Geschwindigkeitsüberschreitung und Rechtsprechung: Ein tiefgehender Blick auf den Beschluss des KG Berlin
Das Kammergericht Berlin hat in einer jüngsten Entscheidung (Az.: 3 ORs 22/23 – 161 Ss 60/23) die Revision eines Angeklagten abgewiesen, der gegen ein Urteil des Landgerichts Berlin Einspruch eingelegt hatte. Der Fall dreht sich um Geschwindigkeitsüberschreitungen und die Verwendung eines geeichten Messgeräts zur Geschwindigkeitsermittlung. Das Hauptproblem in diesem Fall war die Frage, ob die Geschwindigkeitsmessungen und die daraus resultierende rechtliche Bewertung der „rücksichtslosen“ Fahrweise des Angeklagten rechtsfehlerfrei waren.
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Übersicht
Messverfahren und Beweiswürdigung
Die Verteidigung hatte in der Revision kritisiert, dass die Geschwindigkeitsmessungen, die mit einem geeichten Messgerät ProViDa durchgeführt wurden, unorthodox festgestellt worden seien. Das Gericht hatte jedoch argumentiert, dass es keinen festgelegten Standard für Geschwindigkeitsmessverfahren gibt und dass die freie richterliche Beweiswürdigung gemäß § 261 StPO anwendbar ist. Das Gericht fand die Messungen und die daraus resultierende Geschwindigkeitsbewertung nachvollziehbar.
Absicht und Strafbarkeit
Ein weiterer kritischer Punkt war die Absicht des Angeklagten, „eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen“. Das Gericht stellte fest, dass die Absicht nicht notwendigerweise bedeutet, dass der Fahrer die technischen Grenzen des Fahrzeugs voll ausreizen muss. Es reicht aus, wenn die Geschwindigkeit relativ zur Verkehrslage und den technischen Möglichkeiten des Fahrzeugs als „höchstmöglich“ angesehen wird.
Beweisführung und Schlussfolgerungen
Das Gericht zog seine Schlussfolgerungen nicht nur aus der hohen Geschwindigkeit des Angeklagten, sondern auch aus seinem Fahrverhalten. Er fuhr extrem dicht hinter einem anderen Fahrzeug und beschleunigte stark, sobald die Fahrspur frei war. Diese äußeren Umstände stützten die Annahme, dass der Angeklagte die Absicht hatte, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen.
Kosten und Rechtsmittel
Schließlich wurde festgestellt, dass der Angeklagte die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen hat, da seine Revision als offensichtlich unbegründet verworfen wurde. Das Gericht sah keine Grundlage für eine revisionsrechtliche Intervention und bestätigte damit die Entscheidung des Landgerichts Berlin.
Dieser Fall zeigt, wie komplex die rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit Geschwindigkeitsüberschreitungen und der Bewertung der Fahrabsicht sein können. Es verdeutlicht auch die Bedeutung der freien richterlichen Beweiswürdigung in solchen Fällen.
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Das vorliegende Urteil
KG Berlin – Az.: 3 ORs 22/23 – 161 Ss 60/23 – Beschluss vom 08.05.2023
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 30. Januar 2023 wird nach § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet verworfen.
