Oberlandesgericht Brandenburg – Az.: (1) 53 Ss 39/20 (26/20) – Beschluss vom 01.04.2020
Auf den Antrag des Angeklagten auf Entscheidung des Revisionsgerichts gemäß § 346 Abs. 2 stopp wird der Beschluss des Amtsgerichts Perleberg vom 18. November 2019 aufgehoben.
Das von dem Angeklagten eingelegte Rechtsmittel ist als Berufung zu behandeln.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Perleberg hat gegen den Angeklagten unter dem Datum des 12. Juni 2019 einen Strafbefehl wegen Beleidigung erlassen und darin eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 30,00 € festgesetzt. Im Haftbefehl wird dem Angeklagten vorgeworfen, seine damals getrennt von ihm lebende Ehefrau am … Januar 2018 in L… als „ verfickte Schlampe“ bezeichnet zu haben. Auf den Einspruch des Angeklagten hat das Amtsgericht Perleberg auf die Hauptverhandlung vom 13. August 2019 und vom 3. September 2019 den Tatvorwurf als erwiesen erachtet und gegen den Angeklagten mit Urteil vom 3. September 2019 wegen Beleidigung auf eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 20,00 € erkannt.
Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls wurde dem Angeklagten eine Rechtsmittelbelehrung erteilt. Das Hauptverhandlungsprotokoll ist erst am 31. Januar 2020 fertig gestellt worden.
Mit dem handschriftlich verfassten Schreiben vom 5. September 2019, eingegangen bei Gericht am 9. September 2019, hat der Angeklagte gegen das amtsgerichtliche Urteil „Revision“ eingelegt. Der Angeklagte bringt in dem Schreiben vor, dass er die ihm vorgeworfene Worte „niemals“ gesagt habe. Auch seien die von Staatsanwaltschaft benannten Zeugen nicht zur vermeintlichen Tatzeit vor Ort gewesen. Des Weiteren begründet der Angeklagte sein Rechtsmittel damit, dass sich die Zeugen an die ihm vorgeworfene Äußerung in der Hauptverhandlung nicht hatten erinnern können, das „verbale Wort“ sei vielmehr den Zeugen durch den Richter „förmlich“ in den Mund gelegt worden, worauf diese nur noch „ja, ja“ gesagt hätten. In der Hauptverhandlung sei die ihm vorgeworfene Beleidigung nicht bewiesen worden. „Die Verhandlung und das Urteil“ seien nicht rechtmäßig, auch nicht „die Bestrafung von 60 Tagessätzen zu 20,00 €“.
Das mit Gründen versehene schriftliche Urteil wurde dem Angeklagten zunächst am 11. Oktober 2019, dann – nach Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls – nochmals am 4. Februar 2020 förmlich zugestellt.
Das Amtsgericht Perleberg hat mit Beschluss vom 18. November 2019 „die am 09.09.2019 eingelegte Revision des Angeklagten“ als unzulässig verworfen, weil der „Revisionsführer“ das Rechtsmittel innerhalb der Monatsfrist des § 345 Abs. 1 Satz 2 StPO weder durch Schreiben eines Verteidigers oder Rechtsanwalts noch zu Protokoll der Geschäftsstelle mit Anträgen versehen und begründet habe.
Der Verwerfungsbeschluss wurde dem Angeklagten am 20. November 2019 förmlich zugestellt. Mit Schreiben vom 23. November 2019, eingegangen beim Amtsgericht Perleberg am 27. November 2019, hat der Angeklagte gegen den Verwerfungsbeschluss vom 20. November 2019 „sofortige Beschwerde“ eingelegt.
Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg hat mit Stellungnahme vom 10. März 2020 beantragt, das als Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts gemäß § 346 Abs. 2 StPO auszulegende Schreiben des Angeklagten als unbegründet zu verwerfen.
II.
1. Das Schreiben des Angeklagten vom 23. November 2019 ist gemäß § 300 StPO als Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts gemäß § 346 Abs. 2 StPO als dem einzig statthaften Rechtsbehelf auszulegen. Der Antrag ist zulässig und insbesondere fristgerecht bei Gericht angebracht worden.
2. Der Rechtsbehelf führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.
a) Nach § 346 Abs. 1 StPO kann das Tatgericht, dessen Urteil angefochten worden ist, eine gegen seine Entscheidung erhobene Revision verwerfen, wenn diese verspätet eingelegt worden ist oder die Revisionsanträge nicht rechtzeitig oder nicht in der in § 345 Abs. 1 StPO vorgeschriebenen Form angebracht worden sind.
aa) Bei den im vorliegenden Fall eingelegten Rechtsmittel des Angeklagten handelt es sich jedoch bei zutreffender – entgegen der Ansicht des Amtsgerichts erforderlicher – Auslegung nicht um eine nach § 335 Abs. 1 StPO grundsätzlich statthafte (Sprung-)Revision gegen das amtsgerichtliche Urteil, sondern um eine Berufung.
