Zeitliche Grenzen bei Durchsuchungsanordnungen: Ein kritischer Blick auf die Praxis der Ermittlungsbehörden
Das Landgericht Kiel hat in einem Beschluss vom 07.03.2023 (Az.: 7 Qs 10/23 – 590 Js 61530/18) eine wichtige Entscheidung zum Thema Durchsuchungsanordnungen getroffen. Im Kern ging es um die Frage, wie lange zwischen der Anordnung einer Durchsuchung und ihrer tatsächlichen Durchführung vergehen darf. Der Fall betraf einen Beschuldigten, gegen den wegen des Besitzes von leistungssteigernden Substanzen ermittelt wurde. Das Gericht stellte fest, dass die Durchsuchung seiner Wohnung rechtswidrig war, da zu viel Zeit zwischen der Anordnung und der Durchführung der Durchsuchung verstrichen war.
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Übersicht
Ermittlungsgrundlage und Anfangsverdacht
Die Staatsanwaltschaft hatte einen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung des Beschuldigten beantragt, nachdem eine an ihn adressierte Postsendung mit verbotenen Substanzen abgefangen worden war. Diese Substanzen sind insbesondere im Bodybuilding-Sport bekannt und fallen unter das AntiDopG. Der Anfangsverdacht war also gegeben, und das Amtsgericht erließ den Durchsuchungsbeschluss.
Die Rolle der sozialen Medien
Interessant ist, dass die Ermittlungsbehörden durch Recherchen in sozialen Medien herausfanden, dass der Beschuldigte wahrscheinlich selbst ein aktiver Bodybuilder ist. Dies stärkte den Anfangsverdacht und die Annahme, dass die Substanzen für den persönlichen Gebrauch des Beschuldigten bestimmt waren.
Zeitlicher Ablauf und Ermessensspielraum
Das Hauptproblem in diesem Fall war der zeitliche Ablauf. Die Staatsanwaltschaft wartete fast sechs Monate, bevor sie die Durchsuchung durchführte. Das Gericht stellte klar, dass eine solche Verzögerung die Durchsuchung rechtswidrig macht. Die Ermittlungsbehörden haben zwar einen Ermessensspielraum, aber dieser ist durch objektive Kriterien begrenzt. Insbesondere darf die Zeitspanne zwischen der Anordnung und der Durchführung der Durchsuchung nicht mehr als sechs Monate betragen.
Grundrechtsschutz und Verhältnismäßigkeit
Das Gericht betonte die Bedeutung des Grundrechtsschutzes und der Verhältnismäßigkeit solcher Maßnahmen. Ermittlungsbehörden dürfen sich keine Durchsuchungsbeschlüsse „auf Vorrat“ holen. Sie müssen zeitnah handeln und dürfen nur unter Berücksichtigung konkreter Besonderheiten des Falles mit der Durchführung der Maßnahme zuwarten.
Die Entscheidung hat weitreichende Implikationen für die Praxis der Ermittlungsbehörden und betont die Notwendigkeit, die Grundrechte der Betroffenen zu wahren. Sie stellt klar, dass die Ermittlungsbehörden ihre Befugnisse im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausüben müssen.
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Das vorliegende Urteil
LG Kiel – Az.: 7 Qs 10/23 – 590 Js 61530/18 – Beschluss vom 07.03.2023
Orientierungssatz
Die Zeitspanne, die zwischen der Anordnung und der Durchführung der Durchsuchung liegen darf, bestimmt sich im Einzelfall nach der Art des Tatverdachtes, der Schwierigkeit der Ermittlungen, der Zahl der Beschuldigten und der Beweismittel und der sonstigen Besonderheiten des Falles. Eine Ermittlungsbehörde darf nur unter Berücksichtigung der konkreten Besonderheiten des Falles mit der Durchführung der Maßnahme zuwarten. Die Gründe müssen umso gewichtiger sein, je länger gewartet wird. Das Ermessen der Ermittlungsbehörde ist jedenfalls dann nicht mehr rechtmäßig ausgeübt, wenn mehr als sechs Monate zwischen Erlass und Durchführung des Durchsuchungsanordnung liegen (Anschluss BVerfG, Beschluss vom 27. Mai 1997 – 2 BvR 1992/92).(Rn.12)
1. Auf die Beschwerde des Beschuldigten wird festgestellt, dass die Durchsuchung seiner Wohnräume am … durch den Durchsuchungsbeschluss des Amtsgericht K. vom … (…) nicht gerechtfertigt war.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit notwendigen Auslagen des Beschuldigten werden der Landeskasse auferlegt.
