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§ 3 Abs. 1 ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO verfassungswidrig

AG Weimar – Az.: 6 OWi 583 Js 200030/21 – Urteil vom 15.03.2021

Der Betroffene wird freigesprochen.

Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen hat die Staatskasse zu tragen.

Gründe

I.

Am 04.04.2020, einem Samstag, hielt sich der Betroffene gegen 13:15 Uhr auf einem von ihm gepachteten Gartengrundstück in A…, Ortsteil B…, zusammen mit seiner Lebensgefährtin, deren Sohn und dessen 8-jährigen Sohn auf. Die vier Personen wohnten seinerzeit in vier verschiedenen Haushalten.

II.

1. Dieser Sachverhalt steht fest aufgrund der Angaben des Betroffenen.

Das Verhalten des Betroffenen verstieß gegen § 3 Abs. 1 der Thüringer Verordnung über erforderliche Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 (ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO) vom 26.03.2020, gültig vom 27.03.2020 bis 07.04.2020. Diese Norm lautete wie folgt:

§ 3 Abs. 1: Veranstaltungen, Versammlungen, Demonstrationen, Ansammlungen und sonstige Zusammenkünfte sind verboten. Dies gilt auch für Zusammenkünfte in Kirchengebäuden, Moscheen und Synagogen sowie in Kulträumen anderer Religionsgesellschaften und Weltanschauungsgemeinschaften.

Bei der Zusammenkunft der vier Personen handelte es sich um eine Ansammlung i. S. v. § 3 Abs. 1. Unter Ansammlungen sind grundsätzlich Personenmehrheiten von mindestens drei Personen mit einem inneren Bezug oder einer äußeren Verklammerung zu verstehen (Kießling/Kießling IfSG, § 28 Rn. 38f). Um einen Widerspruch mit § 2 Abs. 1 zu vermeiden, war der Begriff aber dahingehend einschränkend auszulegen, dass das Verbot der Ansammlungen nicht für Personenmehrheiten galt, die nur aus Angehörigen eines Haushaltes bestanden. § 2 Abs. 1 lautete:

§ 2 Abs. 1: Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist nur allein, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreise der Angehörigen des eigenen Haushalts gestattet.

Die einschränkende Auslegung ist hier allerdings nicht entscheidungsrelevant, weil die vier Personen in vier verschiedenen Haushalten lebten. Ein Verstoß gegen § 2 Abs.1 kam im Übrigen nicht in Betracht, weil das von dem Betroffenen gepachtete Gartengrundstück nicht zum öffentlichen Raum gehört.

In § 3 Abs. 2-4 ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO waren Ausnahmen vom Verbot nach § 3 Abs. 1 für bestimmte Arten von Veranstaltungen, Versammlungen, Demonstrationen, Ansammlungen und sonstige Zusammenkünfte sowie für Trauerfeiern und Eheschließungen geregelt. Keine dieser Ausnahmen war aber vorliegend einschlägig.

§ 14 ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO regelte Ordnungswidrigkeiten und strafbare Handlungen. Die Norm lautete:

Die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten und strafbaren Handlungen richtet sich nach den §§ 73 bis 76 IfSG.

§ 73 IfSG wurde durch Gesetz vom 27.03.2020, also am Tag des Wirksamwerdens der Verordnung vom 26.03.2020 geändert. Bis einschließlich 27.03.2020 lautete § 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG wie folgt:

§ 73 Abs. 1a: Ordnungswidrig handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig

(1.- 23.) …

24. einer Rechtsverordnung nach § 13 Absatz 3 Satz 1, § 17 Absatz 4 Satz 1 oder Absatz 5 Satz 1, § 20 Abs. 6 Satz 1 oder Abs. 7 Satz 1, § 23 Absatz 8 Satz 1 oder Satz 2, § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 oder Abs. 2 Nr. 3 oder 5 oder § 53 Abs. 1 Nr. 2 oder einer vollziehbaren Anordnung auf Grund einer solchen Rechtsverordnung zuwiderhandelt, soweit die Rechtsverordnung für einen bestimmten Tatbestand auf diese Bußgeldvorschrift verweist.

Mit Wirkung ab 28.03.2020 lautete § 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG:

§ 73 Abs. 1a: Ordnungswidrig handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig

(1. – 23.)

24. einer Rechtsverordnung nach § 5 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 Buchstabe c bis f oder g oder Nummer 8 Buchstabe c, § 13 Absatz 3 Satz 1, § 17 Absatz 4 Satz 1 oder Absatz 5 Satz 1, § 20 Abs. 6 Satz 1 oder Abs. 7 Satz 1, § 23 Absatz 8 Satz 1 oder Satz 2, § 32 Satz 1, § 36 Absatz 8 Satz 1 oder Satz 3 oder Absatz 10 Satz 1, § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 oder Abs. 2 Nr. 3 oder 5 oder § 53 Abs. 1 Nr. 2 oder einer vollziehbaren Anordnung auf Grund einer solchen Rechtsverordnung zuwiderhandelt, soweit die Rechtsverordnung für einen bestimmten Tatbestand auf diese Bußgeldvorschrift verweist.

2. Der Betroffene war aus rechtlichen Gründen freizusprechen, weil es keinen Bußgeldtatbestand zur Ahndung eines Verstoßes gegen § 3 Abs. 1 ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO gab (III.) und weil die Norm verfassungswidrig und damit nichtig war. § 3 Abs. 1 ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO war verfassungswidrig, weil die Verordnung nicht von einem ordnungsgemäß ermächtigten Verordnungsgeber erlassen wurde (IV.), die Norm gegen das Wesentlichkeitsprinzip bzw. den Parlamentsvorbehalt verstieß (V.), die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG verletzte (VI.) und (hilfsweise) jedenfalls ein Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip vorlag (VII.). Mit Ausnahme des Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip sind diese Nichtigkeitsgründe gleichrangig, die Frage der Verhältnismäßigkeit wird nur dann relevant, wenn eine Verletzung der Menschenwürde verneint wird.

Das Gericht hatte selbst über die Verfassungsmäßigkeit der Norm zu entscheiden, weil die Vorlagepflicht gem. Art. 100 Abs. 1 GG nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 1, 184 (195ff)) nur für förmliche Gesetze des Bundes und der Länder, nicht aber für nur materielle Gesetze wie Rechtsverordnungen gilt. Über deren Vereinbarkeit mit der Verfassung hat jedes Gericht selbst zu entscheiden.

III.

Es gab keinen Bußgeldtatbestand, nach dem eine Zuwiderhandlung gegen das Verbot von Ansammlungen als Ordnungswidrigkeit hätte geahndet werden können.

In § 73 IfSG wird zwischen Zuwiderhandlungen gegen vollziehbare Anordnungen (Einzelverwaltungsakte und Allgemeinverfügungen) und Zuwiderhandlungen gegen Rechtsverordnungen unterschieden. Da § 32 Abs. 1 IfSG als Ermächtigungsgrundlage der Verordnung erst mit der Gesetzesänderung vom 27.03.2020 in den Katalog des § 73 Abs. 1 Nr. 24a IfSG aufgenommen wurde, konnte zum Zeitpunkt des Erlasses der Verordnung am 26.03.2020 nur eine Zuwiderhandlung gegen eine vollziehbare Anordnung, die hier aber nicht vorlag, gem. § 73 Abs. 1a Nr. 6 IfSG, nicht aber eine Zuwiderhandlung gegen ein Verbot der Verordnung gem. § 73 Abs. 1 Nr. 24a IfSG als Ordnungswidrigkeit geahndet werden. Dies war erst ab dem 28.03.2020 durch die Aufnahme von § 32 Abs. 1 IfSG in § 73 Abs. 1 Nr. 24a IfSG möglich. Allerdings fehlte es in § 14 ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO an der in § 73 Abs. 1a Nr. 24 geforderten Verweisung auf diese Bußgeldvorschrift für einen bestimmten Tatbestand (was nicht verwundern kann, weil am 26.03.2020 eine Ordnungswidrigkeit nach § 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG noch gar nicht in Betracht kam). Dies änderte sich erst mit der 2. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO vom 07.04.2020, gültig ab 08.04.2020, die in § 14 für insgesamt 31 aufgelistete Tatbestände der Verordnung auf § 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG verwies. Die Verwaltungsbehörde, die im Bußgeldbescheid im vorliegenden Verfahren irrtümlich § 73 Abs. 1a Nr. 6 und Nr. 11a IfSG als verletzte Bußgeldtatbestände aufgeführt hat, hätte danach auch nach dem 27.03.2020 unter der Geltung der ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO vom 26.03.2020 keine Bußgeldverfahren einleiten und Bußgeldbescheide erlassen dürfen, solange – wie hier – nur eine Zuwiderhandlung gegen ein unmittelbares Verbot der Verordnung (z.B. eine verbotene Ansammlung) und nicht gegen eine vollziehbare Anordnung (z.B. die ordnungsbehördliche Anordnung, eine verbotene Ansammlung aufzulösen und auseinanderzugehen) gegeben war.

IV.

Die Verordnung vom 26.03.2020 und damit auch § 3 Abs. 1 ist aus formellen Gründen nichtig, weil sie von einem nicht ordnungsgemäß ermächtigten Verordnungsgeber erlassen wurde. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat dies mit Urteil vom 01.03.2021 (Az. VerfGH 18/20, juris) für die Thüringer SARS-CoV-2-Maßnahmenfortentwicklungsverordnung vom 12.05.2020 entschieden, die dafür maßgebliche Begründung gilt aber nicht nur für die Verordnung vom 12.05.2020, sondern in gleicher Weise für alle vorangegangenen Thüringer Corona-Verordnungen und damit auch für die vom 26.03.2020:

Durch § 32 Satz 1 IfSG werden die Landesregierungen ermächtigt, durch Rechtsverordnungen Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Nach § 32 Satz 2 IfSG kann diese Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf andere Stellen übertragen werden. Dies ist in Thüringen mit § 7 der Thüringer Verordnung zur Regelung von Zuständigkeiten und zur Übertragung von Ermächtigungen nach dem Infektionsschutzgesetz (ThürIfSGZustVO) vom 16.03.2016, mit dem die Verordnungsermächtigung von der Landesregierung auf das für das Gesundheitswesen und Soziales zuständige Ministerium übertragen wurde, erfolgt.

