AG Frankfurt – Az.: 412 Cs 166/19 – Beschluss vom 03.12.2019
Der Antrag auf Erlass eines Strafbefehls wird abgelehnt.
Die Staatskasse trägt die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten.
Gründe:
I.
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeschuldigten, einem Asylsuchenden aus dem Iran, mit dem Antrag auf Erlass eines Strafbefehls vom 06.11.2019 vor, am 09.09.2019 in Berlin und anderen Orts sich entgegen § 3 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetz (im Folgenden: AufenthG) in Verbindung mit § 48 Abs. 2 AufenthG im Bundesgebiet aufgehalten zu haben, sich ohne erforderlichen Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG im Bundesgebiet aufgehalten zu haben, obwohl er ausreisepflichtig gewesen sei und seine Abschiebung nicht ausgesetzt gewesen sei, und entgegen § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in das Bundesgebiet eingereist zu sein. Vergehen nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 und Nr. 3 AufenthG.
Im Einzelnen wird ihm zur Last gelegt: „Nachdem Sie sich zunächst von Schleusern für ein Entgelt in Höhe von 8.000,00 € und der Überlassung Ihres Reisepasses an diese, von Serbien nach Athen haben verbringen lassen, reisten Sie, nachdem Sie sich dort 14 Monate aufgehalten haben, am 09.09.2019 nach Deutschland ein. Da ihnen bewusst war, dass Sie die, für einen iranischen Staatsbürgern notwendigen Dokumente für eine legale Einreise nach Deutschland und den Aufenthalt nicht besaßen, nutzten Sie bewusst eine spanische ID-Karte, welche für eine andere Person ausgestellt worden war, um eine berechtigte Einreise vorzutäuschen. Wissentlich, dass Ihre Einreise und der Aufenthalt in Deutschland, ohne die gesetzlichen Voraussetzungen zu erfüllen strafbar sein wird, nahmen Sie das Strafbare Ihrer Handlung zur Umsetzung Ihrer Absicht, nach Deutschland zu gelangen und hier ein Asylbegehren zu äußern, in Kauf. Am 10.09.2019 gaben Sie sich den deutschen Behörden zu erkennen, äußerten, wie es Ihre Absicht vor Reiseantritt war, in Deutschland ein Asylbegehren und beantragten zugleich Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.“
Das Gericht hat die Staatsanwaltschaft unter Vorlage der Akte auf Folgendes hingewiesen: „Der Angeschuldigte ist, soweit ersichtlich, im Ermittlungsverfahren nicht als Beschuldigter zu dem im Antrag auf Erlass eines Strafbefehls erhobenen Vorwurf angehört worden. Es soll geklärt werden, weshalb so verfahren worden ist.“
Hierauf hat sich die Staatsanwaltschaft wie folgt geäußert: „Es handelt sich um eine Tat die im Hinblick auf die angedrohte Strafe (im unteren Bereich) und die Tatschwere, eine Entscheidung im gerichtlichen Hauptverfahren mit umfangreicher Beweisaufnahme nach Ansicht der Staatsanwaltschaft nicht erforderlich macht. Insoweit ist der Antrag auf Erlass eines Strafbefehls gemäß § 407 StPO zulässig und entspricht auch der strafprozessualen Verfahrensökonomie im Hinblick auf den Tatvorwurf. Soweit der Beschuldigte zum erhobenen Vorwurf nicht angehört wurde, ist der Strafbefehl aber dadurch nicht unwirksam, da der Beschuldigte durch Zustellung des Strafbefehls Einspruch einlegen und hier eine gerichtliche Hauptverhandlung verlangen kann. Insoweit orientiert sich die Staatsanwaltschaft am § 407 StPO, hierzu auch Rn. 24, Beck’sche Kurzkommentare, 62. Aufl.“
II.
Der Antrag auf Erlass eines Strafbefehls war abzulehnen, weil dem Angeschuldigten im Ermittlungsverfahren kein rechtliches Gehör gewährt worden ist.
Das beschließende Gericht ist von Rechts wegen jedenfalls berechtigt, den Antrag aus den in Rede stehenden Gründen abzulehnen. Die Vorschrift des § 408 Abs. 2 Satz 1 der Strafprozessordnung (StPO) sieht dies zwar ausdrücklich nur für den Fall vor, dass der hinreichende Tatverdacht verneint wird. Indessen können auch sonstige Gründe, die von einem eng verstandenen Begriff des hinreichenden Tatverdachts nicht erfasst werden, zur Ablehnung des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls berechtigen, wobei es sich auch um Erlasshindernisse handeln kann, die sich aus Umständen ergeben, die abgelöst von der Prüfung des hinreichenden Tatverdachtes bewertet werden können (vergleiche Gössel in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Auflage 2009, § 408, Randnummer 15). Ein Grund der letztgenannten Art besteht in aller Regel, wenn dem Angeschuldigten im Ermittlungsverfahren das rechtliche Gehör versagt wird.
