Es geht um ein komplexes Thema im Strafrecht: die Täteridentifizierung und Beweiserhebung im Zwischenverfahren. Das vorliegende Urteil des KG Berlin (Az.: 4 Ws 61/20 – 161 AR 134/20) vom 19. Oktober 2020 beleuchtet die strafrechtliche Auseinandersetzung mit diesen Themen anhand eines Raubdelikts, bei dem es um Geld und Zigaretten ging.
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Übersicht
Der Tatvorwurf
Der Angeklagte wird beschuldigt, einer Geschädigten ein Messer vorgehalten und sie gezwungen zu haben, die Ladenkasse zu öffnen. Er und ein unbekannter Mittäter hätten unter Androhung von Gewalt Geld und Zigaretten entwendet. Ein weiterer Täter soll währenddessen weitere Zigarillos und Bargeld aus dem Lager genommen haben.
Die Beweislage und Täteridentifizierung
Im Mittelpunkt der Verhandlung stand die Frage, wie man die Identität des Täters feststellen kann. Eine Möglichkeit ist durch das Opfer selbst, eine andere durch die Einholung eines Gesichtserkennungsgutachtens. Hierbei wird die Person auf einer Videoaufzeichnung mit dem Verdächtigen verglichen. Im aktuellen Fall wurde allerdings lediglich ein Gesichtserkennungsgutachten eingeholt, dessen Qualität jedoch nicht ausreichend war, um den Täter eindeutig zu identifizieren.
Die Rolle des Zeugen
Ein weiterer Punkt in der Täteridentifizierung ist die Rolle von Zeugen. Im Fall ging es speziell um den Zeugen KHK K, dessen Identifizierung des Angeklagten als grundsätzlich geeignet angesehen wurde. Die Entscheidung über die Belastbarkeit dieser Identifizierung sollte jedoch erst in der Hauptverhandlung getroffen werden, nicht im Zwischenverfahren. Es bestand keine Annahme, dass der Zeuge KHK K den Angeklagten nur so flüchtig kennt, dass seine Identifizierung keinesfalls ausreichend ist.
Der rechtliche Kontext
Es ist relevant, dass die Eröffnungsentscheidung dazu dienen soll, aussichtslos erscheinende Fälle von der Hauptverhandlung auszunehmen. Bei einer ungefähr gleichen Wahrscheinlichkeit von Verurteilung und Freispruch sollte dennoch ein hinreichender Tatverdacht angenommen werden, wenn eine bessere Aufklärung der Sachlage durch die Hauptverhandlung erwartet wird.
Schließlich sollte hervorgehoben werden, dass das Beschwerdegericht das Strafverfahren in der Regel bei dem Spruchkörper belassen muss, der nach der Verfahrensordnung und der Geschäftsverteilung dafür zuständig ist und bisher damit befasst war. Nur bei Vorliegen besonderer Gründe darf das Beschwerdegericht bestimmen, dass die Hauptverhandlung vor einem anderen Gericht stattfinden soll.
Dieser Fall zeigt auf, wie komplex und vielschichtig die Beweisführung und Täteridentifizierung in Strafrechtsverfahren sein können und wie wichtig es ist, alle Erkenntnismöglichkeiten auszuschöpfen, bevor eine endgültige Entscheidung getroffen wird […]
Das vorliegende Urteil
KG Berlin – Az.: 4 Ws 61/20 – 161 AR 134/20 – Beschluss vom 19.10.2020
1. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Berlin wird der Beschluss des Landgerichts Berlin – Jugendkammer – vom 6. Juli 2020 aufgehoben.
2. Die Anklage der Staatsanwaltschaft Berlin vom 12. August 2019 wird unter Eröffnung des Hauptverfahrens vor der Strafkammer 5 – große Jugendkammer – des Landgerichts Berlin zur Hauptverhandlung zugelassen.
3. Die Bestimmung der berufsrichterlichen Besetzung in der Hauptverhandlung (§ 76 Abs. 2 GVG) bleibt der Jugendkammer vorbehalten.
4. Eine Kosten- und Auslagenentscheidung ist nicht veranlasst.
Gründe
I.