Gründe
Die Stellungnahme der Verteidigung vom 3. Mai 2023 lag vor, gab aber zu einer anderen Bewertung keinen Anlass. Ergänzend bemerkt der Senat:
Als unproblematisch erweisen sich die äußeren Tatbestandsmerkmale des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB und der vom Landgericht festgestellte allgemeine Tatbestandsvorsatz. Die Feststellungen rechtfertigen auch die Bewertung der Tat als rücksichtslos. Der Erörterung bedarf lediglich Folgendes:
1. Im Grundsatz zutreffend problematisiert die Revision, dass die vom Landgericht festgestellten Geschwindigkeiten von zunächst 120 km/h, dann 149 km/h, hiernach wieder 120 km/h und schließlich 177 km/h (bei erlaubten 80 km/h) unorthodox festgestellt worden sind. Denn das Urteil teilt zwar mit, das „geeichte Messgerät ProViDa“ sei im verfolgenden Polizeifahrzeug eingeschaltet gewesen, „um die gefahrene Geschwindigkeit zu messen und hierüber die Geschwindigkeit des Angeklagten zu bestimmen“ (UA S. 5). Die Urteilsgründe verhalten sich aber nicht zum mit dem geeichten Gerät verwendeten Messverfahren (ProViDa), ein elektronisches Messverfahren zur Bestimmung der Durchschnittsgeschwindigkeit von Fahrzeugen. Die Gründe enthalten auch nichts zu der, wie senatsbekannt, hiermit üblicherweise verbundenen Auswertung durch eine so genannte Videodistanzanalysesoftware (ViDistA) und namentlich nichts dazu, welche (Durchschnitts-) Geschwindigkeit über dieses standardisierte Messverfahren gegebenenfalls beweissicher ermittelt worden ist. Vielmehr weisen die Urteilsfeststellungen nur aus, welche Werte der polizeiliche Zeuge auf dem Gerätedisplay situativ abgelesen hat. Diese belegen aber für sich betrachtet und ohne Weg-Zeit-Berechnung nur die vom Polizeifahrzeug gefahrene Geschwindigkeit, hingegen nicht diejenige des vorausfahrenden Angeklagten.
Diese Darstellung erweist sich aber im Ergebnis als nicht rechtsfehlerhaft. Es gibt nämlich keinen Numerus Clausus der Verfahren zur Geschwindigkeitsermittlung. Es besteht auch keine Regel, der zufolge ein Messverfahren ausschließlich seiner (komplexen) Bestimmung nach verwendet werden darf. Vielmehr gilt auch hier der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO), welche für das Revisionsgericht nachvollziehbar darzulegen ist (§ 267 Abs. 1 StPO).
Die sich hieraus ergebenden Anforderungen erfüllt das Urteil. Es teilt nämlich mit, dass sich der zunächst „etwa gleichbleibende Abstand“ des verfolgenden Polizeifahrzeugs zum vom Angeklagten geführten PKW Porsche 911 im Zeitpunkt des Ablesens des höchsten Geschwindigkeitswertes (177 km/h) noch vergrößerte (UA S. 4 und 6 oben). Da das Urteil auch angibt, dass das Messgerät geeicht war (UA S. 5), kann der Senat die Bewertung des Landgerichts nachvollziehen, der Angeklagte habe gegen Ende der etwa 3.500 Meter langen Strecke tatsächlich die Geschwindigkeit von 177 km/h erreicht. Der Einwand der Revision, „dass Tachometer immer vorgestellt sind“ (RB S. 2), geht angesichts der festgestellten Eichung hier fehl.
2. Die Feststellungen weisen auch aus, dass der Angeklagte in der Absicht handelte, „eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen“ (§ 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB) (UA S. 3). Dass die Strafkammer hierbei eine Formulierung verwendet, die fast dem Gesetzeswortlaut entspricht, ist hinzunehmen. Zum einen wird die gesetzliche Phrase um tatsächliche Merkmale ergänzt („mit seinem hochmotorisierten PKW über eine längere Wegstrecke bei der konkret vorliegenden Verkehrslage“ [UA S. 3]). Zum anderen enthält auch die Beweiswürdigung weitere tatsächliche Eigenschaften des gesetzlichen Absichtsmerkmals (hierzu nachfolgend).
3. Die Absicht, „eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen“, wird auch durch die Beweiswürdigung getragen.