Gemäß § 80 Abs. 1 S. 3 GG ist beim Erlass einer Rechtsverordnung die Rechtsgrundlage anzugeben (Zitiergebot). Dies gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 151, 173 (179)) auch für sog. subdelegierende Verordnungen, diese müssen somit die Rechtsgrundlage für die Ermächtigung zur Subdelegation angeben. Dies ist aber in der ThürIfSGZustVO nicht erfolgt, weder in der Präambel noch in § 7 ThürIfSGZustVO wird § 32 Satz 2 IfSG zitiert. Diese Missachtung des Zitiergebots führt zur Nichtigkeit des § 7 ThürIfSGZustVO (ThürVerfGH, Urteil vom 01.03.2020 – VerfGH 18/20, juris, Rn. 414) mit der Folge, dass die Zuständigkeit nicht wirksam auf das Gesundheitsministerium übertragen wurde. Dass der Verordnungsgeber somit bei Erlass der Verordnung vom 26.03.2020 ohne Ermächtigung handelte, führt wiederum zur Verfassungswidrigkeit der von ihm erlassenen Verordnung (ThürVerfGH, aaO, juris, Rn. 415).

V.

§ 3 Abs. 1 ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO ist weiterhin aus formellen Gründen verfassungswidrig, weil die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage (§ 28 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 32 Satz 1 IfSG) hinsichtlich der Regelung eines allgemeinen Ansammlungs- bzw. Kontaktverbotes nicht den Anforderungen des Parlamentsvorbehalts bzw. der Wesentlichkeitsdoktrin genügt. Das Gericht hält insoweit an der im Urteil vom 11.01.2021, Az. 6 OWi – 523 Js 202518/20, dargelegten Rechtsauffassung fest. Auf die dortigen Ausführungen (AG Weimar, Urteil vom 11.01.2021 – 6 OWi – 523 Js 202518/20 – juris, Rn. 10-30) wird umfassend Bezug genommen, wobei nachfolgende Klarstellungen angezeigt erscheinen.

Hinsichtlich der in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung, dass es im Rahmen unvorhergesehener Entwicklungen aus übergeordneten Gründen des Gemeinwohls geboten sein könne, nicht hinnehmbare gravierende Regelungslücken für einen Übergangszeitraum auf der Grundlage von Generalklauseln zu schließen und auf diese Weise selbst sehr eingriffsintensive Maßnahmen, die nach den Maßstäben der Wesentlichkeitslehre einer besonderen gesetzlichen Regelung bedürften, vorübergehend zu ermöglichen, ist klarzustellen, dass bei der Beantwortung der Frage, ob eine solche Ausnahmesituation gegeben ist, dem Verordnungsgeber keine Einschätzungsprärogative zukommt. Dies ist, soweit ersichtlich, in der Rechtsprechung bisher auch nirgends behauptet worden (vgl. die in OVG NRW, Beschluss vom 06.04.2020 – 13 B 398/20.NE – juris, Rn. 59, angegebenen Entscheidungen). So wie allein die Gerichte zu entscheiden haben, ob den Anforderungen der Wesentlichkeitslehre bei Erlass einer Verordnung Genüge getan ist und dem Verordnungsgeber insoweit kein eigener Beurteilungsspielraum zukommt, haben auch allein die Gerichte zu entscheiden, ob die Voraussetzungen für einen vorübergehenden Dispens von diesen Anforderungen vorliegen. Eine Einschätzungsprärogative kommt dem Verordnungsgeber allein im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu (dazu unter VII.).

Die Frage, ob zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit eine Situation vorlag, in der ein Rückgriff auf Generalklauseln bzw. auf für eingriffstiefe Maßnahmen nicht den Anforderungen der Wesentlichkeitslehre genügende Spezialermächtigungen (wie hier § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG) statthaft war, ist dabei auf der Grundlage des ex ante verfügbaren Wissens zu beantworten, denn die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm für einen bestimmten Zeitpunkt oder Zeitraum in der Vergangenheit darf nicht davon abhängen, wann sie vorgenommen wird. Wenngleich im Urteil vom 11.01.2021 zur Begründung der Auffassung, dass es keine epidemische Lage gab, angesichts derer es ohne die Ergreifung von einschneidenden Maßnahmen durch die Exekutive zu „nicht mehr vertretbaren Schutzlücken“ gekommen wäre, auch Argumente ex post angeführt wurden, war diese Auffassung auch hinreichend durch die ex ante verfügbaren Argumente begründet, wie sich auch aus der Verhältnismäßigkeitsprüfung (AG Weimar, aaO, juris, Rn. 48f) ergibt.

Vorliegend ist der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der 26.03.2020. Auch zu diesem Zeitpunkt war mit dem damals verfügbaren Wissen bereits erkennbar, dass keine epidemische Lage nationaler Tragweite bestand. Zur Begründung wird an dieser Stelle auf die unter VII. folgenden Ausführungen verwiesen.

Dass die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage des § 28 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 32 Satz 1 IfSG in Bezug auf die Regelung eines Ansammlungs- bzw. allgemeinen Kontaktverbotes in der Verordnung nicht den Anforderungen des Parlamentsvorbehalts bzw. der Wesentlichkeitsdoktrin genügt, führt zur Verfassungswidrigkeit der Verordnungsnorm. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage (über die allein das BVerfG zu entscheiden hätte) bestehen dagegen nicht, § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG ist ohne weiteres einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich.

VI.

Das für den öffentlichen und privaten Raum geltende Ansammlungsverbot bzw. allgemeine Kontaktverbot verletzt die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde. Das Gericht hält auch insoweit an der im Urteil vom 11.01.2021 geäußerten Rechtsauffassung fest, dass die Bewertung des allgemeinen Kontaktverbotes lediglich als Eingriff in die Allgemeine Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG der Schwere des Eingriffs nicht gerecht wird (AG Weimar, aaO, Rn. 31-38). Mit der Regelung, dass Ansammlungen bzw. der Aufenthalt im öffentlichen und privaten Raum nur noch allein, mit einer weiteren haushaltsfremden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Haushalts gestattet ist, die unabhängig davon gilt, ob der oder die Betreffende mit SARS-CoV-2 infiziert und ansteckend oder auch nur ansteckungsverdächtig ist, wird in den Kernbereich privater Lebensgestaltung eingegriffen (vgl. zum Schutz eines Kernbereichs privater Lebensgestaltung durch die Menschenwürdegarantie Maunz/Dürig/Herdegen, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 90f; BeckOK GG, Epping/Hillgruber, Art. 1 Rn. 27) und ein zum Menschen als sozialem und physischen Wesen essentiell gehörendes Verhalten – der unmittelbare, nicht durch digitale oder andere Medien vermittelte Kontakt und die persönliche Begegnung mit anderen Menschen – einem so weitreichenden Verbot unterworfen, dass, auch unter Berücksichtigung der Ausnahmen in § 3 Abs. 2 bis 4 bzw. § 2 Abs. 2 der Verordnung, gerade noch ein absolutes Minimum an physischen Sozialkontakten erlaubt bleibt. Mit diesem tiefen Grundrechtseingriff, der weder im Nationalen Pandemieplan, noch in den Pandemieplänen der Länder vorgesehen war (s.u. VII. d) und bis März 2020 in Deutschland nie als Mittel des Infektionsschutzes in Erwägung gezogen, sondern erst zu einer realen Option wurde, nachdem China in Wuhan mit einem Lockdown von großer Härte auf das Auftreten des SARS-CoV-2-Virus reagiert und Italien diese Lockdown-Politik „importiert“ hatte, wird ein zuvor als unumstößlich geltendes Tabu staatlichen Handelns verletzt. Diese Tabuverletzung wird übersprungen, wenn nur die Frage gestellt wird, ob dieses staatliche Eingriffshandeln (noch) verhältnismäßig ist (Art. 2 Abs. 1 GG), weil dann das Eingriffshandeln jedenfalls als grundsätzlich legitim betrachtet wird.

Das allgemeine Kontaktverbot ist auch im Hinblick auf den mit ihm verfolgten Zweck (vgl. zur Bedeutung der Finalität Maunz/Dürig/Herdegen, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 47; AG Weimar, aaO, Rn. 32) der Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitssystems nicht ausnahmsweise menschenwürdekonform. Dies käme nach Auffassung des Gerichts allenfalls dann in Betracht, wenn feststünde oder aus Sicht des eingreifenden Staates bei einer evidenzbasierten Beurteilung zumindest sehr wahrscheinlich wäre, dass nur unter Einsatz dieses (im Unterschied zu anderen Maßnahmen in den Kernbereich privater Lebensgestaltung eingreifenden) Mittels und nicht allein mit den bekannten, in den Pandemieplänen beschriebenen infektionshygienischen Maßnahmen (Isolierung Erkrankter, Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen, Verbot von Großveranstaltungen etc.), zu denen auch die Information der Bevölkerung und Aufrufe zu freiwilliger (!) Kontaktreduzierung gehören, eine flächendeckende Überlastung des Gesundheitssystems abgewendet werden könnte. Diese Voraussetzung war aber vorliegend nicht gegeben. Auch der Verordnungsgeber wird nicht in Abrede stellen, dass bei der Anordnung des Kontaktverbotes hinsichtlich Wirksamkeit und Erforderlichkeit nur auf Verdacht gehandelt wurde.

VII.

1. Sofern eine Verletzung der Menschenwürde verneint wird, wird durch die Norm jedenfalls unverhältnismäßig in das Grundrecht der Allgemeinen Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG eingegriffen.