1. Mit ihrer zum Landgericht Berlin – Jugendkammer – erhobenen Anklageschrift vom 12. August 2019 legt bzw. legte die Staatsanwaltschaft Berlin dem heranwachsenden Angeklagten und dem erwachsenen, inzwischen gesondert Verurteilten S die Begehung eines versuchten und eines vollendeten besonders schweren Raubes (§§ 249, 250 Abs. 2 Nr. 1, 22, 23, 25 Abs. 2, 53 StGB, §§ 1, 105 JGG) zur Last. Sie sollen am 19. März 2019 gegen 5:35 Uhr – maskiert mit Schals und Mützen – den Verkaufsraum des „O“-Kiosk auf dem U-Bahnhof H. betreten haben, um dieses Geschäft zu überfallen. Einer der beiden Mittäter habe der Verkäuferin R ein Messer mit einer ca. 7 cm langen Klinge entgegen gehalten, während beide Mittäter die Verkäuferin R aufgefordert hätten, die Ladenkasse zu öffnen, um hieraus Bargeld zu entnehmen. Da einer der Täter bemerkt habe, dass die Zeugin R den sichtbaren Alarmknopf betätigt hatte, hätten beide aus Furcht vor der alarmierten Polizei die weitere Tatausführung abgebrochen. Gegen 7:40 Uhr desselben Tages sollen der Angeklagte, der inzwischen gesondert Verurteilte S sowie ein unbekannter Mittäter das Geschäft „J“ in der S-Straße betreten haben, um dieses ebenfalls zu überfallen. Der Angeklagte habe der Geschädigten J ein ca. 10 – 15 cm langes Messer entgegengehalten und sie aufgefordert, die Ladenkasse zu öffnen. Unter weiterer Bedrohung der Geschädigten hätten der Angeklagte und der unbekannte Mittäter aus dem Kassenschub 549,- Euro entnommen und diese zusammen mit diversen Zigarettenschachteln aus dem Warenbestand in einer mitgebrachten Tasche verstaut, während der gesondert Verurteilte S aus dem Lager weitere Stangen Zigarillos und Bargeld an sich genommen habe. Die Mittäter seien dann vom Tatort geflüchtet, um die Beute für sich zu verwenden. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Anklageschrift vom 12. August 2019 Bezug genommen.
2. Die staatsanwaltlichen Ermittlungen haben im Wesentlichen Folgendes ergeben:
Der Angeklagte und der ehemals Mitangeklagte S haben im Ermittlungsverfahren keine Angaben gemacht.
Der ehemals Mitangeklagte S hinterließ bei Begehung der Tat zu 2. zum Nachteil der Geschädigten J einen Fingerabdruck, aufgrund dessen er als Täter dieser Tat identifiziert wurde. Der enge räumliche und zeitliche Zusammenhang der Taten sowie die Täterbeschreibungen sprechen dafür, dass die Taten von denselben Tätern begangen wurden. Zudem erkannte die Geschädigte J nach Betrachtung der Videoaufnahmen der Überwachungskamera der Tat zu 1. zum Nachteil der Zeugin R aufgrund der getragenen Kleidung und Maskierung den gesondert Verurteilten S als einen der Täter der Tat zu ihrem Nachteil wieder. Bei der Auswertung der Videoaufnahmen der Tat zu 1. identifizierte der Zeuge KHK K, der sowohl den Angeklagten als auch den S seit Jahren im Intensiv- bzw. Schwellentäterprogramm betreut, den Angeklagten und den ehemals Mitangeklagten S aufgrund der Körperhaltung, Statur, Nasenform u.a. als Täter der Tat zu 1. Bei der daraufhin angeordneten Durchsuchung der Habe des in anderer Sache inhaftierten Angeklagten wurde ein Basecap „ Air Jordan“ mit auffällig hellem Logo auf dem Mützenschirm sowie einem auf der linken Stirnseite angebrachten Firmenlogo beschlagnahmt, das derjenigen Mütze gleicht, die der Mittäter des S bei Begehung der Tat zu 1. getragen hatte. Der Angeklagte und S sind seit Jahren befreundet und haben bereits in der Vergangenheit gemeinsam Straftaten begangen.