Gründe
Die Beschwerde ist zulässig und auch begründet.
Die Staatsanwaltschaft beantragte am … beim zuständigen Ermittlungsrichter des Amtsgerichts K. einen Durchsuchungsbeschluss.
Dabei stützte sich die Staatsanwaltschaft im Wesentlichen darauf, dass eine an den Beschuldigten adressierte Postsendung verbotene Substanzen nach dem AntiDopG enthielt. Im Einzelnen handelte es sich um
- 500 Tabletten D. (M. 10 mg)
- 300 Tabletten C. (C.0,04 mg)
- 200 Tabletten S. (S. 10 mg)
Diese Anzahl von Tabletten überschreiten mit dem angegebenen Wirkstoffgehalt die nicht geringe Menge erheblich. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ermittlungsakte Bezug genommen (Bl. 3 bis 20 HB V).
Alle drei Präparate sind leistungssteigernde Substanzen, die insbesondere im Bodybuildingsport missbräuchliche Verwendung finden. Die Postsendung fing der Zoll ab. Es handelte sich um ein Paket aus dem osteuropäischen Ausland. Die Substanzen unterliegen alle dem Verbot des § 4 AntiDopG i.V.m. Anl. I Ziffer 1. und 2. Gemäß § 2 Abs. 3 AntiDopG ist der Erwerb, der Besitz und das Verbringen in den Geltungsbereich des AntiDopG verboten.
Die Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft konnten über die sozialen Medien herausfinden, dass der Beschuldigte mit großer Wahrscheinlichkeit selbst aktiver Bodybuilder ist.
Am … erließ das zuständige Amtsgericht den beantragten Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung des Beschuldigten (Bl. 52-54 Hb. V). Danach fanden keine weiteren Ermittlungsmaßnahmen mehr statt. Erst kurz vor Ablauf von sechs Monaten – am … – durchsuchte die Staatsanwaltschaft K. die Wohnung des Beschuldigten. Dabei konnten Beweisstücke sichergestellt und auch weitere mögliche Tatbeteiligte ermittelt werden.
Dieses Vorgehen stellt sich als rechtswidrig dar, da die Ermittlungsmaßnahme infolge des Zeitablaufes nicht mehr von der richterlichen Durchsuchungsanordnung des Amtsgerichts gedeckt gewesen ist.
Art. 13 Abs. 1 GG garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung des Einzelnen. Dieser Schutz wird dadurch verstärkt, dass nach Art. 13 Abs. 2 GG Durchsuchungen grundsätzlich nur von Richtern und bei Gefahr in Verzug von den nach den Gesetzen vorgesehenen Organen angeordnet und nach einer bestimmten Form durchgeführt werden müssen (BVerfG NJW 1997, 2165). Ein Richter kann die Durchsuchung nur anordnen, wenn er sich aufgrund eigenverantwortlicher Prüfung der Ermittlungen überzeugt hat, dass die Maßnahme verhältnismäßig ist und durch die konkrete Formulierung des Beschlusses die Maßnahme so zu umgrenzt ist, dass diese angemessen, messbar und kontrollierbar bleibt (BVerfGE 42, 212, 220). Die richterliche Kontrolle ist eine vorbeugende. Diese kann dem Grundrechtsschutz nur dann Rechnung tragen, wenn die richterliche Beurteilung der Maßnahme in ihren konkreten und gegenwärtigen Voraussetzungen erfolgt (BVerfG NJW 1997, 2165, 2165). Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ist auch entgegen einer vereinzelt in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung nicht dahingehend zu interpretieren, dass es sich bei der vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten 6 Monatsfrist um eine rein punktuelle Betrachtung des Falles handelte, die überschritten werden darf (so LG Zweibrücken NJW 2003, 156). Die Frist ist eine Höchstfrist, die im Falle des Vorliegens objektiver Gründe für ein Zuwarten ausgeschöpft, aber nicht überschritten werden darf, da dann nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass die richterliche Genehmigung die durchgeführte Maßnahme noch deckt. Die Ermittlungsmaßnahme gleicht dann nicht mehr dem Entscheidungsgegenstand, für den der anordnende Ermittlungsrichter die Verantwortung übernommen hat (BVerfG a.a.O.).