An dieser Stelle soll die Argumentation für eine kurze Erläuterung unterbrochen werden. Die nachfolgende Verhältnismäßigkeitsprüfung (bei der es sich, wie schon erwähnt, um ein hilfsweises Argument, nicht um ein obiter dictum handelt) wäre unter Effizienzgesichtspunkten sicher nicht erforderlich. Danach hätte die Urteilsbegründung sogar bereits nach den Abschnitten III. und IV. beendet werden können, da schon diese Argumente kaum angreifbar erscheinen. Allerdings erscheint die Frage der Verhältnismäßigkeit der Verhängung eines Ansammlungs-/Kontaktverbotes und des damit verbundenen Lockdowns zum Zeitpunkt Ende März 2020 von besonderem Interesse, da nicht selten zu hören ist, dass jedenfalls die Verhängung des Lockdowns im März 2020 durch den/die Verordnungsgeber vertretbar gewesen sei, weil man zum damaligen Zeitpunkt noch so wenig über das Virus und den Verlauf der Pandemie gewusst habe und die Prognosen einer drohenden massiven Überlastung des Gesundheitswesens mit katastrophalen Folgen nicht von der Hand zu weisen gewesen seien. Dabei scheint diese These ihrerseits oft nur zu verdecken, dass ihre Vertreter auch jetzt nicht wissen, was man im März 2020 hätte wissen können und als Verordnungsgeber hätte wissen müssen, bevor über den Lockdown entschieden wurde. Diese Frage ist keinesfalls nur von historischem Interesse, da sich Situationen wie im März 2020 ohne weiteres in der Zukunft wiederholen können und sich dann erneut die Frage stellen kann, ob und auf welcher Entscheidungsgrundlage die Exekutive das öffentliche Leben stilllegen kann. Dies erscheint auch deshalb umso wichtiger, als die Erfahrung der letzten 13 Monate zeigt, dass der Weg in eine Lockdown-Politik hinein wesentlich leichter ist als der Weg aus der Lockdown-Politik heraus – um es zurückhaltend zu formulieren. Daher soll an dieser Stelle auch die Frage der Verhältnismäßigkeit des allgemeinen Kontaktverbotes (und des Lockdowns) zum Zeitpunkt des Erlasses der Verordnung erörtert werden.

Die Ausführungen des Gerichts zur Verhältnismäßigkeit im Urteil vom 11.01.2021 (aaO, Rn. 41-78), auf die, insbesondere auch hinsichtlich der Frage der Schäden und Kollateralschäden der Maßnahmen Bezug genommen wird, sind insofern nur eingeschränkt auf den hiesigen Fall übertragbar, als maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Frage der Verhältnismäßigkeit dort der 18.04.2020 (Tag des Erlasses der 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO) war, vorliegend aber der 26.03.2020 (Tag des Erlasses der ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO) ist und zu diesem Zeitpunkt bestimmte Daten des Robert Koch-Instituts noch nicht verfügbar waren. So wurde die Zahl der in den Vorwochen durchgeführten Tests, die es erst ermöglicht, die Zahl der Positivtests ins Verhältnis zu setzen (sog. Positivenquote) erstmals am Tag des Verordnungserlasses im Lagebericht des Robert Koch-Instituts (abends) veröffentlicht. Ebenso wurde das Epidemiologische Bulletin 17/2020 des RKI, aus dem sich ergibt, dass die effektive Reproduktionszahl R bereits vor dem Beginn des Lockdowns unter den Wert 1 sank, erstmals am 09.04.2020 in einer Online-Vorabveröffentlichung publiziert (https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/6650/17_2020_2.Artikel.pdf?sequence=1&isAllowed=y).

2.

a) Sofern die vom Gesetz- bzw. Verordnungsgeber (im folgenden nur noch „Verordnungsgeber“, der Gesetzgeber ist aber mitgemeint) vor Erlass einer Rechtsnorm durchgeführte Verhältnismäßigkeitsprüfung bekannt ist, weil sie in der amtlichen Begründung dargelegt wurde oder der Verwaltungsakte zu entnehmen ist, können die einzelnen Erwägungen zu Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit eines Grundrechtseingriffs im gerichtlichen Verfahren bei einer Vertretbarkeitsprüfung (dazu sogleich unter 3.) daraufhin überprüft werden, ob sie sich im Rahmen des dem Verordnungsgeber zukommenden Einschätzungsspielraums bewegen. Die Größe des Einschätzungsspielraums ist dabei Gegenstand der Bewertung des Gerichts, das zugleich prüfen muss, ob die Erwägungen des Verordnungsgebers vollständig sind und dieser keine wesentlichen Aspekte übersehen hat.

Ist eine in Einzelheiten überprüfbare Verhältnismäßigkeitsprüfung dagegen nicht bekannt, weil sie entweder nicht schriftlich niedergelegt wurde oder gar nicht stattgefunden hat, bleibt dem Gericht kaum etwas anderes übrig, als in einem ersten Schritt auf der Grundlage des ex ante verfügbaren Wissens die Verhältnismäßigkeit am Maßstab eigener Einschätzungen und Bewertungen zu prüfen. Kommt diese Prüfung zu einem positiven Ergebnis, kann die Prüfung beendet werden, im Negativfall ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob der Verordnungsgeber im Rahmen des ihm zuzubilligenden Einschätzungsspielraums vertretbarer Weise zu anderen Bewertungen als das Gericht hätte kommen können, so dass die Norm im Ergebnis doch als verhältnismäßig zu beurteilen ist (vgl. für einen Fall unterbliebener Verhältnismäßigkeitsprüfung durch den Verordnungsgeber: VerfGH Saarl, NVwZ-RR 2020, 514 (518)).

b) Sofern bestimmte Tatsachen und Daten (hier: die referierten Daten des RKI) einen bestimmten Schluss (hier: es drohte keine Überlastung des Gesundheitssystems) nicht nur nahelegen, sondern erzwingen, ist es nicht erforderlich, sämtliche gegenteiligen Hinweise und Quellen zu ermitteln und heranzuziehen (so aber BayVGH, Beschluss vom 24.01.2021 – 10 Cs 21.249 – abrufbar: https://www.vgh.bayern.de/media/bayvgh/presse/10_cs_21.249.pdf, S. 15). Es kommt nur darauf an, ob die Tatsachen zutreffen, die Daten stimmen und der Schluss tatsächlich zwingend ist. Insofern hat das Gericht im Urteil vom 11.01.2021 eine „Abkürzung“ gewählt, als es sich darauf beschränkt hat, die aus seiner Sicht zwingenden Argumente gegen die Annahme einer drohenden Überlastung des Gesundheitssystems bzw. einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite zu referieren und im Anschluss nur noch die Frage zu beantworten, ob der Verordnungsgeber diese Argumente unter Berücksichtigung seines Einschätzungsspielraums erkennen und berücksichtigen musste. Im Folgenden soll dagegen möglichst umfassend dargelegt werden, welches Wissen für den Verordnungsgeber zum Zeitpunkt des Verordnungserlasses verfügbar war und von ihm bei seiner Entscheidung hätte berücksichtigt werden müssen.

3. Der Umfang des dem Verordnungsgebers zuzubilligenden Einschätzungsspielraumes und die diesem entsprechende Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung ist nicht für alle Fälle der Normsetzung gleich. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu in der grundlegenden Entscheidung (Urteil vom 01.03.1979, BVerfGE 50, 290, juris, 10. Orientierungssatz) ausgeführt:

„Ungewissheit über die Auswirkungen eines Gesetzes in einer ungewissen Zukunft kann nicht die Befugnis des Gesetzgebers ausschließen, ein Gesetz zu erlassen, auch wenn dieses von großer Tragweite ist. Umgekehrt kann Ungewissheit nicht schon als solche ausreichen, einen verfassungsgerichtlicher Kontrolle nicht zugänglichen Prognosespielraum des Gesetzgebers zu begründen. Prognosen enthalten stets ein Wahrscheinlichkeitsurteil, dessen Grundlagen ausgewiesen werden können und müssen; diese sind einer Beurteilung nicht entzogen. Im einzelnen hängt die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers von Faktoren verschiedener Art ab, im besonderen von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter. Demgemäß hat die Rechtsprechung des BVerfG, wenn auch im Zusammenhang anderer Fragestellungen, bei der Beurteilung von Prognosen des Gesetzgebers differenzierte Maßstäbe zugrunde gelegt, die von einer Evidenzkontrolle (…) über eine Vertretbarkeitskontrolle (…) bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen (…).“

Nach den vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Kriterien ist vorliegend eine Evidenzkontrolle, d.h. die bloße Überprüfung, ob die Entscheidung des Verordnungsgebers nicht evident unverhältnismäßig ist, keinesfalls ausreichend. Zwar sind Prognosen zum Verlauf einer Epidemie stets mit großen Unsicherheiten verbunden, weshalb die „Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden“, begrenzt sind, was für einen weiten Einschätzungsspielraum spricht. Andererseits ist aber ein allgemeines Kontaktverbot, das zudem stets mit weiteren schwerwiegenden Eingriffen wie der Schließung von Geschäften, Gastronomie und anderen Einrichtungen einhergeht (vgl. AG Weimar, aaO, Rn. 44), ein so schwerwiegender Grundrechtseingriff, dass hier eine Evidenzkontrolle nicht genügen kann, sondern die Entscheidung des Verordnungsgebers zumindest einer Vertretbarkeitskontrolle unterworfen werden muss (ebenso ThürVerfGH, Urteil vom 01.03.2021 – VerfGH 18/20 – juris, Rn. 430-432).

Das Bundesverfassungsgericht konkretisiert diese Vertretbarkeitskontrolle folgendermaßen (BVerfGE 50, 290, juris, Rn. 113):

„Dieser Maßstab verlangt, dass der Gesetzgeber sich an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung des erreichbaren Materials orientiert hat. Er muss die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausgeschöpft haben, um die voraussichtlichen Auswirkungen seiner Regelung so zuverlässig wie möglich abschätzen zu können und einen Verstoß gegen Verfassungsrecht zu vermeiden. Es handelt sich also eher um Anforderungen des Verfahrens. Wird diesen Genüge getan, so erfüllen sie jedoch die Voraussetzungen inhaltlicher Vertretbarkeit; sie konstituieren insoweit die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, …“

Vorliegend sind daher die Fragen zu beantworten, was das dem Verordnungsgeber „erreichbare Material“ bzw. die ihm „zugänglichen Erkenntnisquellen“ vor Erlass der Verordnung vom 26.03.2020 waren und ob die Anordnung eines allgemeinen Kontaktverbots in der Verordnung auf einer „sachgerechten und vertretbaren Beurteilung“ dieses Materials beruhte.