3. Die Jugendkammer hat das Verfahren gegen S am 23. Oktober 2019 abgetrennt und vor der allgemeinen großen Strafkammer eröffnet. S wurde durch die Strafkammer 1 des Landgerichts Berlin am 10. März 2020 (rechtskräftig seit dem 18. März 2020) wegen der Tat zu 2. zum Nachteil der Zeugin J zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt, ferner wurde seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Das Verfahren hinsichtlich der Tat zu 1. zum Nachteil der Zeugin R hat die Strafkammer 1 nach § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt. S hatte im Verfahren vor der Strafkammer 1 beide angeklagten Taten glaubhaft gestanden und sich bei den Geschädigten R und J entschuldigt. Zur Person seines Mittäters hatte er keine Angaben gemacht, jedoch offenbar bestätigt (es ist nicht ersichtlich, worauf die entsprechenden ausdrücklichen Urteilsfeststellungen sonst beruhen sollten), dass der Mittäter der Tat zu 1. auch an der Tat zu 2. beteiligt gewesen sei.
Auf Bitte des Jugendkammervorsitzenden hatte die Staatsanwaltschaft zuvor die Einholung eines Gesichtserkennungsgutachtens des LKA veranlasst. Das Gutachten vom 26. September 2019 kommt zu dem Ergebnis, dass das Gesicht des Täters, bei dem es sich nach der Anklage um dem Angeklagten handelt, auf der Videoaufnahme der Tat zu 1. überwiegend verdeckt ist. Hinsichtlich des frei liegenden Ohrs des Täters sei die Bildqualität zu schlecht, um einen Vergleich zu ermöglichen.
Ebenfalls auf Bitte des Jugendkammervorsitzenden hat die Staatsanwaltschaft in der Folgezeit die polizeiliche Vernehmung des inzwischen rechtskräftig Verurteilten S als Zeugen veranlasst. Im Rahmen der polizeilichen Vernehmung vom 28. April 2020 weigerte sich der Zeuge S, seinen Mittäter zu benennen. Die Staatsanwaltschaft beantragte daraufhin gemäß § 201 Abs. 2 Satz 1 StPO die richterliche Vernehmung des Zeugen S durch die Jugendkammer im Zwischenverfahren. In der Folgezeit wurde die Akte zwischen der Jugendkammer und der Staatsanwaltschaft hin und her geschickt, verbunden mit diversen Argumenten, weshalb die Vernehmung des Zeugen S durch die jeweils andere Stelle erfolgen solle. Schließlich lehnte die Jugendkammer durch Beschluss vom 12. Juni 2020 die richterliche Vernehmung des Zeugen S ab. Unter Berufung auf Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 62. Auflage, § 202 Rnr. 1 und den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 12. März 2003 – 534 Qs 31/03 – NStZ 2003, 54 (zutreffend: NStZ 2003, 504) führte die Jugendkammer aus, für eine Anordnung von ergänzenden Beweiserhebungen durch das zuständige Gericht nach § 202 StPO sei dann „kein Raum, wenn hierdurch erst der dringende Tatverdacht begründet werden“ solle (Unterstreichung durch den Senat). Dies sei vorliegend der Fall, weil der Aussage des Zeugen S „entscheidende“ Bedeutung zukomme. Es sei nicht Aufgabe des Gerichts, „Ermittlungslücken, die hier bereits bei Anklageerhebung vorlagen“, zu schließen und sich die Grundlage für die Eröffnungsentscheidung selbst zu verschaffen.
4. Durch den angefochtenen Beschluss vom 6. Juli 2020 hat die Jugendkammer die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt, weil die Akten „zum jetzigen Zeitpunkt“ keine Beweismittel enthielten, die eine Zulassung zur Hauptverhandlung „rechtfertigen“ könnten. Die Geschädigten hätten den Angeklagten nicht wiedererkannt. Fingerabdruck- oder DNA-Spuren des Angeklagten seien nicht sichergestellt worden. Das Videomaterial sei für eine Identifizierung ungeeignet, wie sich aus dem Gutachten des LKA vom 26. September 2019 ergebe. Der Zeuge S habe in dem gegen ihn gerichteten Verfahren die Identität seines Mittäters nicht preisgegeben. Im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung habe der Zeuge S keine Angaben gemacht. Die Staatsanwaltschaft habe zwar wiederholt die richterliche Vernehmung des Zeugen S beantragt, diese sei jedoch durch die Jugendkammer mit Beschluss vom 12. Juni 2020 – dessen Gründe vollständig in die Beschlussgründe eingerückt wurden – abgelehnt worden. Die Staatsanwaltschaft sei dem Beschluss vom 12. Juni 2020 „inhaltlich nicht mehr entgegengetreten“, daher sei die Eröffnung abzulehnen.
