Verweigerung der Akteneinsicht für Nebenkläger im Strafrecht: Abwägung zwischen Untersuchungsziel und Opferschutz
In einem Verfahren, das von der Kanzlei Kotz vor dem Oberlandesgericht Brandenburg (Az.: 1 Ws 81/20) behandelt wurde, spielte das Recht auf Akteneinsicht für Nebenkläger eine zentrale Rolle. Die Beschwerde eines Angeklagten gegen einen Beschluss, der ihm den Zugang zu Akten verweigerte, wurde am 6. Juli 2020 abgewiesen. Im Kern des Falls stand die Frage, ob die Gewährung der Akteneinsicht für den Nebenkläger, das Opfer einer Straftat, das Untersuchungsziel des Gerichts gefährden könnte.
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Übersicht
Akteneinsicht: Schutz der Untersuchung und Verletztenrechte
Die Begründung für die Versagung der Akteneinsicht lag in der Sorge, dass die Zuverlässigkeit und der Wahrheitsgehalt einer Zeugenaussage durch die Kenntnis des Akteninhalts beeinträchtigtwerden könnten. Dies wurde insbesondere auf die Situation angewendet, in der der Nebenkläger als Zeuge in dem Strafverfahren fungiert. Allerdings wurde klargestellt, dass allein die Möglichkeit einer „Präparierung“ der Aussage des Nebenklägers anhand des Akteninhalts nicht ausreicht, um die Akteneinsicht zu verweigern.
Interessenabwägung im strafrechtlichen Verfahren
Auf der anderen Seite brachte das Gericht zum Ausdruck, dass die Glaubwürdigkeit der Aussagen eines Nebenklägers nicht generell durch die Einsicht in die Akten durch den Vertreter des Nebenklägers in Zweifel gezogen werden dürfe. Eine solche Annahme würde die freie Entscheidung des Nebenklägers, Akteneinsicht zu beantragen, beeinträchtigen und ihm die Schutzfunktionen der §§ 406d ff. StPO entziehen, die besonders für Opfer von Straftaten wichtig sind.
Rolle der juristischen Vertretung und Verfahrensverzögerung
Zusätzlich wurde die Rolle der juristischen Vertretung des Nebenklägers hervorgehoben. Das Gericht äußerte Vertrauen in die Fähigkeiten der erfahrenen Rechtsanwältin, ihre Mandantin nicht zu beeinflussen und den Beweiswert der Aussage ihrer Mandantschaft nicht zu reduzieren. Es wurde betont, dass eine Versagung der Akteneinsicht aufgrund drohender erheblicher Verfahrensverzögerung nicht zutraf. Letztendlich wurde festgestellt, dass es für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Aussagen des Nebenklägers eher günstig als ungünstig sein könnte, wenn eine vorherige Akteneinsicht stattgefunden hätte.
Das Urteil und seine Auswirkungen
Mit der Zurückweisung der Beschwerde des Angeklagten stärkte das Oberlandesgericht Brandenburg die Rechte der Opfer in Strafverfahren. Das Gericht wies darauf hin, dass die Schutzfunktionen der §§ 406d ff. StPO gerade für Opfer von Straftaten von besonderer Bedeutung sind. Zudem betonte es, dass juristische Vertreter bei der Wahrung dieser Rechte eine wichtige Rolle spielen. Die Entscheidung verdeutlichte die sorgfältige Abwägung zwischen dem Schutz des Untersuchungsziels und den Rechten der Opfer in Strafverfahren.
Das vorliegende Urteil
Oberlandesgericht Brandenburg – Az.: 1 Ws 81/20 – Beschluss vom 06.07.2020
Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Landgerichts Neuruppin vom 03.06.2020 wird als unbegründet verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels sowie die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen der Nebenklägerin zu tragen.
Gründe
I.
Dem Angeklagten wird mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Neuruppin vom 1. April 2020 vorgeworfen, zum Nachteil der Nebenklägerin am 15. Juni 2019 eine Vergewaltigung begangen sowie am 18. Januar 2020 eine Vergewaltigung versucht zu haben. Weiter wird dem Angeklagten vorgeworfen, in weiteren fünf Fällen, sexuelle Handlungen gegen andere Personen – in einem Fall gegen eine Person unter 14 Jahren – vorgenommen, bzw. diese Handlungen versucht zu haben. Bei der 14-Jährigen handelt es sich um die Schwester der Nebenklägerin. Mit Beschluss vom 18. Mai 2020 hat die 2. große Strafkammer des Landgerichts Neuruppin die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren gegen den Angeklagten eröffnet.
