnahme geltend zu machen, zweckmäßige Beweisanträge zu stellen oder etwaige unzutreffend vorgenommene Vorhalte zu beanstanden.
Konkrete Anhaltspunkte für eine mögliche Falschaussage bestehen in der vorliegenden Konstellation nicht und werden vom Beschwerdeführer auch nicht dargetan. Die pauschal geäußerte Befürchtung des Angeklagten, die Nebenklägerin werde ihre Angaben aufgrund der Akteneinsicht der bisherigen Beweislage anpassen und statt der Wiedergabe „real erlebten Geschehens“ den Akteninhalt referieren, basiert nicht auf objektivierbaren Erkenntnissen (vgl. hierzu KG, – a.a.O. –, juris Rn. 27).
In ihrer Zuschrift vom 16. April 2021 hat die Generalstaatsanwaltschaft Berlin diesbezüglich zutreffend ausgeführt:
„Verfahrensgegenstand ist kein aktuelles Ereignis. Vielmehr hat die Nebenklägerin ein Geschehen zur Anzeige gebracht, dass sich zwischen 1997 und 2000 ereignet haben soll, mithin über 20 Jahre zurück liegt und sich über einen langen Zeitraum erstreckte. Die Schilderungen der Erlebnisse hat sich die Nebenklägerin über viele Jahre eingeprägt und sich wegen des Erlebten in psychologische und psychiatrische Behandlung begeben. Auch die Aussageentstehung liegt viele Jahre zurück. Die Gefahr, dass die Nebenklägerin aufgrund der Einsicht in die Vernehmungsprotokolle, insbesondere ihrer Zeugenaussage, bei ihrer erneuten Einvernahme ihre Erinnerung auf die zur Verfügung gestellten Unterlagen und nicht auf das mutmaßlich Erlebte stützen würde, erscheint nahezu ausgeschlossen. Außerdem hat die Staatsanwaltschaft – wie in Fällen wie diesen durchaus üblich – ein aussagepsychologisches Gutachten in Auftrag gegeben, so dass die Strafkammer auf sachverständige Unterstützung zurückgreifen kann. Im Vordergrund der Verteidigung steht zudem nicht der Zweifel, dass die Angaben der Nebenklägerin auf wahrhaft Erlebtem basieren, die Verteidigung äußert eher den Verdacht der Projektion von tatsächlich in der Kindheit Geschehenem auf den Angeklagten. Insoweit sind die Angaben jedoch durch Ort und Zeit objektivierbar, sowie durch weitere Zeugen, insbesondere die Zeugin S., überprüfbar. Hinweise auf eine konkrete Falschaussagemotivation existieren demgegenüber nicht. Nach alledem ist nicht zu erwarten, dass die Kenntnis der Nebenklägerin vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt einer zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen würde.“
Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat an und bemerkt ergänzend:
Weiter gilt es in den Blick zu nehmen, dass die bereits im Rahmen der Exploration für die Erstellung des (von der Akteneinsicht der Nebenklägerin auszunehmenden) aussagepsychologischen Gutachtens – in Unkenntnis des Akteninhalts – gegenüber der Sachverständigen für Aussagepsychologie T. umfassende Angaben zu den Tatvorwürfen gemacht hat, so dass eine in der Hauptverhandlung vorgenommene Anpassung an den Akteninhalt, die mit Abweichungen von ihren früheren Angaben gegenüber der Gutachterin einherginge, – für die Zeugin erkennbar – zu einer besonders kritischen Würdigung ihrer nunmehr getätigten Angaben führen würde. Zudem steht der Nebenklägerin ohnehin gemäß § 201 Abs. 1 Satz 2 StPO das Recht auf Übersendung der Anklageschrift zu, in der die Erkenntnisse der Beweiswürdigung der Staatsanwaltschaft unter Darlegung der wesentlichen Inhalte der polizeilich protokollierten Äußerungen der Geschädigten bereits aufgeführt sind, so dass auch vor diesem Hintergrund die geäußerte Sorge einer Anpassung der zu erwartenden Zeugenaussage durch die Gewährung der Einsicht in die Hauptakten nicht zum Tragen kommt.