5. Der Senat hat im Beschwerdeverfahren die zeugenschaftliche Vernehmung des Zeugen S durch den Senat angeordnet. Der Zeuge hat am 22. September 2020 nach Belehrung über seine Pflichten zur wahrheitsgemäßen Aussage bekundet, der Angeklagte sei bei Begehung der Taten sein Mittäter gewesen.
II.
Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist zulässig, insbesondere statthaft (§ 210 Abs. 2 2. Alt. StPO) und fristgerecht erhoben (§ 311 Abs. 2 StPO). Sie hat auch in der Sache Erfolg.
1. Die Eröffnung des Hauptverfahrens hat – wie sich bereits aus dem Wortlaut des § 203 StPO ergibt – bei Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts und nicht erst – wovon die Jugendkammer offenbar ausgeht – bei Vorliegen eines dringenden Tatverdachts zu erfolgen. Hinreichender Tatverdacht ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der einen nicht unerheblichen Beurteilungsspielraum eröffnet, zumal es sich dabei um eine Prognoseentscheidung handelt (vgl. BVerfG NJW 2002, 2859, 2860). Die ermittelten Tatsachen müssen es bei vorläufiger Bewertung nach praktischer Erfahrung wahrscheinlich machen, dass der Angeschuldigte in einer Hauptverhandlung mit den zur Verfügung stehenden Beweismitteln verurteilt wird. Bei diesem Wahrscheinlichkeitsurteil ist für eine Anwendung des Zweifelsgrundsatzes „in dubio pro reo“ noch kein Raum. Schwierige und zweifelhafte Tatfragen dürfen nicht nach Aktenlage im Wege der nicht-öffentlichen, nur vorläufigen Tatbewertung des über die Eröffnung entscheidenden Gerichts endgültig entschieden werden. Denn die Eröffnungsentscheidung soll (nur) erkennbar aussichtslose Fälle von der Hauptverhandlung ausnehmen, ihr aber ansonsten nicht vorgreifen. Bei ungefähr gleicher Wahrscheinlichkeit von Verurteilung und Freispruch ist deshalb ein hinreichender Tatverdacht auch dann anzunehmen, wenn es zur Klärung einer unsicheren Sachlage notwendig erscheint, sich der besonderen Erkenntnismittel und besseren Aufklärungsmöglichkeiten in der Hauptverhandlung zu bedienen (vgl. Senat, Beschlüsse vom 10. Juli 2017 – 4 Ws 91/17 –, 29. November 2016 – 4 Ws 189/16 – und 19. Mai 2014 – 4 Ws 43/14 –, BeckRS 2014, 19424, Rdn. 19; jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen).
Sollte die Jugendkammer den hinreichenden Tatverdacht überhaupt geprüft haben – die Formulierung, das Beweisergebnis „rechtfertige“ die Eröffnung nicht, lässt den Prüfungsmaßstab offen, an anderer Stelle ist von „dringendem Tatverdacht“ die Rede –, so hat sie diesen zu Unrecht verneint. Nach vorläufiger Bewertung des Ermittlungsergebnisses besteht in hinreichendem Maße der Verdacht, dass der Angeklagte die ihm in der Anklageschrift vom 12. August 2019 zur Last gelegten Taten begangen hat.
a) Der Zeuge S wurde wegen der Tat zu 2. zum Nachteil der Zeugin J rechtskräftig verurteilt, das Verfahren hinsichtlich der Tat zu 1. ist nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt, eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 154 Abs. 4 StPO ist nicht möglich. Der Zeuge S hat in dem gegen ihn gerichteten Verfahren beide Taten umfassend gestanden und seinen Mittäter nicht preisgeben wollen. Erst als er zur Benennung verpflichtet war, hat er den Angeklagten als seinen Mittäter benannt. Der Zeuge S und der Angeklagte sind seit Jahren (mindestens seit 2015) miteinander befreundet, der Angeklagte hat den Zeugen S sogar zeitweise bei sich aufgenommen, als dieser nach einem genehmigten Ausgang am 12. März 2019 nicht in die Jugendstrafanstalt zurückkehrte. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Zeuge S den Angeklagten zu Unrecht als Täter bezichtigt haben könnte.
b) Es kommt hinzu, dass der Angeklagte von dem Zeugen KHK K auf den Videoaufnahmen der Tat zu 1. identifiziert wurde. Der Zeuge KHK K ist seit langem im Rahmen des Intensiv- bzw. Schwellentäterprogramms für den Angeklagten zuständig; dieser hat während der zeugenschaftlichen Vernehmung des Zeugen S spontan in dessen Befragung hineingerufen, KHK K sei „auch mein Sachbearbeiter“.