4. Um zu überprüfen, welche Erkenntnisquellen der Verordnungsgeber genutzt hat und zu welchen Beurteilungen er gelangt ist, hat das Gericht die Verwaltungsakte zu der Verordnung vom 26.03.2020 vom Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie angefordert und in Kopie erhalten. Diese Akte beinhaltet die unterzeichnete Verordnung, die dazugehörige amtliche Begründung, eine Kopie der Veröffentlichung im Gesetz- und Verordnungsblatt vom 31.03.2021 und eine Medieninformation vom 26.03.2020. Es handelt sich danach um eine reine Ergebnisdokumentation. Welche Erkenntnisquellen bei der Erarbeitung der Verordnung herangezogen wurden, von welcher konkreten Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung und für das Gesundheitssystem ausgegangen wurde, ob, und wenn ja, welche Überlegungen zur Wirksamkeit einzelner Maßnahmen angestellt wurden, ob unmittelbare Schäden und Kollateralschäden der Maßnahmen abgeschätzt wurden und wie die einzelnen Belange im Rahmen der Abwägung gewichtet wurden, ist dagegen nicht dokumentiert. Dies ist mindestens ungewöhnlich (In Bayern wurde in einem Verfahren von der Landesregierung sogar mitgeteilt, dass gar keine Behördenakte zu einer Corona-Verordnung angelegt worden sei, vgl. dazu https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-coronavirus-ausgangsbeschraenkungen-klage-1.5027566 und https://www.br.de/nachrichten/bayern/staatsregierung-keine-akten-zu-corona-beschluessen,SA6NyUL). An schriftlichen Dokumenten bleibt daher allein die amtliche Begründung, um etwas über die Erwägungen des Verordnungsgebers zu erfahren. Relevant sind insoweit die ersten beiden Absätze:

„Das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 stellt die gesamte Gesellschaft und das Gesundheitssystem vor enorme Herausforderungen. Es besteht weltweit, deutschland- und thüringenweit eine sehr dynamische und ernstzunehmende Situation mit starker Zunahme der Fallzahlen innerhalb weniger Tage. Die Weltgesundheitsorganisation hat die Ausbreitung des Virus und die dadurch hervorgerufenen (sic!) Erkrankung COVID-19 am 11. März 2020 als Pandemie eingestuft.

Die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland wird derzeit insgesamt als hoch eingeschätzt. COVID-19 ist sehr infektiös. Besonders ältere Menschen und solche mit vorbestehenden Grunderkrankungen sind von schweren Krankheitsverläufen betroffen und können an der Krankheit sterben. Da derzeit weder eine Impfung noch eine spezifische Therapie zur Verfügung stehen, müssen alle Maßnahmen ergriffen werden, um die weitere Ausbreitung des Virus zu verzögern. Ziel ist es, durch eine Verlangsamung des Infektionsgeschehens die Belastung für das Gesundheitswesen insgesamt zu reduzieren, Belastungsspitzen zu vermeiden und die medizinische Versorgung sicherzustellen. Die Landesregierung und die Gesundheitsbehörden haben dazu bereits zahlreiche Maßnahmen eingeleitet.“

Aus dieser Begründung ergibt sich, dass das Ziel der Maßnahmen die Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitssystems war. Näheres zur Gefahreneinschätzung, Überlegungen zur Wirksamkeit der Maßnahmen und eine Abwägung von mutmaßlichem Nutzen und Kosten ist der Begründung nicht zu entnehmen. Die Formulierung, dass „alle Maßnahmen ergriffen werden“ müssen, spricht vielmehr dafür, dass nähere Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit nicht für erforderlich gehalten wurden.

Aufgrund des Inhalts der Behördenakte und der Erwägungen in der amtlichen Begründung kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass die vom Bundesverfassungsgericht formulierten Anforderungen an das Verfahren (s.o., BVerfGE 50, 291, juris, Rn. 113) vom Verordnungsgeber nicht erfüllt wurden (Es erscheint im übrigen aber auch zweifelhaft, inwieweit ein einzelnes Fachministerium eine umfassende Ermittlung der von den Maßnahmen der Verordnung betroffenen vielfältigen Belange, des Grades ihrer Betroffenheit und eine sachgerechte Abwägung am Maßstab des Grundgesetzes überhaupt leisten können soll; vgl. dazu Heinig/Kingreen/Lepsius/Volkmann/Wißmann, Why Constitution Matters – Verfassungsrechtswissenschaft in Zeiten der Corona-Krise, JZ 2020, S. 861, 866). Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Kontaktverbot bereits aus diesem Grund unverhältnismäßig wäre, es könnte bei unterbliebener Verhältnismäßigkeitsprüfung des Verordnungsgebers auch zufällig verfassungsgemäß sein (Allerdings darf der Verordnungsgeber die Frage nicht dem Zufall überlassen, andernfalls verstößt er gegen seine Bindung an das Grundgesetz aus Art. 20 Abs. 3 GG und handelt damit verfassungswidrig; Murswiek, Verfassungsrechtliche Probleme der Corona-Bekämpfung. Stellungnahme für die Enquete-Kommission 17/2 „Corona-Pandemie“ des Landtags Rheinland-Pfalz, S. 40, https://dokumente.landtag.rlp.de/landtag/vorlagen/2-12-17.pdf).

5. Die vom Verordnungsgeber zu klärenden Fragen betreffen zunächst die Einschätzung der Gefahrenlage („Gefahrenprognose“), daran anschließend ggf. die Frage nach geeigneten und erforderlichen Mitteln zur Gefahrenabwehr (die sog. „Maßnahmen“) und schließlich die Angemessenheit des Einsatzes der einzelnen Maßnahmen und der Maßnahmen im Ganzen.

Die Erkenntnisquellen, die dem Verordnungsgeber zur Beantwortung der Frage nach der Gefahrenlage zugänglich waren, lassen sich dabei unterteilen in (a) empirische Daten, (b) Modellierungsstudien und (c) mündliche Äußerungen und Stellungnahmen von Experten.

a)

aa) Die maßgebliche Grundlage für die „Maßnahmen“ waren im März 2020 (und sind es bis heute unter der Bezeichnung Inzidenzzahlen) die sog. Corona-Fallzahlen. Dabei handelt es sich um die Meldezahlen der positiven PCR-Tests. Die „Zunahme der Fallzahlen“ wird auch in der amtlichen Begründung der Verordnung als Hinweis auf „eine sehr dynamische und ernstzunehmende Situation“ gewertet. Getestet werden sollten im März 2020 nach den Vorgaben des Robert Koch-Instituts nur Menschen, die respiratorische Symptome zeigten und entweder Kontakt zu einem bestätigten COVID-19-Fall hatten oder in der Pflege, einer Arztpraxis oder im Krankenhaus tätig waren oder einer Risikogruppe zugehörten. Außerdem sollte bis zum 24.03.2020, als diese Bedingung aufgegeben wurde, eine Testung nur erfolgen, wenn sich der Betreffende in einem Risikogebiet aufgehalten hatte (vgl. hier: https://www.ptaheute.de/corona-pandemie/corona-tests/covid-19-neue-kriterien-fuer-den-test). Schon allein aufgrund dieser restriktiven Voraussetzungen ergibt sich, dass es eine erhebliche Dunkelziffer nicht gefundener Fälle geben musste, was auch allgemein bekannt war. (Laut einem Artikel der Tagesschau vom 19.03.2020 schätzte das RKI die Zahl der tatsächlichen Fälle etwa vier- bis elfmal höher als die registrierten: https://www.tagesschau.de/faktenfinder/letalitaet-coronavirus-101.html). Daher war auch offenkundig, dass die Zahl der Positivtests steigen musste, je mehr getestet wurde, so dass aus einer Zunahme der Positivtests kein Schluss auf die Entwicklung des Infektionsgeschehens gezogen werden konnte, solange man nicht zumindest wusste, wie viele Tests insgesamt durchgeführt wurden. Der Verordnungsgeber hätte sich daher, um die Testpositivzahlen überhaupt einordnen zu können, um Informationen zur Zahl der durchgeführten Tests bemühen müssen, zumal auch der Präsident des Robert Koch-Instituts Lothar Wieler in der Pressekonferenz vom 23.03.2020 erklärt hatte, dass die Testkapazität kontinuierlich erhöht werde (https://www.youtube.com/watch?v=QUxBikdLrHo bei 14:12 min). Die Zahl der durchgeführten Tests wurde vom RKI, wie bereits erwähnt, erst am 26.03.2020 erstmals veröffentlicht (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-03-26-de.pdf?__blob=publicationFile, S. 6). Auf eine Anfrage des Online-Magazins Multipolar vom 23.03.2020 an das Robert Koch-Institut und das Bundesgesundheitsministeriums antwortete das Bundesgesundheitsministerium, dass es keine Meldepflicht für Tests gäbe, weshalb dem Ministerium die Gesamtzahl aller in Deutschland vorgenommenen Tests nicht vorliegen würde. Bundesgesundheitsminister Spahn hatte schon am 07.03.2020 in einem Interview der BILD-Zeitung erklärt: „Bisher müssen nur Tests gemeldet werden, bei denen das Coronavirus gefunden wird. Das will ich ändern. Künftig sollen auch Tests gemeldet werden, bei denen keine Infektion gefunden wird. Das hilft, die Lage insgesamt besser einzuschätzen.“ (https://www.bild.de/bild-plus/politik/inland/politik-inland/der-grosse-corona-gipfel-das-droht-deutschland-und-darauf-kommt-es-jetzt-an-69261020,view=conversionToLogin.bild.html). Das RKI verwies auf diese Anfrage von Multipolar an die Kassenärztliche Bundesvereinigung (https://multipolar-magazin.de/artikel/coronavirus-irrefuhrung-fallzahlen). Dem Stern hatte die Kassenärztliche Bundesvereinigung als Ergebnis einer Schnellauswertung mitgeteilt, dass in der 10. Kalenderwoche (02.03. – 08.03.) 35.000 Tests und in der 11. (09.03. – 15.03.) mehr als 100.000 Tests durchgeführt worden seien (https://www.stern.de/gesundheit/covid-19–so-oft-wird-wirklich-auf-das-coronavirus-getestet-9189186.html). Der betreffende Artikel erschien bereits am 19.03.2020 (online) und war zweifelsohne auch für den Verordnungsgeber erreichbar, im Übrigen kann davon ausgegangen werden, dass der Verordnungsgeber auf Nachfrage beim RKI zumindest an die Kassenärztliche Bundesvereinigung verwiesen worden wäre und von dort dieselbe Auskunft wie der Stern erhalten hätte.