Mit Blick auf die vom Beschwerdeführer mitgeteilte Besorgnis, dass eine etwaige – vorliegend allerdings nicht abgegebene – Verpflichtungserklärung des Beistands der Nebenklägerin, die Aktenbestandteile der Nebenklägerin nicht zur Kenntnis zu geben (vgl. insoweit OLG Braunschweig, Beschluss vom 3. Dezember 2015 – 1 Ws 309/15 – juris Rn. 12; KG, Beschluss vom 16. März 2020 – 4 Ws 12/20 –), weder kontrollierbar noch durchsetzbar wäre, ist darauf hinzuweisen, dass das Tatgericht – oder jedenfalls die Verteidigerin – die Nebenklägerin in ihrer zeugenschaftlichen Vernehmung dazu befragen kann, ob sie sich mit der Aktenlage befasst hat, um eine etwaige Beeinflussung der Aussage auszuloten. Anders als der Angeklagte ist die Nebenklägerin als Zeugin zur Wahrheit verpflichtet und muss für den Fall einer Falschaussage mit erheblichen strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Eine „Präpararation“ durch ihren Beistand anhand von aus der Akte gewonnenen Erkenntnissen dürfte zudem erfahrenen Vernehmungspersonen, zu denen die zur Entscheidung berufenen Mitglieder der Strafkammer zu zählen sind, in aller Regel nicht verborgen bleiben (vgl. hierzu: Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 6. Juli 2020 – 1 Ws 81/20 –, juris Rn. 11; KG, Beschluss vom 21. November 2018 – 3 Ws 278/18 –), zumal vorliegend die speziell für die Konstanzanalyse von Zeugenaussagen geschulte Sachverständige T. die in der Hauptverhandlung gemachten Ausführungen der Nebenklägerin in ihre gutachterliche Einschätzung einfließen lassen wird. Die mögliche Aktenkenntnis der Nebenklägerin kann zudem – worauf die Strafkammervorsitzende auch zutreffend in ihrem Beschluss hingewiesen hat – bei der Beweiswürdigung – soweit erforderlich – berücksichtigt werden (vgl. BGH NJW 2005, 1519, 1520; s. auch BGH, Beschluss vom 5. April 2016, – a.a.O. – [Erörterungspflicht nur im Einzelfall wie etwa bei einer konkreten Falschaussagemotivation des Zeugen oder Besonderheiten in seinen Aussagen]).
Die Strafkammervorsitzende hat somit im vorliegenden Einzelfall hinsichtlich des Inhalts der Hauptakten zutreffend eine mögliche Gefährdung des Untersuchungszwecks durch die Genehmigung der beantragten Akteneinsicht verneint.
bb) Nach den vorgenannten Grundsätzen ist indes die Einsichtnahme des Verfahrensbevollmächtigten der Nebenklägerin in den im hiesigen Beschlusstenor aufgeführten Sonderband Gutachten gemäß § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO zu versagen. Anders als bei einer Einsichtnahme in das in den Hauptakten befindliche polizeiliche Vernehmungsprotokoll kann bei der Gewährung eines Einblicks der Nebenklägerin in das aussagepsychologische Gutachten oder das Wortprotokoll der Exploration eine erhöhte Gefahr der „Kontaminierung“ ihrer Erinnerungen und eine dadurch verursachte erhebliche Beeinflussung der Aussage nicht ausgeschlossen werden (vgl. hierzu Hilgert, NJW 2016, 985, 987). Die Nebenklägerin hat sich, ohne sich hierzu auf eine etwaige Aktenkenntnis stützen zu können, schon umfassend gegenüber der Aussagepsychologin T. geäußert, so dass – wie bereits oben aufgeführt – Abweichungen ihrer dortigen Schilderungen zu den Inhalten früherer (polizeilicher) Vernehmungen bereits aktenkundig sind; eine Manipulation der Angaben aufgrund der Kenntnis der Hauptakten wäre insofern unschwer zu erkennen. Würde die Nebenklägerin hingegen ihr Gedächtnis durch die Lektüre des aussagepsychologischen Gutachtens oder des im Zuge der Exploration erstellten Wortprotokolls der tatbezogenen Schilderungen auffrischen, wäre die Glaubhaftigkeitsprüfung ihrer Aussagen in der Hauptverhandlung anhand des für die Beweiswürdigung wesentlichen Realitätskriteriums der Aussagekonstanz jedenfalls erschwert. Denn die Unterscheidung, ob die Zeugin die zuvor aus dem Gutachten bzw. Wortprotokoll übernommenen Aussageinhalte referiert oder differenzierte Erinnerungen an selbst erlebtes Geschehen schildert, wäre kaum zu treffen (Hilgert, a.a.O., S. 988). Zudem besteht in Konstellationen, in denen sich das vor der Hauptverhandlung eingeholte Glaubhaftigkeitsgutachten kritisch mit der Aussage des Opferzeugen befasst oder Zweifel an bestimmten Darstellungen äußert, die Gefahr, dass der Zeuge (bewusst oder unbewusst) sein Aussageverhalten in der Hauptverhandlung an den im Gutachten geäußerten Kritikpunkten orientiert, um eine besondere Glaubhaftigkeit der Aussage zu suggerieren (Hilgert, a.a.O., S. 987). Wegen dieser hypothetisch gegebenen Gefahr einer am Inhalt des aussagepsychologischen Gutachtens orientierten „Nachjustierung“ der Angaben der Nebenklägerin wäre eine erhebliche Gefährdung des Grundsatzes der Wahrheitsermittlung nicht auszuschließen. Insoweit muss hier das Informationsrecht der Verletzten zurücktreten, zumal eine Beeinträchtigung der aus §§ 395 ff., 403 ff. StPO resultierenden Verfahrensbeteiligungsrechte der Nebenklägerin bei einer Ausklammerung des aussagepsychologischen Gutachtens aus dem ansonsten vollumfänglich gewährten Akteneinsichtsrecht nicht zu befürchten steht.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO. Der Umstand, dass der Sonderband Gutachten von der gewährten Akteneinsicht auszunehmen ist, begründet mit Blick auf die in der Argumentation der Verfahrensbeteiligten und des angefochtenen Beschlusses allein in Rede stehenden Rechtsfragen keinen kostenrechtlich relevanten Teilerfolg.