Eine Identifizierung des Täters einer Straftat, von der eine Videoaufzeichnung vorliegt, ist nicht nur – wovon die Strafkammer offenbar ausgeht – durch das Opfer selbst oder durch Einholung eines Gesichtserkennungsgutachtens möglich. Denn zur Erkenntnis der Personenidentität zwischen einer Person auf einer Videoaufzeichnung und dem Verdächtigen existieren zwei getrennte Wege, die sich in ihren Voraussetzungen und Bedingungen unterscheiden und die unabhängig voneinander zum Ziel führen können (vgl. BGH NStZ 2005, 458 m.w.N.). Eine dieser Möglichkeiten ist die vergleichende morphologische Analyse von Abbildern des Täters und des Tatverdächtigen aufgrund biologisch-statistischer Merkmale, wobei allerdings von einem gesicherten Stand der Wissenschaft im Bereich der anthropologischen Identitätsgutachten nicht die Rede sein kann (vgl. BGH aaO). Bei dieser Vorgehensweise steht der Gesamteindruck eines Menschen nicht im Vordergrund (vgl. Schiemann JR 2019, 579). Abgesehen davon, dass vorliegend ein umfassendes anthropologisches Gutachten nicht eingeholt wurde, sondern lediglich ein Gesichtserkennungsgutachten vorliegt, welches zu dem Ergebnis kommt, dass die Bildqualität nicht ausreiche, um das Ohr des Täters eindeutig identifizieren zu können, stellt die Grenze der anthropologischen Begutachtungsmöglichkeit keine absolute Grenze dar. Neben – und unabhängig von – der Einschätzung eines Sachverständigen ist auch der Weg der Identifikation auf der Grundlage einer komplexen Erinnerung möglich. Das Wiedererkennen erfolgt ganzheitlich und rasch mit einer Tendenz zur Prägnanz zwischen Identität und Nichtidentität (vgl. BGH aaO). Dieser ganzheitliche Prozess geht über die bloße Beurteilung von Einzelmerkmalen hinaus (vgl. auch Kammergericht, Beschlüsse vom 16. März 2017 – 5 Ws 72/17 – und 29. Dezember 2016 – 3 Ws 687/16 –). Einen Grundsatz, dass die Wiederkennung ausschließlich durch das Tatopfer, nicht jedoch durch andere Personen, die den Täter gut kennen, möglich ist, gibt es nicht (vgl. BGH aaO, wo die Identifizierung durch Bedienstete einer Spielothek, in der der Angeklagte fast täglich verkehrte, erfolgte). Die Beurteilung des Werts der Wiedererkennung durch einen Zeugen unterliegt vielmehr der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 261 StPO.
Vorliegend hat sich die Jugendkammer mit der Identifizierung durch den Zeugen KHK K gar nicht auseinandergesetzt. Diese ist jedoch zur Überführung des Angeklagten grundsätzlich geeignet. Wie belastbar die Identifizierung ist, insbesondere wie umfangreich der persönliche Kontakt des Zeugen KHK K zu dem Angeklagten war, ist eine Frage, die aufgrund der besseren Aufklärungs- und Erkenntnismöglichkeiten in der Hauptverhandlung und nicht im Zwischenverfahren zu entscheiden ist. Dass der Zeuge KHK K den Angeklagten nur derart flüchtig kennt, dass seine Identifizierung keinesfalls ausreichend ist, liegt fern.
c) Zudem spricht für die Täterschaft des Angeklagten auch die Tatsache, dass bei seiner Habe ein Basecap beschlagnahmt wurde, welches demjenigen gleicht, das der Täter der Tat zu 1. trug. Auch diesen Umstand hat die Jugendkammer nicht in ihre Erwägungen einbezogen. Der Senat verkennt nicht, dass es sich bei dem Basecap um kein Einzelstück handelt. Gleichwohl kommt ihm eine gewisse Indizwirkung zu, die in der gebotenen Gesamtschau für eine Täterschaft spricht.
d) Gleiches gilt für den Umstand, dass es dem Angeklagten jedenfalls nicht wesensfremd ist, gemeinsam mit dem gesondert Verurteilten S Straftaten zu begehen.