Im Hinblick auf die Antwort des RKI auf die Anfrage des Onlinemagazins Multipolar ist vollkommen unerklärlich, dass RKI-Präsident Wieler am 18.03.2020 im Pressebriefing erklärt hatte: „Wir haben ein exponentielles Wachstum. Um das klarzumachen: Wir sind am Anfang einer Epidemie, die noch viele Wochen und Monate in unserm Land unterwegs sein wird.“ (https://www.youtube.com/watch?v=RDUBQL5eJLI bei 2:11 min). Dass er damit eine drohende nationale Katastrophe meinte, wurde zwei Tage später, am 20.03.2020, deutlich, als Wieler erklärte er: „Wir alle sind in einer Krise, deren Ausmaß ich mir nie hätte vorstellen können.“ (https://www.welt.de/vermischtes/article206670257/RKI-zu-Corona-Krise-deren-Ausmass-ich-mir-nie-haette-vorstellen-koennen.html).

Diese Äußerungen hatten keine empirische Grundlage. Als Wissenschaftler und als Präsident der Bundesoberbehörde, die maßgeblich zur Einschätzung epidemischer Risiken berufen ist (§ 4 IfSG), hätte Wieler – sofern das RKI tatsächlich die wenige Tage später Multipolar empfohlene Nachfrage bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung selbst nicht durchgeführt und deshalb nicht einmal ungefähre Angaben zur Entwicklung der Testzahlen hatte – nicht mehr sagen können, als dass es aktuell einen starken Anstieg der Positivtests gebe, man dies aber noch nicht einordnen könne, da dafür zumindest die Gesamtzahl der Tests bekannt sein müsste, was gegenwärtig noch nicht der Fall sei.

Es gehört wohl nicht viel Spekulation zu der Annahme, dass die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten am 22.03.2020 kein allgemeines Kontaktverbot und keinen Lockdown beschlossen hätten, wenn Wieler sich in dieser Weise geäußert hätte.

Da diese durch empirische Daten nicht gedeckten Äußerungen Wielers auch in der Folge vom RKI nie korrigiert wurden, stellen sich bereits an dieser Stelle Fragen nach der Verlässlichkeit der fortlaufenden Risikoeinschätzungen des RKI. Wenn von den Verwaltungs- und Verfassungsgerichten wiederholt in Verfahren betreffend Corona-Verordnungen festgestellt wurde, es bestünden keine Anhaltspunkte, dass die Einschätzungen des RKI fehlerhaft seien (für alle ThürVerfGH, aaO, Rn. 436), weshalb auch nicht zu beanstanden sei, dass die Verordnungsgeber sich auf die Risikoeinschätzung des Robert Koch-Instituts stützten, ist daher darauf hinzuweisen, dass der RKI-Präsident schon am 18. und 20.03.2020 mit seinen Äußerungen diese Anhaltspunkte geliefert hat.

Dass die Fallzahlen allein keineswegs einen Schluss auf ein (exponentielles oder auch nur lineares) Wachstum der Neuinfektionen in der 11. oder 12. Kalenderwoche zuließen und der RKI-Präsident seine Behauptung des exponentiellen Wachstums auch gar nicht begründete, sondern sich lediglich auf die steigenden Fallzahlen bezog, hätte auch der Verordnungsgeber ohne weiteres erkennen können und müssen, weil dafür keine Sachkunde zu infektiologischen und epidemiologischen Sachverhalten erforderlich war (a. A. BayVGH, Beschluss vom 24.01.2021 – 10 CS 21.249 – https://www.vgh.bayern.de/media/bayvgh/presse/10_cs_21.249.pdf; vgl. auch OVG Thüringen, Beschluss vom 28.01.2021 – 3 EN 22/21 – juris, Rn. 60 und Beschluss vom 02.02.2021 – 3 EN 21/21 – juris, Rn. 61).

bb) Zu den dem Verordnungsgeber verfügbaren empirischen Daten gehören auch die Influenza-Wochenberichte der Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI) beim RKI. In diesen Berichten werden aktuelle Daten zum Zirkulieren von Atemwegserkrankungen in der Bevölkerung, die in verschiedenen, seit Jahren etablierten Surveillance- (Beobachtungs-) Systemen erhoben werden, veröffentlicht. In der virologischen Surveillance werden dabei im Nationalen Referenzlabor von Arztpraxen (sog. Sentinelpraxen) eingesandte sog. Sentinelproben auf respiratorische Viren untersucht. Seit der 9. Kalenderwoche wurde diese Untersuchung auch auf SARS-CoV-2 ausgedehnt. RKI-Vizepräsident Lars Schaade teilte dies in einer Pressekonferenz vom 12.03.2020 mit und erklärte dazu: „Wir ziehen damit praktisch eine Stichprobe aus der Bevölkerung von Menschen mit Atemwegsinfektionen, um zu schauen, inwieweit sich das neue Virus in der Bevölkerung schon verbreitet hat.“ (https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/111008/SARS-CoV-2-erstmals-in-Sentinelprobe-nachgewiesen).

Dabei wurden in der 9. KW (22.02.-28.02.2020; der Influenza-Wochenbericht zählt immer von Samstag bis Freitag) in 131 von 213 Sentinelproben respiratorische Viren festgestellt, davon in 82 Influenzaviren (Influenza-Positivenrate von 38%), aber kein SARS-CoV-2 (https://influenza.rki.de/Wochenberichte/2019_2020/2020-09.pdf).

In der 10. KW (29.02.-06.03.2020) wurden in 152 von 250 Sentinelproben respiratorische Viren festgestellt, davon in 106 Influenzaviren (Influenza-Positivenrate von 42%) und in einer (1) SARS-CoV-2 (https://influenza.rki.de/Wochenberichte/2019_2020/2020-10.pdf).

In der 11. KW (07.03.-13.03.2020), Bericht veröffentlicht am 18.03.2020, wurden in 106 von 214 Sentinelproben respiratorische Viren festgestellt, davon in 66 Influenzaviren (Influenza-Positivenrate von 31%) und in einer (1) von 192 Proben SARS-CoV-2. (https://influenza.rki.de/Wochenberichte/2019_2020/2020-11.pdf.) Der Bericht für die 11. KW enthält auch die Mitteilung, dass in der 10. KW die Gesamtzahl stationär behandelter Fälle mit schweren akuten respiratorischen Infektionen (SARI-Fälle), zu denen auch COVID-19-Erkrankungen zählen, leicht gesunken war.

In der 12. KW (14.03.-20.03.2020, Bericht veröffentlicht am 25.03.2020) wurden in 85 von 204 Sentinelproben respiratorische Viren festgestellt, davon in 40 Influenzaviren (Influenza-Positivenrate von 20%) und in 3 von 193 untersuchten Proben SARS-CoV-2 (https://influenza.rki.de/Wochenberichte/2019_2020/2020-12.pdf). Der Bericht für die 12. KW enthält auch die Mitteilung, dass in der 11. KW die Gesamtzahl stationär behandelter Fälle SARI-Fälle weiter gesunken war.

SARS-CoV-2 bewegte sich damit in den Sentinelproben der AGI bis zur 12. Kalenderwoche praktisch an der Nachweisgrenze (dies änderte sich auch in den Folgewochen nicht: 13. KW: zweimal SARS-CoV-2, 14. KW: einmal SARS-CoV-2 in den Proben).

Am 25.03.2020 wurden erstmals Daten aus dem Influenza-Wochenbericht auch im Täglichen Lagebericht zu COVID-19 veröffentlicht. Sofern der Verordnungsgeber bis dahin die Influenza-Wochenberichte nicht verfolgt hätte (was nach Auffassung des Gerichts jedenfalls aufgrund der Pressekonferenz des RKI-Vizepräsidenten vom 12.03.2020 von erwartet werden konnte), wäre er somit spätestens an diesem Tag darauf gestoßen (angesichts der unsicheren Beurteilung der Situation und der gravierenden Entscheidungen, die getroffen wurden bzw. noch getroffen werden sollten, musste er die Lageberichte auch täglich auswerten). Der Lagebericht vom 25.03.2020 enthält außerdem die Information, dass die Rate Influenza-ähnlicher Erkrankungen (ILI-Rate), zu denen auch COVID-19 zählt, nach den Daten des GrippeWeb in der 12. KW 2020 im Vergleich zur Vorwoche deutlich zurückgegangen war.

cc) In den Lageberichten des Robert Koch-Instituts befand sich seit dem allerersten vom 04.03.2020 täglich eine Grafik zum Erkrankungsbeginn, bei der die gemeldeten Positivtests in zeitlicher Reihenfolge nach – soweit bekannt – Erkrankungsbeginn und – soweit unbekannt – nach dem Meldedatum, das ist das Datum, an dem das Gesundheitsamt (nicht das RKI) Kenntnis über den Fall erlangt und ihn elektronisch erfasst hat, geordnet wurden. Sofern kein Datum des Erkrankungsbeginns bekannt ist, kann dies laut der Erläuterung der Grafik im Bericht auch daran liegen, dass es sich um symptomlose Fälle handelte.

Anfangs war diese Grafik aufgrund der geringen Test- bzw. Fallzahlen noch wenig aussagekräftig, dies änderte sich aber mit zunehmenden Fallzahlen, wobei die Daten für die jeweils letzten 4 bis 5 Tage vor dem Veröffentlichungsdatum aufgrund des Übermittlungsverzuges (Nachmeldungen für diese Tage in den folgenden Tagen) zunächst noch deutlichen, mit zunehmendem zeitlichen Abstand vom Veröffentlichungsdatum geringer werdenden und ab dem 6. Tag vor Veröffentlichungsdatum nur noch ganz geringfügigen Veränderungen unterlagen. Lässt man die Verzerrung der Kurve durch Veränderungen bei den Testzahlen (dazu sogleich) zunächst unberücksichtigt, ist bis zum Lagebericht vom 20.03.2020 https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-03-20-de.pdf?__blob=publicationFile; Abb. 2 S. 3) der Kurvenverlauf mit der These einer steigenden Zahl von Neuerkrankungen noch in Einklang zu bringen, wobei ein exponentieller Anstieg allerdings nicht zu erkennen ist. Am 21.03. legt die Kurve erstmals die These nahe, dass der Höhepunkt der Neuerkrankungen bereits überschritten sein könnte (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-03-21-de.pdf?__blob=publicationFile; Abs. 2 S. 3). Dies verfestigt sich in den folgenden Tagen weiter und spätestens am 25.03. erscheint dies kaum noch zweifelhaft: Nur die Fälle betrachtet, bei denen der Erkrankungsbeginn bekannt ist (= blaue Balken), wurde der Höhepunkt der Kurve bereits am 13.03. erreicht, bekannter Erkrankungsbeginn und hilfsweise Meldedatum aufsummiert (blaue und gelbe Balken) liegt der Höhepunkt am 16./17.03.2020. Die Folgetage 18., 19. und 20.03.2020, bei denen die aufsummierten Zahlen (blaue und gelbe Balken zusammenbetrachtet) geringer sind als am 16./17.03. liegen schon so weit gegenüber dem 25.03. zurück, dass nicht mehr so viele Nachmeldungen zu erwarten sind, dass diese Tage den 16./17.03. noch „überholen“ könnten. (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-03-25-de.pdf?__blob=publicationFile; Abb. 3 S. 4).

