LG Bremen, Az.: 4 KLs 500 Js 63429/14, Verfügung vom 16.06.2015
I. Vermerk:
Es herrscht Streit über die Art und Weise der Kenntnisgabe der dem Gericht von der Staatsanwaltschaft mit Erhebung der Anklage vorgelegten 33 CDs.
Dabei handelt es sich um 26 CDs mit Ergebnissen der TKÜ-Überwachung (wohl vor allem Telefongespräche und SMS) sowie 7 CDs mit Auswertungen beschlagnahmter Handys.
Das Gericht hat die unterschiedlichen Positionen beraten.
Das Gericht hat sich zu folgender Vorgehensweise entschlossen:
1) Alle Verteidiger (RA T. und RA J. erhalten absprachegemäß zusammen 1 Satz) erhalten jeweils 33 kopierte CDs.
2) Es ist den Verteidigern überlassen, einzelne Dateien mit Bedeutung für das Verfahren auf ihren Rechnern zur Bearbeitung zu kopieren.
3) Im Zusammenhang mit der Übergabe verpflichten sich die Verteidiger in einer bis dahin vorbereiteten Verpflichtungserklärung, die CDs über die Erstellung von Bearbeitungskopien (Ziff. 2) hinaus nicht zu kopieren bzw. auf anderen Medien zu speichern, sie sorgsam bei sich zu verwahren und nicht unberechtigten Dritten zukommen zu lassen bzw. einen Zugriff solcher Personen zu unterbinden, außerdem, nach Beendigung des Verfahrens die überlassenen CDs zurückzugeben und die entsprechenden Dateien auf ihren Rechnern (Ziff. 2) zu löschen.
4) Die Verteidiger sind insbesondere berechtigt, die überlassenen Dateien gemeinsam mit dem jeweils vertretenen Angeschuldigten in Augenschein zu nehmen, soweit notwendig in Gegenwart eines Dolmetschers bzw. einer Dolmetscherin.
5) Alle Angeschuldigten erhalten nach Maßgabe der folgenden Ziffern die Möglichkeit, die aufgezeichneten Telekommunikationsvorgänge insgesamt zur Kenntnis zu nehmen. Sie müssen sich zuvor dazu verpflichten, hinsichtlich zur Kenntnis genommener Vorgänge, die mit dem Verfahren nichts zu tun haben, zu schweigen und diese Kenntnis nicht an andere Personen weiterzugeben. Dieses gilt insbesondere, wenn von unbeteiligten dritten Personen Kommunikationsvorgänge ohne jedweden Bezug zum Verfahren aufgenommen worden sind. Außerdem müssen die Angeschuldigten sich verpflichten, die Dateien nicht auf andere Speichermedien zu übertragen.
6) Die sich in Haft befindenden Angeschuldigten erhalten in einer gesonderten Zelle in der JVA (wahrscheinlich eine Besucherzelle) die Möglichkeit, auf einem von der Polizei oder der JVA zur Verfügung gestellten Laptop selbst einzelne Gespräche anzuhören bzw. SMS zu lesen etc. Auf der Festplatte (interne oder externe) befindet sich der Inhalt sämtlich von der Staatsanwaltschaft vorgelegter 33 CDs.
Die inhaftierten Angeschuldigten müssen jeweils der JVA ihre Absicht zur Anhörung der Gespräche bekunden. Die JVA koordiniert bei gleichzeitigen Anträgen die Intervalle.
Die inhaftierten Angeschuldigten dürfen in die entsprechende Zelle keine Speichermedien (CDs, externe Festplatten, USB-Sticks etc.) mit hineinnehmen. Daraufhin sind sie ggf. zu kontrollieren.
7) Der sich auf freiem Fuß befindliche Angeschuldigte Ar., der ebenso den Regeln unter Ziffern I. 4) und I. 5) unterliegt, kann den Inhalt der CDs entweder in den Räumlichkeiten eines seiner Verteidiger oder aber in einem von der Polizei zur Verfügung gestellten Raum wahrnehmen. Die Überlassung der CDs an ihn zur Mitnahme ist nicht gestattet.
8) Den Ermittlungsbehörden ist es untersagt, den in der JVA zur Verfügung gestellten Laptop zu irgendeinem Zeitpunkt darauf zu untersuchen, welcher Angeschuldigte in welchem Umfang welche Datei zur Kenntnis genommen hat.
9) Nach Abschluss des Verfahrens sind sämtlich kopierte CDs zurück zu geben, damit sie nach Übersendung an die Staatsanwaltschaft dort vernichtet werden können. Soweit Verteidiger zulässigerweise einzelne Dateien zur Bearbeitung kopiert haben, haben sie diese kopierten Dateien zu löschen.