So liegt der Fall hier. Der Grundrechtsschutz und die dem Rechnung tragenden Vorschriften der StPO gestatten es den Ermittlungsbehörden nicht, sich Durchsuchungsbeschlüsse „auf Vorrat“ zu holen. Die Staatsanwaltschaft muss von der erteilten Genehmigung grundsätzlich zeitnah Gebrauch zu machen. Ein Zuwarten ist in Grenzen erlaubt, wobei der Staatsanwaltschaft auch ein Ermessen eingeräumt ist (BVerfG a.a.O.). Dieses Ermessen ist in seiner konkreten Ausübung aber durch objektive Merkmale begrenzt und nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls dann nicht mehr rechtmäßig ausgeübt, wenn mehr als sechs Monate zwischen Erlass und Durchführung des Durchsuchungsanordnung liegen (BVerfG a.a.O.). Die Zeitspanne, die zwischen der Anordnung und der Durchführung der Durchsuchung liegen darf, bestimmt sich im Einzelfall nach der Art des Tatverdachtes, der Schwierigkeit der Ermittlungen, der Zahl der Beschuldigten und der Beweismittel und der sonstigen Besonderheiten des Falles. Das bedeutet, dass die Ermittlungsbehörde nur unter Berücksichtigung konkreter Besonderheiten des Falles mit der Durchführung der Maßnahme zuwarten darf. Die Gründe müssen umso gewichtiger sein, je länger gewartet wird, da jedenfalls nach 6 Monaten die Durchsuchung nicht mehr durchgeführt werden darf.
Danach ist vorliegend festzuhalten, dass zum Zeitpunkt des Erlasses des Durchsuchungsbeschlusses ein Anfangsverdacht wegen des Verstoßes gegen § 4 AntiDopG gegen den Beschuldigten gegeben war. Der Anfangsverdacht ist anzunehmen, wenn zureichende Anhaltspunkte für eine Straftat vorliegen, die über bloße Vermutungen hinausgehen. Diese Voraussetzungen lagen hier – entgegen der Ansicht der Verteidigung – vor. Die Kammer sieht vorliegend kein Grund zur Annahme, dass die Wohnanschrift des Beschuldigten von Dritten ohne Wissen des Beschuldigten für den Empfang der Sendung ausgenutzt worden wäre. Überdies haben die weiteren Ermittlungen ergeben, dass der Beschuldigte auch selbst in der Bodybuildingszene aktiv ist und insofern der Empfang derartiger Präparate „ins Bild passte“.
Die Ermittlungen befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch in einem Rahmen, den man als überschaubar bezeichnen kann. Denn es gab zu diesem Zeitpunkt kaum mehr Erkenntnisse, als dass aus dem Ausland ein Paket mit verbotenen Substanzen an die Wohnanschrift des Beschuldigten gesandt worden ist.
Weitere Beschuldigte bzw. Tatbeteiligte waren zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt. Auch gab es noch keine vertieften Erkenntnisse aus der Auswertung von Mobiltelefonen oder ähnlichem.
Vor diesem Hintergrund ist für die Kammer kein Grund ersichtlich, aus welchem Grund die Ermittlungsbehörden über einen Zeitraum von fast sechs Monaten zugewartet haben, bis sie die Wohnung des Beschuldigten durchsucht haben. Der Sachverhalt lag vielmehr so, dass eher eine zeitnahe Durchsuchung nahegelegen hätte, da aus ermittlungstaktischen Gründen damit gerechnet werden musste, dass der Beschuldigte möglicherweise Beweismittel vernichtet, wenn ihm bewusst wird, dass er eine erwartete Lieferung mit verbotenen Substanzen nicht erhalten hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.