Auch hier bedurfte es keiner epidemiologischen Fachkenntnisse, um die Grafiken, die, wie die Lageberichte überhaupt, der Information der Politik, der Verantwortlichen im Gesundheitswesen und der Bevölkerung dienen sollten, zu „lesen“. Die Grafik des Erkrankungsbeginns, die zu den dramatischen Warnungen des RKI-Präsidenten überhaupt nicht passte, wurde im Übrigen nie in den Pressekonferenzen des Robert Koch-Instituts präsentiert.

Zu berücksichtigen ist bei der Interpretation der Kurve aber noch, dass sie durch eine geänderte Teststrategie („Wer wird getestet?“) und die Veränderung der Anzahl der Tests verzerrt wird. Die Teststrategie blieb allerdings bis zum 24. März unverändert (s.o. aa)), die Änderung danach war nur geringfügig und erfolgte nach dem hier betrachteten Zeitraum. Die Steigerung der Testzahlen (vom Beginn bis einschließlich 10. KW: 124.716 Tests, 11. KW: 127.457 Tests, 12. KW: 348.619 Tests, 13. KW: 361.515 Tests, 14. KW 408.348 Tests) bewirkt allerdings eine deutliche Verzerrung der Kurve, da mehr Tests zu mehr Positivtests führen. Dieser Effekt ist in der Grafik der Erkrankungen nicht „herausgerechnet“ (dies wäre auch exakt nur möglich, wenn die Zahl der Tests und die Ergebnisse dieser Tests taggenau bekannt wären). Der durchgängige Anstieg der Testzahlen von der 10. bis zur 14. KW lässt dabei aber den sicheren Schluss zu, dass einem fallenden Verlauf der Kurve auf jeden Fall ein fallender Verlauf der Neuinfektionen entspricht und der Höhepunkt der Neuerkrankungen früher gewesen sein muss, als der Kurve zu entnehmen, denn durch den Anstieg der Testzahlen wurde ein Absinken der tatsächlichen Neuinfektionen (teilweise) kompensiert oder überkompensiert. Auch für den Verordnungsgeber war dieser Zusammenhang erkennbar, da er zumindest wusste, dass die Testzahlen gesteigert wurden.

Nach dem Gesagten greift der Einwand, mangels Testung von repräsentativen Stichproben der Bevölkerung könnten aus den Daten des Robert Koch-Instituts keine Schlüsse auf die Entwicklung des Infektionsgeschehens gezogen werden (so H. E. Müller, Beck-Blog v. 24.01.2021, abrufbar: https://community.beck.de/2021/01/24/ag-weimar-kontaktverbot-als-massnahme-gegen-die-verbreitung-des-covid19-virus-ist-verfassungswidrig), nicht durch. Richtig daran ist, dass ohne Testung repräsentativer Stichproben nicht gesagt werden kann, wie viele Infizierte es tatsächlich gibt, die Dunkelziffer also nur geschätzt werden kann. Die Dunkelziffer muss aber nicht bekannt sein, um aus den erhobenen Daten Schlüsse auf den Verlauf der Epidemie (die Entwicklung der Zahl der Neuinfektionen) zu ziehen. Voraussetzung dafür ist lediglich, dass die Daten Repräsentativität bezogen auf die Gesamtheit der infizierten Personen beanspruchen können. Davon kann ausgegangen werden, wenn in der Breite getestet wird (das war spätestens ab der 10. Kalenderwoche der Fall) und die Teststrategie weitgehend gleichbleibend ist. Außerdem muss die Entwicklung der Testzahlen (natürlich möglichst genaue Zahlen) bekannt sein, damit Verzerrungen durch die Veränderung der Testzahlen berücksichtigt werden können.

Auch die Positivenquote, die erstmals am 26.03.2020 veröffentlicht wurde, so dass sie bei Verordnungserlass noch nicht bekannt war, sondern allenfalls im Rahmen der fortlaufenden Beobachtungs- und Überwachungspflicht des Verordnungsgebers berücksichtigt werden konnte, ermöglicht wichtige Schlüsse auf den Verlauf der Epidemie. Da im März nur symptomatische Personen getestet werden sollten – wobei davon auszugehen ist, dass diese Vorgabe des RKI wenn nicht vollständig, so doch weitgehend eingehalten wurde – bedeutet eine Positivenquote von 5,9% (11. KW), dass bei 1000 getesteten symptomatischen Personen bei 59 der PCR-Test positiv war (Zu der Frage, warum die Positivenquote deutlich höher war als in den Sentinelproben der AGI, kann das Gericht allenfalls Mutmaßungen anstellen). Der Anstieg der Positivenquote von 5,9% auf 6,8% in der 12. KW (um 15 %) bedeutet nun nicht, dass die Zahl der Neuinfizierten um 15% gestiegen wäre (Nur aus Gründen sprachlicher Vereinfachung werden an dieser Stelle Testpositive und Infizierte gleichgesetzt; dem Gericht ist bewusst, dass ein positiver PCR-Test nicht notwendig bedeutet, dass der Betreffende infiziert oder infektiös ist; so bereits OVG NRW, Beschluss vom 25.11.2020 – 13 B1780/10.NE – juris, Rn. 47; https://dgn.org/neuronews/journal_club/vorhersage-der-infektiositaet-von-sars-cov-2-bei-positiver-pcr/), denn es handelt sich nur um eine relative Steigerung bezogen auf die getesteten symptomatischen Personen, die abhängig ist von der Zirkulation der anderen Atemwegsviren (Influenzaviren, Rhinoviren, bekannte humane Coronaviren, Parainfluenzaviren) in der Bevölkerung. Da die Influenzawelle laut RKI von der 11. auf die 12. KW stark zurückging, kann der relativen Zunahme von 5,9% auf 6,8% SARS-CoV-2 auch ein Rückgang der absoluten Infektionszahlen entsprechen, der nur nicht sichtbar wird, weil der Influenza-Anteil am „Gesamtmix“ stärker sank. Ein starker exponentieller Anstieg dagegen könnte sich hinter einer relativen Steigerung von nur 15% nur dann „verstecken“, wenn auch die Erkrankungen mit anderen Atemwegsviren im selben Zeitraum stark angestiegen wären. Dass dies nicht der Fall war, sondern die ILI-Erkrankungen vielmehr zurückgingen, wurde aber bereits festgestellt.

Hinsichtlich der Aussagekraft der Daten des RKI herrscht somit keineswegs die Nacht, in der alle Katzen grau sind und in der sich aus den Daten keine wichtigen Schlüsse für den Verordnungsgeber hätten ergeben können.

H. E. Müllers Anmerkung lässt es im Übrigen angezeigt erscheinen, daran zu erinnern, dass Kritik und Skepsis bisher als Tugenden aufklärerischen Denkens galten. In der Corona-Krise werden diese Begriffe dagegen umstandslos benutzt, um Vertreter einer kritischen Position gegenüber der Corona-Politik der Bundes- und Landesregierung(en) unter Umgehung einer argumentativen Auseinandersetzung als „Corona-Kritiker“ bzw. „Corona-Skeptiker“ ins diskursive Abseits zu stellen. Wenn „skeptische Wissenschaftler“ ein Begriff ist, mit dem Wissenschaftler diffamiert werden können, mag man fragen, was der positive Gegenbegriff dazu sein soll. Und wenn sachliche Argumente in einem Urteil mit dem Etikett „Behauptungen der Corona-Skeptiker“ versehen werden, um sie auf diese Weise ohne inhaltliche Diskussion erledigen zu können, zeigt das nur, dass auch der juristische Diskurs von den schweren Beschädigungen der öffentlichen Debatte in der Corona-Krise nicht verschont geblieben ist (vgl. dazu Lepsius, Das verfassungsrechtliche Argument hat es schwer, abrufbar: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/corona-verfassungsrecht-kritik-hirte-kingreen-tweet-rechtswissenschaft-bundestag-experten/).

dd) Für den Verordnungsgeber war auch erkennbar, dass der Rückgang der Neuinfektionen nicht die Wirkung der bereits getroffenen Maßnahmen sein konnte. Bereits ohne Berücksichtigung der zeitlichen Verzerrung durch die Steigerung der Testzahlen war nach der Kurve des Erkrankungsbeginns der Höhepunkt der Neuerkrankungen am 17./18. 03. erreicht, der Höhepunkt der Neuinfektionen bei einer Inkubationszeit von 5 Tagen danach am 12./13.03. In Thüringen wurde erst mit Erlass der Gesundheitsministerin vom 13. März die Schließung der Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 Nr. 1-5 IfSG ab dem 17. März verfügt (https://bildung.thueringen.de/fileadmin/2020/2020-03-13-allgemeinverfuegung-tmasgff.pdf), die Schließung von Einrichtungen wie Kinos, Theater, Clubs etc. und die Beschränkung des Betriebs von Gaststätten u.a. erfolgte zum 18. März (https://www.tsbev.de/fileadmin/user_upload/Newsdateien/2020/Erlass_Corona-20200316.pdf). Auch im übrigen Bundesgebiet wurden die Gemeinschaftseinrichtungen erst zum 16. März geschlossen, ebenso weitere Einrichtungen und Betriebe erst in der 12. Kalenderwoche. Diese Maßnahmen konnten daher für den Rückgang der Neuinfektionen ab (spätestens!) 12./13. März nicht kausal sein (vgl. dazu bereits AG Weimar, aaO, Rn. 23-25 und 48f. – Diese Abschnitte des Urteils hat der BayVGH offensichtlich überlesen, wenn er (Beschluss vom 24.01.2021, – 10 CS 21.249 –, S. 16) meint, das Gericht habe die naheliegende Annahme, die Maßnahmen im Frühjahr 2020 könnten zu der geringen Übersterblichkeit und zu der geringen Auslastung der Intensivbettenkapazitäten geführt haben, in seinen Überlegungen ausgespart.).

Allenfalls die Absage von Großveranstaltungen (09. März) konnte vereinzelt noch kausal werden.

ee) Einen Überblick über den Wissenstand zu COVID-19 konnte der Verordnungsgeber dem Steckbrief des RKI zu SARS-CoV-2 und COVID-19 entnehmen. Dieser wird seit März 2020 laufend fortgeschrieben, ältere Fassungen sind – soweit ersichtlich – auf der Webseite des RKI nicht mehr zugänglich. Die Fassung vom 13.03.2020, die für den Verordnungsgeber relevant war, findet sich hier: https://www.dvta-berlin.de/steckbrief-sars-cov-2-covid-19/. Die einzelnen Parameter von Virus und Krankheit bedürfen hier keine nähere Erörterung, weil sie, soweit sie relevant für den möglichen Verlauf der Epidemie sind, Einfluss in die Modellberechnung des RKI (s. u. b) aa)) gefunden haben.

ff) Zu den empirischen Erkenntnisquellen, die der Verordnungsgeber berücksichtigen konnte, zählte auch der COVID-19-Ausbruch auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess, dem im Februar/März 2020 eine Vielzahl von Berichten in den Zeitungen und Nachrichten gewidmet waren. Das Geschehen auf der Diamond Princess war insoweit von nicht unerheblicher Relevanz für die Kenntnis des Virus, als es erstmals überprüfbare Daten zur Letalität des Virus lieferte. Insgesamt 3.711 Passagiere und Besatzungsmitglieder wurden von den japanischen Behörden im Hafen von Yokohama für 17 Tage auf dem Schiff unter Quarantäne gestellt. Bei einem teilweise chaotischen Krisenmanagement (https://www.nzz.ch/wissenschaft/coronavirus-so-eskalierte-die-lage-auf-der-diamond-princess-ld.1545789), infizierten sich 712 Personen mit dem Virus, von denen 7 verstarben (https://www.pharmazeutische-zeitung.de/lehren-aus-der-sars-cov-2-epidemie-auf-der-diamond-princess-116604/). Dies entspricht einer Infektionssterblichkeitsrate (IFR) von 1%, wobei aber zu berücksichtigen ist, dass Kreuzfahrtpassagiere einen wesentlich höheren Altersdurchschnitt als die Gesamtbevölkerung aufweisen, so dass mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen war, dass die IFR in der Gesamtbevölkerung deutlich unter 1% liegen würde. Dies bedeutete eine ganz erhebliche Korrektur der von der WHO zunächst offiziell angegebenen Rate von 3,4 %, die im Vergleich zu anderen Atemwegsviren erschreckend hoch war.

gg) An empirischen Daten war von dem Verordnungsgeber auch die Belastung der Intensivstationen in Thüringen zu berücksichtigen. Die Belegung mit COVID-19-Patienten ist dem DIVI-Intensivregister für den 25. März noch nicht verlässlich zu entnehmen, da zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle Krankenhäuser ihre Belegung an das Register meldeten (nur 326 Betten insgesamt gemeldet, davon 185 Betten frei, 141 belegt, davon 9 mit COVID-19-Patienten belegt). Dies zeigt sich auch an der weiteren Entwicklung der Daten des Registers: Am 3. April waren dann bereits 795 Betten gemeldet (davon 417 frei, 378 belegt, davon 36 COVID-19-Patienten), am 13. April 1042 Betten (davon 422 frei, 461 belegt, davon 61 COVID-19-Patienten). Die höchste Anzahl von COVID-19-Patienten auf Intensivstationen wurde im Frühjahr 2020 in Thüringen am 24.04.2020 mit 63 gemeldet. Für den Verordnungsgeber waren genaue Zahlen durch Abfrage in den Kliniken auch schon unabhängig vom Intensivregister vor dem 26. März zu erhalten. Ganz sicher waren jedenfalls die Intensivstationen in Thüringen am 25.03.2020 von einer Überlastung sehr weit entfernt.

Zur Einordnung der Belegungszahlen konnte der Verordnungsgeber auch auf den Thüringer Influenza-Pandemieplan aus dem Jahr 2009 (dies ist die aktuelle Fassung, der Pandemieplan wurde danach nicht weiter fortgeschrieben) zurückgreifen. (https://www.thueringen.de/imperia/md/content/tmsfg/abteilung6/referat44/th_pp_10_02_2009.pdf) . Dieser enthält unter Abschnitt 5.2. Stationäre Versorgung eine Modellrechnung entsprechend dem Nationalen Pandemieplan III betreffend Krankenhauseinweisungs- und Belegungszahlen. Nach dieser Modellrechnung ist bei einer schweren Influenza-Pandemie in Thüringen in der 3. und 4. sog. Peakwoche unter der Annahme einer durchschnittlichen Verweildauer auf der Intensivstation von 10 Tagen mit einer Belegung von 508 (!) Intensivbetten mit Influenza-Patienten, davon 254 Beatmungsplätze (50%) zu rechnen (zum Vergleich: die bisherige Spitzenbelastung in der Corona-Pandemie wurde am 12.04.2021 mit 233 COVID-19-Intensivpatienten erreicht). Für die 3. Peakwoche ergab sich in dem Modell eine Belegung der Krankenhäuser (Gesamtbetten) mit Influenza-Patienten von ca. 17 %. Diese Belastung wurde offensichtlich als vom Thüringer Gesundheitssystem bewältigbar angesehen. Im Hinblick auf die Unsicherheiten des Modells wurde sogar die Forderung erhoben, dass die Krankenhäuser bei der Aufstellung ihrer Pandemiepläne mit einer Belegung von mindestens 20 – 30 % ihrer Gesamtbetten durch Influenza-Patienten kalkulieren sollten.

b) Folgende Modellierungsstudien erscheinen zum Entscheidungszeitpunkt als für Deutschland maßgeblich:

  • die am 20.03.2020 vom Robert Koch-Institut veröffentlichte Studie „Modellierung von Beispielszenarien der SARS-CoV-2-Epidemie in Deutschland“ (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Modellierung_Deutschland.pdf?__blob=publicationFile)
  • die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi) zur Verbreitung des neuen Coronavirus (SARS-CoV-2) vom 21.03.2020 (https://www.dgepi.de/assets/Stellungnahmen/Stellungnahme2020Corona_DGEpi-21032020-v2.pdf)

Die im weiteren Verlauf der Corona-Krise bekannt gewordenen Modellierer Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen und Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung Braunschweig waren vor April 2020 noch nicht mit Studien an die Öffentlichkeit getreten.

International besonders einflussreich war die Studie von Ferguson et al. (Imperial College London) Report 9: Impact of non-pharmaceutical interventions (NPIs) to reduce COVID-19 mortality and healthcare demand vom 16.03.2020 (https://www.imperial.ac.uk/media/imperial-college/medicine/sph/ide/gida-fellowships/Imperial-College-COVID19-NPI-modelling-16-03-2020.pdf)

aa) Die Studie des RKI modellierte eine Vielzahl Beispielszenarien mit folgenden festen Annahmen: mittlere Inkubationszeit 5 Tage, Basisreproduktionszahl R0 = 2, bei 4,5% der Infizierten schwere Verläufe (d.h. hospitalisierungspflichtig), 25% der schweren Verläufe intensivpflichtig, Risiko der Intensivpflichtigen zu versterben bei 50%, was einer Letalität von 0,56% (s.o. a) ff)) entspricht. Als unbekannt galt für die Autoren, ob das Virus eine Saisonalität aufweist und ob es in einem Teil der Bevölkerung eine (Kreuz-)Immunität gibt. Daher wurden Szenarien mit den wechselnden Annahmen „keine Saisonalität“, „leichte Saisonalität“ und „deutliche Saisonalität“ (dies wurde hinsichtlich der saisonabhängigen Schwankungen der Basisreproduktionszahlen näher definiert), sowie „keiner immun“ und „1/3 immun“ modelliert. Weitere Variablen waren der Anteil derjenigen Erkrankten, die im Mittel vier Tage nach Symptombeginn positiv getestet werden und isoliert werden oder sich selbst isolieren und der Anteil der engen Kontaktpersonen dieser Fälle, die in Quarantäne gehen (Hinsichtlich der Quarantäne ist anzumerken, dass die von der WHO im Oktober 2019 veröffentlichte Metastudie „Non-pharmaceutical public health measures for mitigating the risk and impact of epidemic and pandemic influenza“ Quarantänemaßnahmen dezidiert nicht empfiehlt: „Home quarantine of exposed individuals to reduce transmission is not recommended because there is no obvious rationale for this measure, and there would be considerable difficulties in implementing it.“ https://www.who.int/influenza/publications/public_health_measures/publication/en/, S. 13 u. 47). Wahrscheinlichkeiten hinsichtlich der Frage der Saisonalität, der Immunität und der Erreichbarkeit bestimmter Prozentanteile der Isolierung Erkrankter wurden dabei nicht angegeben. Wichtig erscheint, dass außer Isolierung und Quarantänisierung keine weiteren Maßnahmen bei der Modellierung berücksichtigt werden, „allgemeine Kontaktreduzierung“ wird zwar als dritte wichtige Maßnahme genannt, aber nicht näher konkretisiert und nicht im Modell eingerechnet.

Bei einer Vielzahl von Szenarien kommt es zu einem Bedarf an Intensivbetten, der den Bestand teilweise um ein Vielfaches übersteigt. Im Worst-Case-Szenario (Annahmen: keine Saisonalität, keine Immunität, keine Isolierung Erkrankter) errechnet das Modell mehr als 350.000 Tote für Deutschland (Abb. 8). Es ergeben sich aber nicht nur Schreckensszenarien: schon bei nur leichter Saisonalität erwarten die Autoren auch ohne jegliche Maßnahmen im Frühjahr /Sommer 2020 keine Welle, sondern den Höhepunkt der Welle erst Anfang November (Abb. 2). Im Szenario „keine Saisonalität, keine Immunität“ reichen die vorhandenen Intensivkapazitäten von 28.000 Betten (so die häufigste Angabe Anfang März, das Intensivregister wies im April eine Kapazität von über 30.000 Betten aus), wenn es gelingt, 50% der Erkrankten (vier Tage nach Symptombeginn) zu isolieren und 60% der bereits infizierten Kontaktpersonen dieser Erkrankten zu quarantänisieren, im Szenario „deutliche Saisonalität, 1/3 immun“ ist das bereits bei Isolierung von nur 20% der Erkrankten der Fall (Abb. 7).