Gründe
Die Verteidiger haben einen Anspruch auf Überlassung von Kopien der aufgezeichneten Telefongespräche aus § 147 Abs. 1 StPO. Nach dieser Norm ist der Verteidiger befugt, die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären, einzusehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen. Darüber hinaus bestimmt § 147 Abs. 4 StPO, dass dem Verteidiger auf seinen Antrag, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, die Akten mit Ausnahme der Beweisstücke zur Einsichtnahme in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung mitgegeben werden.
Aufgezeichnete Daten der Telekommunikationsüberwachung unterliegen insgesamt dem Recht auf Akteneinsicht und Besichtigung amtlich verwahrter Beweisstücke gemäß § 147 Abs. 1 StPO, das vom ersten Zugriff der Polizei an gesammelte Beweismaterial einschließlich etwaiger Bild- und Tonaufnahmen umfasst, das gerade in dem gegen den Angeschuldigten gerichteten Ermittlungsverfahren angefallen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 11.02.2014 – 1 StR 355/13, NStZ 2014, 347).
Kopien der aufgezeichneten Telefongespräche sind entgegen in der Rechtsprechung verbreiteter Auffassung keine „Beweisstücke“, die gem. § 147 Abs. 4 StPO nur an ihrem Ort der Verwahrung – im vorliegenden Fall: auf der Geschäftsstelle des Landgerichts – besichtigt werden können. Schon eine sich an Sinn und Zweck der Norm orientierte Auslegung lässt es nicht zu, Kopien aufgezeichneter Daten der Telekommunikationsüberwachung als „Beweisstücke“ zu begreifen.
Beweisstücke – insbesondere Objekte des Augenscheins – sind häufig für die Aufklärung des Sachverhaltes (§ 244 Abs. 2 StPO) zur Bildung einer aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung wichtig. Ihre Authentizität ist ein wichtiges Gut. Sie darf weder durch Angeschuldigte noch durch Dritte beeinträchtigt werden. Ein Tatmesser darf nicht – versehentlich oder gewollt – durch ein anderes ausgetauscht werden. Der Inhalt einer der Akte beigelegten CD darf nicht in Verlust geraten – etwa durch ungeschützte Lagerung der CD im direkten Sonnenlicht. Präventiv können deshalb Beweismittel gem. § 94 StPO sichergestellt oder beschlagnahmt werden, um einem Beweismittelverlust wirksam zu begegnen. Diesen Schutz vor Verlust und Beeinträchtigung von sichergestellten Beweismitteln bezweckt auch § 147 Abs. 4 StPO, der eine Mitnahme in die Kanzlei- oder Wohnräume eines Verteidigers nicht zulässt.
Dieser vom Gesetzgeber verfolgte Zweck wird durch die Überlassung von Kopien auf CD gebrannter, aufgezeichneter Telefongespräche nicht berührt. Beispielsweise bliebe ein Totalverlust einer kopierten CD durch Zerstörung für die richterliche Überzeugungsbildung ohne Belang. Durch Angeschuldigte oder Verteidiger vorgenommene Veränderungen des Inhaltes der Kopien aufgezeichneter Telefongespräche blieben irrelevant, da Beweismittel die verkörperten und zur Akte gelangten Gegenstände sind und erforderlichenfalls in der Hauptverhandlung abgehört werden können. Schon deshalb überzeugt die den Sinn und Zweck des § 147 Abs. 4 StPO außer Acht lassende Auffassung des OLG Nürnberg im Beschluss vom 11.02.2015 (2 Ws 8/15, StraFo 2015, 102) nicht, elektronische Tonbandaufzeichnungen könnten nur am Ort ihrer amtlichen Verwahrung angehört werden. Da elektronische Kopien von Tonaufzeichnungen keine „Beweisstücke“ im Sinne des § 147 Abs. 4 Satz 1 StPO sind, steht der Überlassung von Kopien an Rechtsanwälte das in der Norm festgelegte Herausgabeverbot nicht entgegen.
Jedenfalls ist es im vorliegenden Einzelfall geboten, zur Gewährleistung einer angemessenen Verteidigung im Rahmen eines fairen Verfahrens Kopien zu fertigen und sie an die Verteidiger zu überlassen (vgl. BGH, Beschluss vom 11.02.2014, 1 StR 355/13, a.a.O.).