2. Nach alledem hebt der Senat den angefochtenen Beschluss auf und eröffnet das Hauptverfahren nach § 210 Abs. 2 Satz 1 StPO vor der Strafkammer 5 – große Jugendkammer –.
3. Der Senat sieht sich nicht veranlasst, das Verfahren vor einer anderen als der zuständigen Jugendkammer zu eröffnen. § 210 Abs. 3 Satz 1 StPO ist im Lichte des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dahin auszulegen, dass das Beschwerdegericht das Strafverfahren in der Regel bei dem Spruchkörper belassen muss, der nach der Verfahrensordnung und der Geschäftsverteilung dafür zuständig ist und deshalb auch bisher damit befasst war. Nur wenn besondere Gründe bestehen, darf das Beschwerdegericht bestimmen, dass die Hauptverhandlung vor einem anderen Gericht stattzufinden hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 1993 – 2 BvR 848/93 –; Senat, Beschluss vom 20. Januar 2020 – 4 Ws 87/19 – m.w.N.). Als ein solcher Grund kommt namentlich die Sicherstellung einer unvoreingenommenen Verhandlung in Betracht (vgl. BVerfG aaO; Senat aaO und Beschluss vom 23. April 2018 – 4 Ws 51/18 – m.w.N.), wenn der bisherige Richter nach der Art seiner Meinungsäußerung im angefochtenen Beschluss festgelegt erscheint und deswegen zu besorgen ist, dass er sich die Auffassung des Beschwerdegerichts nicht zu Eigen machen wird (vgl. Senat, Beschluss vom 21. November 2017 – 4 Ws 136/17 – m.w.N.; Schneider in Karlsruher Kommentar, StPO 8. Auflage, § 210 Rnr. 12). Dies ist vorliegend nicht der Fall. Der Senat geht davon aus, dass die Jugendkammer die gebotene Sachaufklärung umfassend durchführen und deren Ergebnisse in die abschließende Bewertung unbefangen einbeziehen wird.
4. Die gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 GVG bei Eröffnung des Hauptverfahrens zu treffende Bestimmung der Besetzung der großen Jugendkammer bleibt dieser vorbehalten (vgl. OLG Koblenz aaO m.w.N.; OLG Frankfurt NJW 2011, 398). Diese Entscheidung ist bei der Anberaumung des Termins zur Hauptverhandlung zu treffen (§ 76 Abs. 2 Satz 2 StPO).
5. Im Hinblick auf die Ausführungen der Jugendkammer, die den Senat besorgen lassen, dass die Grundsätze der §§ 201ff StPO verkannt wurden, sieht sich der Senat zu folgender Klarstellung veranlasst:
a) Es überrascht, dass die Jugendkammer ausdrücklich hervorhebt, die Staatsanwaltschaft sei den Ausführungen im Beschluss vom 21. Juni 2020 „inhaltlich nicht entgegengetreten“. Die Staatsanwaltschaft hatte ihre wiederholten Anträge auf richterliche Vernehmung des Zeugen S jeweils begründet. Die Entscheidung der Jugendkammer, die Anträge der Staatsanwaltschaft auf richterliche Vernehmung des Zeugen S abzulehnen, war gemäß § 201 Abs. 2 Satz 2 StPO unanfechtbar. Es erschließt sich daher nicht, auf welche Weise die Staatsanwaltschaft dem Beschluss hätte inhaltlich entgegentreten sollen. Eine Gegenvorstellung war nach dem gesamten Inhalt der Korrespondenz zwischen dem Jugendkammervorsitzenden und dem zuständigen Staatsanwalt ersichtlich aussichtslos.