Dem Revisionsgericht obliegt bei der nach § 346 Abs. 2 StPO zu treffenden Entscheidung auch die Überprüfung, ob das Rechtsmittel als Revision oder als Berufung anzusehen ist (vgl. bereits Senatsbeschluss vom 11. Juni 2012, 1 Ws 72/12; Senatsbeschluss vom 26. März 2007, 1 Ws 10/07, zit. jeweils nach juris). Denn das Revisionsgericht vermag seiner Verpflichtung, aufgrund eines Antrags nach § 346 Abs. 2 StPO die Frage der Zulässigkeit der Revision nach allen Richtungen und ohne die dem Tatgericht in § 346 Abs. 1 StPO auferlegten Grenzen zu überprüfen, nur zu genügen, wenn es zuvor die vorrangige Frage klärt, ob überhaupt eine (Sprung-)Revision im Sinne von § 335 Abs. 1 StPO vorliegt. Nur wenn dies der Fall ist, kann das Revisionsgericht bei Verneinung der Voraussetzungen für eine Verwerfungsentscheidung nach § 346 Abs. 1 StPO diese aufheben und das angefochtene Urteil im Revisionsverfahren überprüfen. Mit einer solchen Entscheidung greift das Revisionsgericht auch nicht unzulässigerweise in die Zuständigkeit des Berufungsgerichts ein. Es bringt – falls es das Rechtsmittel als Berufung auslegt – lediglich zum Ausdruck, dass eine Revision nicht eingelegt worden ist und diese daher auch nicht als unzulässig verworfen werden durfte. Die dem Berufungsgericht vorbehaltene Entscheidung, ob das Rechtsmittel als Berufung zulässig ist, bleibt hiervon unberührt (vgl. Senatsbeschlüsse a.a.O.; OLG Hamm NJW 2004, 1469, 1470).
bb) Entgegen der Ansicht des Amtsgerichts bedurfte das eingelegte Rechtsmittel der Auslegung, wobei insbesondere zu berücksichtigen ist, dass der Angeklagte nicht rechtskundig ist, was beispielsweise daraus folgt, dass er gegen die Entscheidung vom 20. November 2019 eine „sofortige Beschwerde“ eingelegt hat.
Die Auslegung des Rechtsmittels des Angeklagten vom 5. September 2019 führt dazu, dass es sich dabei nicht um eine (Sprung-)Revision, sondern um eine Berufung gegen das amtsgerichtliche Urteil vom 3. September 2019 handelt. Dem steht die von dem nicht rechtskundigen Angeklagten gewählte Rechtsmittelbezeichnung „Revision“ nicht entgegen. Denn die Ausführungen zur Begründung, mit der insbesondere die Feststellungen des angefochtenen Urteils, die Beweiswürdigung und die Rechtfolgenentscheidung angegriffen werden und das aus Sicht des Angeklagten zugrunde liegende Tatgeschehen geschildert wird, zeigen, dass hier nicht nur die Verletzung von einzelnen Rechtsnormen gerügt, sondern das Urteil insgesamt angegriffen werden soll.
Der in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte verfassungsrechtliche Anspruch des Angeklagten auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle verpflichtet das Gericht, ein Rechtsmittel so zu deuten, dass der erstrebte Erfolg möglichst erreicht werden kann (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 16. September 2002, 2 Ss 741/02, zit. nach juris; OLG Hamm wistra 2000, 318, 319; OLG Düsseldorf MDR 1994, 676; OLG Köln MDR 1980, 690; OLG Koblenz VRS 65, 45). Bestehen Zweifel hinsichtlich des gewählten Rechtsmittels, ist das Begehren als Berufung auszulegen, weil diese gegenüber der (Sprung-)Revision die umfassendere Nachprüfung des Urteils erlaubt (vgl. OLG Hamm a.a.O.).
Bei dem bisherigen Verteidigungsverhalten der Angeklagten liegt die Wahl des Berufungsverfahrens mit seinen umfassenden Prüfungsmöglichkeiten in tatsächlicher Hinsicht näher als eine Revisionseinlegung mit dem Ziel einer bloßen Rechtskontrolle unter Verzicht auf nochmalige Tatsachenfeststellungen. Weder dem Schreiben des Angeklagten vom 5. September 2019 noch den sonstigen Umständen lassen sich Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass der Angeklagte mit dem Begriff „Revision“ rechtlich zutreffende Vorstellungen verbunden hat. Vielmehr war sein gesamtes bisheriges Verteidigungsverhalten darauf gerichtet, den Anklagevorwurf bzw. den Vorwurf aus dem Strafbefehl in tatsächlicher Hinsicht anzugreifen.
Mangels gesicherter Erkenntnisse für ein abweichendes Anfechtungsziel ist das Rechtsmittel des Angeklagten als Berufung zu behandeln.
b) Da das Rechtsmittel des Angeklagten als Berufung auszulegen ist, ist der Senat als Revisionsgericht nicht zur Entscheidung über einen Antrag nach § 346 Abs. 2 Satz 1 StPO berufen. Der angefochtene Beschluss ist jedoch aus den oben genannten Gründen zu Unrecht ergangen, so dass er aufzuheben ist; zur Klarstellung ist darüber hinaus festzustellen, dass das Rechtsmittel des Angeklagten als Berufung zu behandeln ist.
c) Da das Rechtsmittel des Angeklagten eine Berufung ist, braucht der Senat nicht auf die Problematik einzugehen, dass das Amtsgericht bereits am 18. November 2019 die vermeintliche Revision verworfen hat, wohingegen die Frist zur Begründung der Revision infolge der unwirksamen ersten Urteilszustellung erst mit Ablauf des 4. März 2020 endete.