Es stehen der Fertigung von Kopien und ihre Überlassung an die Verteidiger auch keine wichtigen Gründe im Sinne des § 147 Abs. 4 Satz 1 StPO entgegen. Als solche kommen namentlich Grundrechte Dritter und das Bedürfnis nach Geheimhaltung in Betracht (vgl. auch Nr. 213 Abs. 4 RiStBV). Regelmäßig werden bei der Telekommunikationsüberwachung Gespräche mit Unverdächtigen abgehört. Das greift in das Grundrecht auf vertrauliche Information und in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 10 GG bzw. Art. 2Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein. Dieser Eingriff ist bei Verdacht schwerer Straftaten und unter bestimmten Voraussetzungen gem. §§ 100a, 100b StPO verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Er unterliegt richterlicher Kontrolle. Der durch Überwachung erfolgende Eingriff wird durch Fertigung von Kopien der CDs und ihre Überlassung an die Verteidiger allerdings intensiviert. Ihnen wird ermöglicht, mit den Angeschuldigten Inhalte von Gesprächen zur Kenntnis zu nehmen, die – womöglich – ohne Relevanz für das Verfahren sind. Dies zu erkennen ist allerdings nicht nur Aufgabe der Staatsanwaltschaft, sondern auch des Gerichts und vor allem Aufgabe der Verteidigung. Mit dem Grundsatz des fair trial und Art. 6 Abs. 3 EMRK wäre nicht zu vereinbaren, Bestandteile der dem Gericht zur Verfügung gestellten Akte der Verteidigung vorzuenthalten. Nach dem Willen des Gesetzgebers wird durch die Fertigung von CDs der Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht betroffen sein. Denn nach § 100a Abs. 4 Satz 3 StPO werden Aufzeichnungen aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung, falls sie erlangt wurden, unverzüglich gelöscht und gelangen dem Gericht deshalb nicht zur Kenntnis. Die von Verteidigern und Angeklagten zu unterzeichnenden Verpflichtungserklärungen gewähren dabei den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz Dritter in noch ausreichendem Maße, falls entgegen dieser Verpflichtung Gespräche aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung aufgezeichnet worden sein sollten.
Die Kammer kann im vorliegenden Fall nicht erkennen, dass in die Grundrechte auf vertrauliche Information und informationelle Selbstbestimmung durch ein Abhören des Gesprächsinhalts auf der Geschäftsstelle des Gerichts bedeutend geringer eingegriffen würde als durch Mitgabe der CDs in die Kanzleiräume. Durch die Verpflichtungserklärung wird gewährleistet, dass die Staatsanwaltschaft nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über die Löschung und Sperrung der Daten gem. § 101 Abs. 8 StPO entscheiden kann. Das verfassungsmäßig verbürgte Recht auf eine effektive Verteidigung würde demgegenüber unzulässig eingeschränkt, wenn die Verteidigung die Datensätze der CDs nicht zur eigenen Analyse überlassen bekäme. Das belegt schon der Bericht des Verteidigers L. vom 14.06.2015 über die in der JVA Bremen erfolgte Inaugenscheinnahme der Telefongespräche. Nach alledem stehen der Fertigung von Kopien und ihre Überlassung an die Verteidiger keine wichtigen Gründe entgegen.
II. Verfügung
1) Kopie dieser Verfügung zur Kenntnis an die Staatsanwaltschaft sowie an alle Verteidiger (per Fax)
Die Beteiligten werden auf Folgendes hingewiesen: Aller Voraussicht nach sollen die kopierten CDs am Freitag, den 19.06.2015, zur Verfügung stehen.
Die Kammer wird umgehend mitteilen, auf welchem Weg die Verteidiger die CDs wann und an welcher Stelle gegen Unterzeichnung der Verpflichtungserklärung in Empfang nehmen können.
2) Wiedervorlage sodann
Anlage:
Empfangsbestätigung und Verpflichtungserklärung
Unbeschadet der ohnehin bestehenden gesetzlichen Verpflichtungen zur Vertraulichkeit und Aktenverwahrung und –vernichtung erklärt der unterzeichnende Verteidiger unter Bezugnahme auf die „Verfügung zur Überlassung der CDs an Verteidiger und Angeschuldigte“ des Vorsitzenden der Strafkammer 4 vom 16.06.2015 vor Übergabe der 33 kopierten CDs (26 CDs mit Ergebnissen der TKÜ-Überwachung sowie 7 CDs mit Auswertungen beschlagnahmter Handys) an sich oder einen seiner Mitarbeiter Folgendes:
1) Mir ist bekannt, dass es mir überlassen ist, einzelne Dateien mit Bedeutung für das Verfahren auf meinem Rechner zur Bearbeitung zu kopieren.
2) Ich verpflichte mich, die CDs über die Erstellung von Bearbeitungskopien (Ziff. 1) hinaus nicht zu kopieren bzw. auf anderen Medien zu speichern, sie sorgsam bei mir zu verwahren und nicht unberechtigten Dritten zukommen zu lassen bzw. einen Zugriff solcher Personen zu unterbinden.
3) Nach Abschluss des Verfahrens werden die überlassenen Datenträger im Original an die StA/Gericht zurückgegeben. Zur Bearbeitung angefertigte Kopien auf dem Rechner des Verteidigers werden gelöscht werden.
4) Mir ist bekannt, dass ich berechtigt bin, die überlassenen Dateien gemeinsam mit dem von mir vertretenen Angeschuldigten in Augenschein zu nehmen, soweit notwendig in Gegenwart eines Dolmetschers bzw. einer Dolmetscherin.
5) Die Verteidigung erklärt nach Abschluss des Verfahrens, dass alle überlassenen CDs zurückgegeben wurden und weitere Kopien von Dateien nicht vorhanden sind.