Gemäß § 163a Abs. 1 Satz 1 StPO ist der Beschuldigte spätestens vor dem Abschluss der Ermittlungen zu vernehmen, es sei denn, dass, was vorliegend nicht der Fall ist, das Verfahren zur Einstellung führt. In einfachen Sachen genügt es nach § 163a Abs. 1 Satz 3 StPO, dass ihm Gelegenheit gegeben wird, sich schriftlich zu äußern.
Die zitierte Vorschrift ist nach ihrem Wortlaut nicht nur für den Fall der Anklageerhebung einschlägig, sondern auch für den Fall, dass die Staatsanwaltschaft den Erlass eines Strafbefehls beantragt. Eine Ausnahme für den letztgenannten Fall ist gesetzlich nicht vorgesehen. Die Regelung des § 407 Abs. 3 StPO, wonach es der vorherigen Anhörung des Angeschuldigten durch das Gericht (§ 33 Abs. 3) nicht bedarf, bezieht sich nur darauf, dass im gerichtlichen Verfahren vor Erlass eines Strafbefehls keine gesonderte Anhörung erforderlich ist, für die Vernehmung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren gilt, wie auch sonst, § 163a Abs. 1 StPO, eine Ausnahme für das Strafbefehlsverfahren ist in keiner Vorschrift des Strafprozessrechts vorgesehen (vergleiche Brauer in: Gercke/Julius/Temming/Zöller, Kommentar zur StPO, 6. Auflage 2019, § 407 StPO, Randnummer 28; Gössel in: Löwe-Rosenberg, Kommentar zur StPO, 26. Auflage 2009, § 407 StPO, Randnummer 65).
Das dem Beschuldigten nach § 163a StPO eingeräumte Recht auf Vernehmung im Ermittlungsverfahren findet seine Basis nicht nur im einfachen Gesetzesrecht, sondern die Vorschrift erfüllt aus verfassungsrechtlicher Sicht eine wichtige rechtsstaatliche Funktion zur effektiven Wahrung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes – im Folgenden: GG). Sie stärkt und konkretisiert ferner die Subjektstellung des Beschuldigten (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) schon im Ermittlungsverfahren. Sie erkennt seinen Anspruch auf rechtliches Gehör und seinen Beweiserhebungsanspruch schon in diesem Verfahrensabschnitt an (vergleiche Erb in: Löwe-Rosenberg, Kommentar zur StPO, 27. Auflage 2018, § 163a StPO, Randnummer 1).
Die von der Staatsanwaltschaft angeführte Möglichkeit des Einspruchs gegen den Strafbefehl kann die bei unterbliebener Anhörung im Ermittlungsverfahren gegebene Verkürzung der Beschuldigtenrechte nicht ausgleichen. Denn der Beschuldigte müsste den Einspruch erst einmal in zulässigerweise einlegen, um erstmals in der Sache Gehör zu finden, und zur Vermeidung der Verwerfung seines Einspruchs an der Hauptverhandlung teilnehmen; beides ist, wie die gerichtliche Praxis zeigt, nicht ohne Weiteres und erst recht nicht bei, wie hier, ausländischen Beschuldigten zu erwarten (vergleiche dazu Amtsgericht Kehl, Beschluss vom 23.08.2018, 2 Cs 504 Js 5348/18, Randnummer 6, zitiert nach juris), insbesondere nicht bei, wie hier, Asylsuchenden aus dem Iran, bei denen erfahrungsgemäß eine Verfolgung im Herkunftsland in Ansehung der (allgemeinkundigen) dortigen Verhältnisse, auch mit Folgen für die psychische Verfassung dieses Personenkreises, durchaus geschehen sein kann.
Die von der Staatsanwaltschaft zitierte Literaturstelle steht nicht im Gegensatz zu der hier vertretenen Auffassung. Der Umstand, dass ein in Fällen der vorliegenden erlassener Strafbefehl für nicht unwirksam erachtet wird, beantwortet nicht die hier in Rede stehende Frage, wie das Gericht den Antrag auf Erlass eines Strafbefehls zu behandeln hat oder jedenfalls behandeln darf, sondern betrifft die Situation, dass eine Strafbefehl bereits ergangen ist. Vor Erlass eines Strafbefehls ist das Gericht, wie bereits erläutert, jedenfalls berechtigt, wenn nicht gar verpflichtet, auch eine ungeschmälerte Wahrung aller Beschuldigtenrechte hinzuwirken.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO.