KG Berlin, Az.: 4 Ws 62/19, 161 AR 138/19, Beschluss vom 04.07.2019
Leitsatz
1. Allein der Umstand, dass sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Berufung gegen die in erster Instanz getroffene Rechtsfolgenentscheidung wendet und die Festsetzung einer schärferen Sanktion erstrebt, führt nicht zur Notwendigkeit der Verteidigung.
2. Es erscheint zweifelhaft, ob die Voraussetzungen einer unmittelbaren Wirkung des Art. 4 der Richtlinie (EU) 2016/1990 – mit Ausnahme der Fälle des Art. 4 Abs. 4 Satz 2 – vorliegen.
1. Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss der Vorsitzenden der Strafkammer 13 des Landgerichts Berlin vom 17. Mai 2019 wird als unbegründet verworfen.
2. Der Angeklagte hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Gründe
Das Amtsgericht Tiergarten – Jugendrichter – hat den umfassend geständigen Angeklagten am 13. Februar 2019 des Diebstahls (gemäß § 243 Abs. 1 Nr. 2 StGB) in zwei Fällen schuldig gesprochen, ihn verwarnt und die Verurteilung zu einer Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen zu je zehn Euro vorbehalten. Die Bewährungszeit hat es auf zwei Jahre festgesetzt. Nach den Feststellungen entwendete der Angeklagte gemeinsam mit dem zur Tatzeit noch heranwachsenden Mitangeklagten A. in der Nacht des 13./14. Juni 2018 zwei Fahrräder (im Wert von etwa 150 bzw. 200 Euro), indem sie mittels eines zuvor aus dem Keller des Angeklagten geholten Bolzenschneiders das Glieder- bzw. Kabelschloss des jeweiligen Fahrrades durchtrennten. Der Angeklagte und sein Mittäter wollten, da sie unter Geldnot litten, die Fahrräder durch einen Verkauf zu Geld machen. Weil sie kurz nach den Taten von einer Polizeistreife gestellt wurden, konnten die Fahrräder den Geschädigten zurückgegeben werden, sodass diesen nur der durch die Zerstörung der Schlösser eingetretene Schaden in Höhe von etwa zwölf bzw. fünf Euro entstand.
Die Staatsanwaltschaft Berlin, die in der Hauptverhandlung erster Instanz die Festsetzung von Einzelfreiheitsstrafen in Höhe von jeweils drei Monaten und als Gesamtstrafe eine bedingte Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten beantragt hatte, wendet sich mit ihrer auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Berufung gegen das amtsgerichtliche Urteil. Sie verfolgt weiterhin das Ziel der Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe. Die Berufungshauptverhandlung ist noch nicht anberaumt.
Den mit der Schwierigkeit der Rechtslage begründeten Antrag des Angeklagten vom 26. April 2019, ihm Rechtsanwalt M. als Verteidiger beizuordnen, hat die Vorsitzende der Berufungskammer durch den angefochtenen Beschluss vom 17. Mai 2019 abgelehnt. Zur Begründung hat sie angeführt, dass die Straferwartung unter einem Jahr Freiheitsstrafe liege; es sei auch „nicht ersichtlich, dass der Beschuldigte sich nicht selbst verteidigen könnte“.
Mit seiner hiergegen erhobenen Beschwerde vom 22. Mai 2019 macht der Angeklagte nunmehr auch geltend, dass infolge des Inkrafttretens der Richtlinie (EU) 2016/1919 „spätestens mit dem 25.05.2019 (…) eine Beiordnung zwingend zu erfolgen“ habe, wobei der Verteidiger ausweislich seiner knappen Ausführungen ersichtlich annimmt, dass die Richtlinie unmittelbare Rechtswirkung entfalte und „somit einen unmittelbaren Anspruch auf Beiordnung eines vom Mitgliedsstaat finanzierten Verteidigers bereits im Ermittlungsverfahren (schaffe), jedenfalls wenn und soweit ein Tatvorwurf eröffnet wird“.
Die Kammervorsitzende hat der Beschwerde unter dem 31. Mai 2019 nicht abgeholfen. Die Sache ist mit einer Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft Berlin vom 25. Juni 2019 am 26. Juni 2019 beim Kammergericht eingegangen.
Das Rechtsmittel des Angeklagten bleibt ohne Erfolg.
1. Die Beschwerde ist zwar nach § 304 Abs. 1 StPO zulässig und insbesondere nicht durch § 305 Satz 1 StPO ausgeschlossen, da die Ablehnung der Bestellung eines Verteidigers Rechtswirkungen entfaltet, die über die bloße Vorbereitung des späteren Urteils hinausgehen (vgl. OLG Hamburg StraFo 2000, 383; OLG Brandenburg OLG-NL 2003, 261; Senat, Beschluss vom 22. August 2016 – 4 Ws 121/16 –; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 62. Aufl., § 141 Rn. 10a).
2. Das Rechtsmittel ist aber nicht begründet.
a) Die Voraussetzungen des hier in Betracht kommenden § 140 Abs. 2 StPO sind nicht gegeben.
Allein der Umstand, dass sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Berufung gegen die vom Jugendrichter getroffene Rechtsfolgenentscheidung wendet und, wie schon in der Hauptverhandlung erster Instanz, die Festsetzung einer schärferen Sanktion – hier die Verhängung von Freiheitsstrafe anstelle einer Verwarnung mit Strafvorbehalt – erstrebt, führt nicht zur Notwendigkeit der Verteidigung.
Der Senat folgt nicht der Rechtsprechung einiger Oberlandesgerichte, wonach unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage bereits und stets dann ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist, wenn die Staatsanwaltschaft mit ihrer Berufung die Verhängung einer Freiheitsstrafe anstelle einer Geldstrafe erstrebt (so OLG Naumburg StV 2017, 157 = StraFo 2016, 207) oder wenn die am Verfahren beteiligten Justizorgane (Staatsanwaltschaft einerseits und Gericht andererseits oder zwei Gerichtsinstanzen) allgemein unterschiedliche Bewertungen der Rechtsfolgenfrage vornehmen (so OLG Karlsruhe NStZ-RR 2002, 336 für den Fall, dass die Berufung der Staatsanwaltschaft auf den Wegfall der Strafaussetzung zur Bewährung abzielt; in diese Richtung auch, aber jeweils nicht tragend: OLG Düsseldorf StV 1988, 290 und Senat StraFo 2013, 425; noch weitergehend, aber kaum justiziabel und zudem unter Bezugnahme auf diese Ansicht nicht tragende Rechtsprechung, Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 140 Rn. 26a: auch „bei sonstiger unterschiedlicher Bewertung der Sach- oder Rechtslage“).
Solche, eher schematisch wirkenden Rechtsgrundsätze werden der Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO, die den Charakter eines Auffangtatbestandes hat und angesichts der ihr zukommenden Ergänzungsfunktion in besonderer Weise einer Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalles bedarf, nicht gerecht (vgl. auch OLG Hamburg, Beschluss vom 31. August 2017 – 2 Ws 141/17 – [juris]; OLG Dresden NStZ-RR 2005, 318; s. auch BVerfG NJW 2003, 882; VerfGH Sachsen, Beschluss vom 27. Oktober 2005 – Vf. 62-IV-05 – [juris]; OLG Karlsruhe DAR 2005, 573; ebenso Laufhütte/Willnow in KK-StPO 7. Aufl., § 140 Rn. 23: unterschiedliche Bewertung durch Staatsanwaltschaft und erstinstanzliches Gericht belege nicht ausnahmslos die Schwierigkeit der Rechtslage). Vielmehr ist auch in Fällen, in denen am Verfahren beteiligte Justizorgane unterschiedliche Einschätzungen der Rechtsfolgenfrage vornehmen, die Notwendigkeit einer Pflichtverteidigerbestellung auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung der Sach- und Rechtslage zu beurteilen, weil nur eine solche Gesamtbetrachtung eine sachgerechte Bewertung des Grads der Schwierigkeit im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO ermöglicht. Jedenfalls in einer Fallkonstellation wie der vorliegenden, in der – bei gleichsam „unstreitigem“ Schuldspruch – die von Gericht und Staatsanwaltschaft unterschiedlich beurteilte Frage der angemessenen Rechtsfolge schon wesentlicher Gegenstand der Hauptverhandlung erster Instanz war und diese Problematik in einer Berufungshauptverhandlung (lediglich) einer neuen gerichtlichen Bewertung zugeführt werden soll, ist kein Grund ersichtlich, allein wegen der Tatsache, dass diese erneute Entscheidung infolge eines von der Staatsanwaltschaft erhobenen Rechtsmittels zu treffen ist, einen Fall notwendiger Verteidigung anzunehmen. Dies gilt umso mehr, wenn, wie hier zu erwarten, dieser erneuten Bewertung ein im Wesentlichen unveränderter – zumal: nicht schwieriger –Strafzumessungssachverhalt zugrunde liegen wird.