Die Nebenklägerin hat am 15. April 2020 ihren Anschluss als Nebenklägerin erklärt und ihre Beiständin Akteneinsicht beantragt. Mit Beschluss vom 11. Mai 2020 hat das Landgericht Neuruppin den Anschluss der Nebenklage zugelassen. Die begehrte Akteneinsicht hat die Strafkammervorsitzende mit Entscheidung vom 3. Juni 2020 gewährt. Der gegen den Beschluss gerichteten Beschwerde des Angeklagten hat die Strafkammervorsitzende mit Vermerk vom 10. Juni 2020 nicht abgeholfen, die Vollziehung der Akteneinsicht jedoch bis zur Entscheidung des Rechtsmittelgerichts zurückgestellt. Termine zur Hauptverhandlung sind auf den 24. Juni 2020 und auf den 15. Juli 2020 bestimmt worden.
Die Akten sind unter dem 10. Juni 2020 zur Entscheidung über die Beschwerde des Angeklagten vom 9. Juni 2020 gegen den Beschluss des Landgerichts Neuruppin vom 3. Juni 2020 an das Brandenburgische Oberlandesgericht übersandt worden und dort am 17. Juni 2020 eingegangen.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Neuruppin vom 3. Juni 2020 als unbegründet zu verwerfen. Der Angeklagte sowie die Nebenklägerin hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
II.
1. Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere gemäß § 304 Abs. 1 StPO i.V.m. § 406e Abs. 4 Satz 4 StPO – die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen abgeschlossen und Anklage erhoben – statthaft.
2. Die Beschwerde hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
a) Die Nebenklägerin hat gemäß § 406e Abs. 1 Satz 1 StPO über ihre Rechtsanwältin auch ohne Darlegung eines berechtigten Interesses einen Anspruch auf umfassende Einsicht in die Verfahrensakten.
b) Es ist nicht zu beanstanden, dass die Strafkammervorsitzende die beantragte Akteneinsicht nicht nach § 406e Abs. 2 StPO abgelehnt hat.
aa) Nach § 406e Abs. 2 Satz 1 StPO ist die Einsicht in die Akten zu versagen, soweit überwiegende Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen entgegenstehen. Bei der Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht sind daher die Interessen der Betroffenen gegeneinander abzuwägen. Vorliegend sind bei der Abwägung insbesondere die Schwere der gegen den Angeklagten erhobenen Tatvorwürfe und der Umstand zu berücksichtigen, dass angesichts der Eröffnung des Hauptverfahrens ein erheblicher Verdachtsgrad gegen ihn besteht. Hiernach kommt dem Interesse der Nebenklägerin als der mutmaßlichen Verletzten, den vollständigen Akteninhalt kennenzulernen, ein hohes Gewicht zu. Besonders sensible Daten des Angeklagten, wie sie etwa in medizinischen oder psychiatrischen Gutachten enthalten sein können, sind vorliegend nicht Aktenbestandteil; auch enthält der den Angeklagten betreffende Bundeszentralregisterauszug keine Eintragungen. Hinsichtlich der weiteren Zeugen enthält die Akte keine sensiblen Daten, die über die Schilderung der dem Angeklagten zur Last gelegten Straftaten hinausgehen.