a) Zur Erfüllung des tatbestandlichen Absichtsmerkmals muss der Täter nicht das Ziel verfolgen, die Möglichkeiten seines Fahrzeugs „voll auszureizen“. Ein solches Erfordernis würde den Täter, der ein hochmotorisiertes Fahrzeug führt und sehr hohe Geschwindigkeiten erreichen kann, ohne an das Limit der technischen Leistungsfähigkeit zu gehen, unangemessen und sinnwidrig begünstigen (vgl. Senat NZV 2019 314 [m. zust. Anm. Quarch]). Das Gesetz stellt hier auf die „relativ höchstmöglich erzielbare Geschwindigkeit“ ab (vgl. Senat a.a.O.; BeckOK StGB/Kulhanek, 56. Ed., § 315d Rn. 35; MüKo/Pegel, StGB 4. Aufl., § 315d Rn. 26; vgl. auch BT-Drs. 18/12964, 5). Dies fasst insbesondere die fahrzeugspezifische Beschleunigung und Höchstgeschwindigkeit (wobei diese nicht erreicht sein muss), das subjektive Geschwindigkeitsempfinden, die Verkehrslage und die Witterungsbedingungen zusammen (BT-Drs. 18/12964, 5, vgl. auch Senat a.a.O.). Auf diese Weise sollen der nachgestellte Renncharakter manifestiert, bloße Geschwindigkeitsüberschreitungen hingegen nicht von der Strafbarkeit umfasst werden, auch wenn sie erheblich sind (BT-Drs. 18/12964, 6). Gerade nicht erforderlich ist demnach, dass der Täter tatsächlich mit der fahrzeugspezifisch höchstmöglichen Geschwindigkeit gefahren ist (vgl. Schönke/Schröder/Hecker, StGB 30. Aufl., § 315d Rn. 9).
b) Nachvollziehbar hat die Strafkammer aus der nach außen erkennbar gewordenen Fahrweise des Angeklagten auf die nach diesen Maßgaben bestimmte Absicht geschlossen, „eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen“. Als tatsächlich zweifelhaft mag dabei erscheinen, ob die frappierend hohe und die zulässige Höchstgeschwindigkeit um fast 100 km/h und mehr als 120% überschreitende Geschwindigkeit allein eine tragfähige Grundlage gewesen wäre, auf das gesetzliche Absichtsmerkmal zu schließen. Das Landgericht hat seine Schlussfolgerung auf die innere Tatseite aber auf weitere äußere Umstände gestützt. Zum einen hat es eine äußerst bedrängende Fahrweise festgestellt: Der Angeklagte fuhr nämlich über einen Großteil der Strecke mit einem Abstand von nur 20 bis 25 Meter hinter einem PKW, wobei letzterer nach dem ersten „Auffahren“ des Angeklagten von 120 auf 149 km/h beschleunigt wurde (UA S. 3). Zum anderen beschleunigte der Angeklagte sein Fahrzeug „sofort stark“ (UA S. 4) von 120 auf 177 km/h, nachdem das vorausfahrende Fahrzeug die linke Fahrspur verlassen hatte. Eine noch höhere Geschwindigkeit, so teilt das Urteil als glaubhafte Bekundung des polizeilichen Zeugen mit, sei „in Anbetracht der Verkehrslage“ unmöglich gewesen (UA S. 6). Der Zusammenhang der Feststellungen legt zudem nahe, dass dem Angeklagten eine noch höhere Geschwindigkeit auch deshalb nicht möglich gewesen wäre, weil er nach Erreichen der 177 km/h die Autobahn an der Anschlussstelle Späthstraße verließ. Dies räumt auch, ohne dass es darauf ankäme, die Verteidigung in ihrer Stellungnahme vom 3. Mai 2023 ein. Die Einwendung der Revision, „ein Porsche“ sei technisch in der Lage, „höchste Geschwindigkeiten (bis über 300 km/h) zu halten“ (RB S. 2), mag sachlich allgemein zutreffen, geht aber an den hier getroffenen tatsächlichen Feststellungen, nach denen eine höhere Geschwindigkeit als 177 km/h situationsbedingt nicht möglich war, vorbei. Unverständlich bleibt in diesem Zusammenhang auch die Erklärung der Revision, die vom Angeklagten erreichte Geschwindigkeit sei „erforderlich“ gewesen, um „die nächste Ausfahrt zu erreichen“ (Gegenerklärung vom 3. Mai 2023).
c) Die durch das Landgericht vom äußeren Tatgeschehen auf die „Höchstgeschwindigkeitserzielungsabsicht“ gezogene Schlussfolgerung erweist sich damit als möglich und vertretbar. Sie entzieht sich mithin revisionsrechtlicher Intervention.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen (§ 473 Abs. 1 Satz 1 StPO).