AG Dillingen – Az.: 306 Cs 303 Js 112693/19 – Beschluss vom 29.04.2019
1. Der Erlass des beantragten Strafbefehls wird aus rechtlichen Gründen abgelehnt und das Verfahren endgültig eingestellt.
2. Der Angeschuldigte ist für die durch die Durchsuchungsmaßnahme vom 26.10.2018 erlittenen Schäden aus der Staatskasse zu entschädigen.
3. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
I. Gang der Ermittlungen
Der Angeschuldigte wurde am Abend des 26.10.2018 (sofern im Bericht der Polizei auf Bl. 2 d.A. vom 27.10.2018 gesprochen wird, liegt ein offenkundiger Tippfehler vor) hinter dem Bahnhof in D. einer polizeilichen Kontrolle unterworfen, in deren Verlauf in seiner Hosentasche fünf Druckverschlusstütchen mit insgesamt ca. 9 Gramm Marihuana sichergestellt wurden. In der Folge wurde auch seine Wohnung aufgrund telefonischer staatsanwaltschaftlicher Eilanordnung durchsucht, und dort eine Dose mit Marihuanastängeln sowie das Mobiltelefon des Angeschuldigten sichergestellt.
Bereits mit Schriftsatz vom 29.10.2018 bestellte sich Rechtsanwalt Z. unter Vorlage einer entsprechenden Vollmacht zum Verteidiger des Angeschuldigten und beantragte die Bewilligung von Akteneinsicht gegenüber der PI D.
Am 06.03.2019 wurden die polizeilichen Ermittlungen abgeschlossen und die Akten der Staatsanwaltschaft Augsburg vorgelegt.
Mit Abschlussverfügung vom 08.04.2019 schloss die Staatsanwaltschaft Augsburg die Ermittlungen ab, beantrage den Erlass eines Strafbefehls wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln und gegen den Angeschuldigten die Verhängungen einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 50,- EUR.
Mit Verfügung vom selben Tage bewilligte die Staatsanwaltschaft dem Verteidiger erstmals Akteneinsicht.
Bei Rücksendung der Akten unter dem 17.04.2019 beantragte der Verteidiger die Einräumung einer Stellungnahmefrist und wies auf die bevorstehenden Osterferien und einen Urlaub seinerseits hin.
Gleichwohl wurde ohne erneute Prüfung in der Sache die bereits am 08.04.2019 vorgenommene Abschlussverfügung der Staatsanwaltschaft Augsburg ausgeführt und die Akten gingen beim Amtsgericht Dillingen an der Donau am 26.04.2019 ein.
II. Rechtliche Erwägungen
Das Ermittlungsverfahren leidet an dem evidenten, gravierenden und unheilbaren Mangel der fehlenden Bewilligung rechtlichen Gehörs. Es war daher einzustellen.
Im Einzelnen:
1. Spätestens mit Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen besteht ein Recht des Angeschuldigten auf Gewährung von Akteneinsicht, §§ 147, 169a StPO.
§ 147 Abs. 2 StPO regelt, dass die Gewährung von Akteneinsicht ausnahmsweise bis zum Abschluss der Ermittlungen zurückgestellt werden kann, wenn andernfalls die Ermittlungen gefährdet würden. Denkbar insoweit wären Konstellationen, in denen die Kenntnis vom bisherigen Akteninhalt dem Beschuldigten nahe legen würde, einen Fluchtversuch zu unternehmen, bevor der sicher zu erwartende Haftbefehl erwirkt werden kann, oder ähnliches.
Im vorliegenden Fall liegt indes ein solcher Grund nicht vor.
2. Die Gewährung von Akteneinsicht ist kein Selbstzweck. Sie dient der Wahrnehmung des essentiellen Rechts des Beschuldigten auf ein faires Verfahren. Der Beschuldigte kann seine Verteidigungsrechte nur sinnvoll wahrnehmen, wenn er den Vorwurf und die zu seiner Überführung vorhandenen Beweismittel kennt. Sie vor ihm geheim zu halten beschneidet sein Recht auf wirksame Verteidigung. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist mit Verfassungsrang ausgestaltet und nicht nur ein Anspruch des Betroffenen selbst, sondern ein essentieller und unabdingbarer Grundsatz eines jeden rechtsstaatlichen Verfahrens. Der Anspruch ist von Amts wegen zu beachten und seine Wichtigkeit nicht zu unterschätzen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 09.07.1980, 2 BvR 701/80 = NJW 1980, 2698).
3. Diese ohne ersichtlichen sachlichen Grund unterbliebene Maßnahme kann auch nicht nachgeholt werden.
Unterlassen die Ermittlungsbehörden ohne erkennbaren Grund und sehenden Auges (aus der Verfügung vom 08.04.2019 ergibt sich, dass das Akteneinsichtsgesuch nicht etwa übersehen wurde, denn die begehrte Einsicht wurde – wenn auch zum falschen Zeitpunkt – bewilligt) die Vornahme eines verfassungsrechtlich gebotenen Beteiligung des Angeschuldigten im Ermittlungsverfahren, liegt ein derart schwerer Mangel vor, der auch durch eine Nachholung nicht mehr beseitigt werden kann. Die Wichtigkeit der in Frage stehenden Rechte des Angeschuldigten ergibt sich aus Artikel 103 GG und Artikel 6 MRK.
Dem Angeschuldigten kann nicht zugemutet werden, von diesen essentiellen Rechten erst im Zwischenverfahren Gebrauch zu machen, zumal sich seine Verteidigungsoptionen mit Fortschreiten des Verfahrens bis hin zu einer etwaigen Hauptverhandlung immer weiter verengen.
4. Von diesen essentiellen Grundsätzen kann auch im Einzelfall nicht etwas deshalb abgerückt werden, wenn – wie hier – die Beweislage relativ hart ist. Die Auffindesituation der sichergestellten Betäubungsmittel in portionsweiser Abpackung und in Bahnhofsnähe stützt grundsätzlich die Annahme der Staatsanwaltschaft, einen hinreichenden Tatverdacht für ein unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln anzunehmen. Die Frage des Tatverdachts ersetzt allerdings nicht verfassungsmäßige Rechte eines Beschuldigten im Strafverfahren.
Nach alledem war das Verfahren einzustellen und der beantragte Strafbefehl nicht zu erlassen.
III. Nebenentscheidungen
Die Kostenentscheidung ergibt sich bei Einstellung des Verfahrens aus § 467 StPO.
Die Entschädigungsentscheidung fußt auf § 2 Abs. 2 Nr. 4 StrEG und ergeht gemäß § 8 StrEG von Amts wegen ohne Antrag. Die Frage der Höhe eines etwaigen Anspruches ist dem nachgelagerten Betragsverfahren vorzubehalten, welches nur auf gesonderten Antrag durchgeführt wird.