Die tatsächlichen Grundlagen sowohl der nach § 47 StGB als auch der nach § 59 Abs. 1 StGB (vgl. hierzu nur KG, Urteil vom 1. Februar 2018 – [5] 121 Ss 71/17 [49/17] – mwN) zu treffenden Entscheidung liegen in dem überaus einfach gelagerten Fall offen zutage; sie sind ausweislich der Urteilsgründe und der Berufungsbegründung bereits in der Hauptverhandlung erster Instanz zur Sprache gekommen, und der Angeklagte konnte sich zu ihnen erklären. Soweit der Verteidiger meint, der Angeklagte bedürfe schon deshalb eines Pflichtverteidigers, weil das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft „komplizierte Abgrenzungsfragen im Rahmen der Strafzumessung“ aufwerfe, dringt er damit nicht durch. Die – maßgeblichen – tatsächlichen Grundlagen der beiden Entscheidungsgegenstände sind nicht komplex. Das Erfordernis einer gerichtlichen (Sach-)Entscheidung, die auch – zum gerichtlichen Alltag gehörende – abwägende und abgrenzende Erwägungen zum Gegenstand haben wird, begründet ebenso wenig die Notwendigkeit einer Verteidigermitwirkung im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO (vgl. etwa OLG Dresden aaO) wie der Umstand, dass der Verteidiger vermutlich zu den im Raum stehenden Rechtsnormen rechtliche Ausführungen wird machen wollen.
b) Auch die Argumentation des Verteidigers mit der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 (ABl. EU L 297 vom 4. November 2016, S. 1 ff.) vermag dem Rechtsmittel nicht zum Erfolg zu verhelfen.
Nach den vom EuGH zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien formulierten Grundsätzen wäre die genannte Richtlinie – ungeachtet der Frage, wie aus dem in ihr verbürgten „Anspruch auf Prozesskostenhilfe“ unmittelbar die mit dem Rechtsmittel verfolgte Beiordnung eines Pflichtverteidigers abzuleiten wäre – nach dem Verstreichen der Umsetzungsfrist zweifellos in Bezug auf die in ihrem Artikel 4 Abs. 4 Satz 2 formulierten Fälle unmittelbar anwendbar, in denen ein Beschuldigter bereits in Haft ist oder einem Gericht zur Entscheidung über eine Haft vorgeführt wird. Im Übrigen erschiene es demgegenüber zweifelhaft, ob die Voraussetzung für eine unmittelbare Wirkung, dass die in der Richtlinie ausgesprochene Verpflichtung hinreichend klar und genau formuliert und nicht an Bedingungen geknüpft ist, es keiner zusätzlichen umsetzenden Maßnahme bedarf und ein Handlungsspielraum der Mitgliedsstaaten hinsichtlich der Durchführung der betreffenden Bestimmung fehlt, sodass das nationale Gericht sie sinnvoll anwenden könnte (vgl. etwa EuGH NJW 1982, 499 [Urteil vom 19. Januar 1982 in der Rs. 8/81, Becker]), anzunehmen wäre.
Einer abschließenden Befassung mit dieser Frage bedarf es indessen nicht. Denn entgegen der offensichtlichen Annahme des Verteidigers gebietet die Richtlinie, dies zeigt auch der Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 12. Juni 2019, keinesfalls eine Erweiterung des Anwendungsbereichs der notwendigen Verteidigung auf (alle) Fälle, in denen einem Beschuldigten in einem Ermittlungsverfahren – ungeachtet des Gewichts und Charakters der vorgeworfenen Straftat – „ein Tatvorwurf eröffnet wird“ (wobei der Verteidiger angesichts der Verwendung des Wortes „jedenfalls“ sogar der Auffassung zu sein scheint, dass es auch Fälle gebe, in denen die notwendige Verteidigung nicht einmal eine Eröffnung eines Tatvorwurfs erfordert). Dies folgt ohne weiteres aus Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie, wonach der Anspruch auf die Bereitstellung finanzieller Mittel „im Interesse der Rechtspflege erforderlich“ sein muss, sowie aus Art. 4 Abs. 2 und Abs. 4 Satz 1 der Richtlinie, wonach den Mitgliedsstaaten die Befugnis eingeräumt ist, eine Prüfung materieller Kriterien (wie Schwere der Straftat, Komplexität des Falles und Schwere der zu erwartenden Strafe) vorzusehen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.