b) Nach § 202 Satz 1 StPO sind einzelne Beweiserhebungen zur besseren Aufklärung der Sache vor der Eröffnungsentscheidung möglich. Daraus folgt, dass diese Ermittlungen notwendig und geeignet sein müssen, die Eröffnungsentscheidung zu beeinflussen. Sie sind geboten, wenn dem Gericht erkennbar ist, dass durch solche Ermittlungen ein bereits bestehender hinreichender Tatverdacht ganz oder teilweise beseitigt oder ein noch nicht bestehender begründet werden kann (vgl. Stuckenberg in Löwe-Rosenberg, StPO 27. Auflage, § 202 Rnr. 3; Schneider aaO, § 202 Rnr. 3 m.w.N.). Dagegen haben sie nicht den Sinn, der Hauptverhandlung vorzugreifen; sie müssen deshalb unterbleiben, wenn sie nur dazu beitragen können, einen bereits bestehenden hinreichenden Verdacht weiter zu verstärken oder einen ohnehin fehlenden ausreichenden Verdachtsgrad weiter zu zerstreuen (vgl. Stuckenberg aaO; Wenske in Münchener Kommentar, StPO, § 202 Rnr. 19 m.w.N.). Aus diesem Grund steht der Umstand, dass einer einzelnen Beweiserhebung „entscheidende Bedeutung“ zukommt, deren Anordnung gerade nicht entgegen, sondern gebietet sie geradezu. Beweiserhebungen, die keine entscheidende Bedeutung haben, sind nicht statthaft. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den von der Jugendkammer zitierten Fundstellen. Im Gegenteil: Auch Schmitt führt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 63. Auflage (insoweit mit der 62. Auflage übereinstimmend), § 202 Rnr. 1 aus, dass das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens nicht einfach ablehnen dürfe, wenn es eine bessere Aufklärung für möglich halte, sondern die Aufklärung veranlassen müsse.
Allerdings besteht in Rechtsprechung und Literatur (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 28. November 2017 – 2 Ws 238/17 – [juris] und wistra 2004, 276; OLG Saarbrücken NStZ-RR 2009, 88; Stuckenberg aaO Rnr. 4; Schneider aaO Rnr. 4; Wenske aaO Rnrn. 20ff; Paeffgen in SK-StPO, 5. Auflage, § 202 Rnr. 2; jeweils m.w.N.) Einigkeit, dass eine Nachholung „wesentlicher Teile“ des Ermittlungsverfahrens im Zwischenverfahren nicht in Betracht kommt. Der Begriff „wesentliche Teile“ des Ermittlungsverfahrens wird jedoch durchgängig – so auch in den von der Jugendkammer zitierten Fundstellen – als Abgrenzung zur von § 202 StPO lediglich vorgesehenen „einzelnen“ Beweiserhebung verwendet. Für die Frage der Zulässigkeit von erforderlichen Beweiserhebungen kommt es somit auf deren Umfang und nicht auf deren Gewicht für die Beweiswürdigung an. So lag der von der Jugendkammer zitierten Entscheidung des Landgerichts Berlin in NStZ 2003, 504 ein Ermittlungsstand zugrunde, bei dem mehrere namentlich unbekannte Zeugen zunächst hätten ermittelt und anschließend vernommen werden müssen. Dass es sich bei der Vernehmung eines konkreten Zeugen, der lediglich nach dem Namen seines Mittäters zu befragen ist, um eine einzelne Beweiserhebung handelt, zu deren Anordnung das Gericht befugt ist, bedarf keiner weiteren Erörterung.
c) Schließlich liegt auch das Argument der Jugendkammer, es sei nicht ihre Aufgabe, „Ermittlungslücken, die hier bereits bei Anklageerhebung vorlagen“, zu schließen, neben der Sache. Die Staatsanwaltschaft hat im Ermittlungsverfahren keine erfolgversprechenden Ermittlungen versäumt. Zum Zeitpunkt der Anklageerhebung war S Mitbeschuldigter bzw. Mitangeschuldigter, der von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hat. Seine zeugenschaftliche Vernehmung wurde daher nicht versäumt, sondern war nicht möglich.
6. Eine Kosten- und Auslagenentscheidung war nicht veranlasst; sie bleibt der endgültigen Entscheidung in der Hauptsache vorbehalten (vgl. Senat, Beschluss vom 19. Mai 2014 – 4 Ws 43/14 –, BeckRS 2014, 19424 Rnr. 19 m.w.N.).