bb) Ein Versagungsgrund nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO besteht nicht. Nach dieser Vorschrift kann die Akteneinsicht des Berechtigten versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Eine Gefährdung des Untersuchungszwecks kann angenommen werden, wenn zu befürchten ist, dass bei Gewährung der Akteneinsicht die Sachaufklärung beeinträchtigt wird, weil etwa – wie hier vom Verteidiger geltend gemacht – die Kenntnis der Nebenklägerin vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt einer von ihr noch zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen kann (vgl. KG NStZ 2016, 438; OLG Braunschweig NStZ 2016, 629). Allein die Rolle der Nebenklägerin als Zeugin in dem anhängigen Strafverfahren und die deshalb durch das Akteneinsichtsrecht grundsätzlich eröffnete Möglichkeit einer „Präparierung“ ihrer Aussage anhand des Akteninhalts reicht für eine Versagung der Akteneinsicht nicht aus (vgl. KG, Beschluss vom 24.11.2017 – 2 Ws 178/17,- Hans. OLG Hamburg NStZ 2015, 105). Denn zum einen geht mit der Wahrnehmung des gesetzlich eingeräumten Akteneinsichtsrechts nicht typischerweise eine Entwertung des Realitätskriteriums der Aussagekonstanz einher (vgl. BGH NStZ 2016, 367; OLG Braunschweig NStZ 2016, 629). Zum anderen würde durch die generalisierende Annahme, dass mit der Akteneinsicht durch den Nebenklägervertreter die Glaubhaftigkeit der Angaben eines Nebenklägers stets in besonderer Weise in Zweifel zu ziehen sei, seine freie Entscheidung, Akteneinsicht zu beantragen, beeinträchtigt werden; gerade denjenigen, die Opfer einer Straftat geworden sind, würden damit die Schutzfunktionen der §§ 406d ff. StPO entzogen (vgl. dazu BGH aaO; KG NStZ 2016, 438; KG, Beschluss vom 21.11.2018 – 3 Ws 278/18,- zitiert nach juris; OLG Düsseldorf StV 1991, 202).
Auch unter Berücksichtigung der vorliegenden Aussagekonstellation und der Tatsache, dass es sich bei der weiteren Zeugin J… W… um die Schwester der Nebenklägerin handelt, erscheint die Annahme eines geringen Grades der Gefährdung des Grundsatzes der Wahrheitsermittlung angesichts der von der Vertreterin der Nebenklägerin abgegebenen Zusicherung, ihrer Mandantin keine Akteninhalte zur Kenntnis zu geben und der möglichen Vernehmung der Nebenklägerin als Zeugin zu dieser Frage nicht ermessensfehlerhaft (vgl. OLG Braunschweig NStZ 2016, 629). Der Senat geht davon aus, dass Rechtsanwältin … als erfahrene Nebenklagevertreterin mit den erhöhten Anforderungen des Bundesgerichtshofes an die tatrichterliche Beweiswürdigung vertraut ist, wie sie in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation auch in Bezug auf die Bedeutung der Konstanzanalyse gelten und infolgedessen auch bemüht sein, den Beweiswert der Aussage ihrer Mandantschaft nicht zu reduzieren. Zwar ist dem Beschwerdeführer insoweit zuzustimmen, dass die Einhaltung einer solchen Zusage weder erzwungen noch sanktioniert werden könnte. Die Einhaltung der Verzichtserklärung ist indes für das Tatgericht überprüfbar. Denn es kann und muss die Nebenklägerin zeugenschaftlich befragen. Anders als der Angeklagte ist die Nebenklägerin als Zeugin zur Wahrheit verpflichtet und muss für den Fall einer Lüge mit einer erheblichen Strafe rechnen. Eine „Präpararation“ durch ihren Beistand anhand von aus der Akte gewonnenen Erkenntnissen dürfte einer erfahrenen Vernehmungsperson, zu denen Strafrichter zu zählen sind, in aller Regel nicht verborgen bleiben. Auch zur möglichen Weitergabe von Informationen an die Zeugin J… W… könnte die Nebenklägerin befragt werden. Die mögliche Aktenkenntnis beider Zeuginnen kann hiernach bei der Beweiswürdigung – soweit erforderlich – berücksichtigt werden (vgl. BGH NJW 2005, 1519). Dabei dürfte es sich im Ergebnis eher zu Gunsten als zu Lasten des Angeklagten auswirken, wenn eine festgestellte Konstanz in der Aussage der Nebenklägerin wegen einer vorherigen Akteneinsicht an Wert für die Beurteilung ihrer Angaben als richtig verliert.
c) Eine Versagung der Akteneinsicht wegen drohender erheblicher Verfahrensverzögerung (§ 406e Abs. 2 Satz 3 StPO) kommt ersichtlich nicht in Betracht.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.