Das Gericht sieht sich nicht in der Lage, die Qualität dieser Modellierung zu überprüfen und dies kann sicher auch nicht vom Verordnungsgeber erwartet werden. Die Ergebnisse der Modellierung sind aber auch für den Laien verstehbar. Insbesondere konnte der Verordnungsgeber der Studie entnehmen, dass die Autoren keine Wahrscheinlichkeit hinsichtlich der einzelnen Szenarien angeben und die Studie die Frage, ob eine Gefahrenlage besteht, die allein mit (realistisch umsetzbaren) Maßnahmen der Isolierung Erkrankter und Quarantänisierung von Kontaktpersonen, nicht so bewältigt werden könnte, dass es zu keiner Überlastung der Intensivstationen kommt und sogar die Frage, ob ohne jede Maßnahmen überhaupt kurzfristig, d.h. im Frühjahr/Sommer eine Überlastung droht (Abb. 2!), letztlich nur mit „kann sein/kann nicht sein“ beantwortet. Umso erstaunlicher erscheinen die Schlussfolgerungen am Ende der Studie, wo es heißt: „Von jetzt an und in den nächsten Wochen sind maximale Anstrengungen erforderlich um die COVID-19-Epidemie in Deutschland zu verlangsamen, abzuflachen und letztlich die Zahl der Hospitalisierungen, intensivpflichtigen Patienten und Todesfälle zu minimieren.“ Diese Schlussfolgerungen werden von den Ergebnissen der Studie nicht getragen.

bb) Die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie enthält ebenfalls Modellierungen, die aber die Frage der Saisonalität und Immunität nicht berücksichtigen. Die Szenarien zeigen den zeitlichen Verlauf der Epidemie für unterschiedliche effektive Reproduktionszahlen, unterschiedliche Anteile intensivpflichtiger Personen und Liegedauer auf den Intensivstationen sowie den weiteren Verlauf der Epidemie, wenn zu unterschiedlichen Zeitpunkten Maßnahmen ergriffen werden, um die effektive Reproduktionszahl unter 1 zu senken. Die Frage, welche Maßnahmen erforderlich sein sollen, um die effektive Reproduktionszahl unter 1 zu senken, beantwortet die Modellierung nicht. Auch die Frage, warum eine mögliche Saisonalität des Virus (die bisher bekannten humanen Corona-Viren weisen bekanntermaßen eine deutliche Saisonalität auf; vgl. Pfänder, Respiratorische Virusinfektionen: Mechanismen der saisonalen Ausbreitung, Ärzteblatt 2020, 117, https://www.aerzteblatt.de/archiv/215317/Respiratorische-Virusinfektionen-Mechanismen-der-saisonalen-Ausbreitung), die ggf. sogar zu einem Absinken der effektiven Reproduktionszahl ohne Maßnahmen führen könnte, und eine mögliche (Kreuz-)Immunität außer Betracht bleiben, wird nicht beantwortet. Umso eindeutiger sind die Schlussfolgerungen: „Die Szenarien zeigen, dass zusätzliche Maßnahmen innerhalb der nächsten zwei Wochen eingeführt werden müssten, um die Kapazitäten der Intensivstationen nicht zu überschreiten. Auch ist damit zu rechnen, dass diese Einschnitte über die nächsten Monate aufrechterhalten werden müssen, um zu einer völligen Eindämmung der Infektionsausbreitung zu führen. Aktuell liegt ein kurzes Zeitfenster vor, in dem die Entscheidung zwischen Eindämmung und Verlangsamung der Infektionsausbreitung noch ohne Überlastung des Gesundheitssystems erfolgen kann. In beiden Fällen ist eine konsequente Umsetzung für einen längeren Zeitraum notwendig.“ Dass eine solche Stellungnahme einer Fachgesellschaft einen erheblichen Druck auf die politischen Entscheidungsträger entfalten kann, steht außer Frage.

cc) Die Studie des Imperial College London, die ohne Gegenmaßnahmen für Großbritannien 500.000 und für die USA 2,2 Millionen Tote noch vor dem Herbst 2020 prognostizierte, war in Großbritannien und den USA von enormer politischer Wirkung bei der Entscheidung für Lockdown-Maßnahmen, obwohl Neil Ferguson schon bei früheren Pandemien mehrfach mit seinen Prognosen weit die Realität verfehlt hatte (vgl. dazu Kreiß, Corona und gekaufte Wissenschaft – wie falsche Wissenschaft die Welt in einen Abgrund stürzt, online: https://www.nachdenkseiten.de/?p=66244). Auch in Deutschland wurde sie breiter rezipiert (vgl. So ernst ist die Lage, WELT vom 23.03.2020, https://www.welt.de/gesundheit/plus206665229/Coronavirus-So-ernst-ist-die-Lage.html, und NDR-Podcast Coronavirus-Update vom 18.03.2020, https://www.ndr.de/nachrichten/info/coronaskript132.pdf, S. 4). Nach Auffassung des Gerichts würden aber die Anforderungen an den Verordnungsgeber überspannt, wenn von ihm auch die Auswertung und Berücksichtigung internationaler Studien erwartet würde, weshalb hier eine Erörterung unterbleibt. Hinzu kommt, dass sich die Studie des RKI vom 20.03.2020 auch auf die Studie von Ferguson bezog und Ergebnisse der Modellierungen verglich.

dd) Keine Modellstudie im engeren Sinne ist das zwischen dem 19.03. und 22.03.2020 entstandene Strategiepapier „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“ des Bundesinnenministeriums (vgl. dazu AG Weimar, aaO, Rn. 43), obwohl es auch Modellrechnungen enthält. Ob dieses Papier, das, obwohl als Verschlusssache deklariert, frühzeitig an einzelne Zeitungen gegeben wurde (https://fragdenstaat.de/blog/2020/04/01/strategiepapier-des-innenministeriums-corona-szenarien/), die es aber nicht veröffentlichten, nur auszugsweise zitierten, dem Verordnungsgeber vor dem 26. März vorlag, ist dem Gericht nicht bekannt. Sollte dies der Fall gewesen sein, hätte ihm jedenfalls auffallen müssen, dass die Autoren des Papiers nicht namentlich genannt werden („ein Expertenteam von RKI, RWI, IW, SWP, Universität Bonn, University of Nottingham Ningbo China, Universität Lausanne und Universität Kassel“), was bei einer wissenschaftlichen Studie aber Standard ist und schon im zweiten Absatz eine sehr fragwürdige Behauptung aufgestellt wird, wenn es heißt: „Die meisten Virologen, Epidemiologien (sic!), Mediziner, Wirtschafts- und Politikwissenschaftler beantworten die Frage‚ ‘was passiert, wenn nichts getan wird‘ mit einem Worst-Case-Szenario von über einer Million Tote im Jahre 2020 – für Deutschland allein.“ Auf welche Äußerungen sich das Papier hier bezog, war vollkommen unklar, publiziert worden war eine solche Prognose nirgends und seltsam musste auch erscheinen, dass Prognosen von Wirtschafts- und Politikwissenschaftlern zum Verlauf der Pandemie von Relevanz sein sollten. Offensichtlich meinten die Verfasser des Papiers damit sich selbst, denn tatsächlich handelte es sich bei den acht Autoren, die das Bundesinnenministerium im Juni auf eine Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz mitteilte, um fünf Wirtschaftswissenschaftler, einen Politikwissenschaftler, einen Soziologen und einen Germanisten. Keiner der Autoren war Epidemiologe, Infektiologe, Virologe oder Mediziner. Ob das Bundesinnenministerium auf eine entsprechende Anfrage des Verordnungsgebers Ende März die Namen der Autoren mitgeteilt hätte, kann nur gemutmaßt werden, skeptisch gegenüber dem Papier hätte der Verordnungsgeber aufgrund der genannten Merkwürdigkeiten aber ohnehin sein müssen. (näher dazu https://haerting.de/wissen/pressemitteilung-haerting-erwirkt-akteneinsicht-beim-robert-koch-institut/, https://www.welt.de/politik/deutschland/plus225868061/Corona-Politik-Wie-das-Innenministerium-Wissenschaftler-einspannte.html?cid=onsite.onsitesearch, https://www.welt.de/politik/deutschland/plus226761145/Corona-Expertenrat-Das-Innenministerium-und-der-Germanist.html?cid=onsite.onsitesearch, https://gunnarkaiser.substack.com/p/bestellte-wissenschaft-einige-fragen).

c) Zu den Erkenntnisquellen, die vom Verordnungsgeber – mit starken Abstrichen gegenüber empirischen Daten und wissenschaftlichen Studien – in seine Erwägungen einzubeziehen waren und fraglos auch einflossen, zählen auch mündliche Äußerungen von Experten. Hier können nur einige exemplarische Äußerungen aus März 2020 zitiert werden:

  • Christian Drosten, Professor für Virologie an der Charité Berlin, am 01.03.2020 im Interview der BILD-Zeitung: „Ich glaube, dass wir das Virus hier bei uns auf sehr, sehr kleiner Flamme halten können, vielleicht sogar auf so kleiner Flamme, dass wir das kaum noch bemerken im Alltag.“ (https://www.bild.de/news/inland/news-inland/virologe-sicher-70-prozent-der-deutschen-werden-corona-bekommen-69127868.bild.html)
  • Christian Drosten am 05.03.2020 im NDR-Podcast Coronavirus-Update: „Viele Leute fangen an, in der Öffentlichkeit Zahlen zu rechnen, wenn ein halbes Prozent stirbt. Manche rechnen sogar mit noch höheren Zahlen, aber bleiben wir mal bei einem halben Prozent und multiplizieren das mit irgendeinem Wert, der von mir und anderen gesagt wurde: 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung werden sich infizieren. … Die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland sind in Wirklichkeit 83 Millionen, aber die werden nicht alle gleichzeitig infiziert werden. Die Frage ist doch, wie lange streckt sich das hin, über welche Zeit verteilt sich das? Und dagegen spielt die normale Sterblichkeit der Bevölkerung. 850.000 Deutsche sterben jedes Jahr. An diesem neuen Virus sterben Patienten in einer Größenordnung von fünf oder zehn Prozent der normalen Sterblichkeit der Bevölkerung. Das hat aber exakt das gleiche Altersprofil wie das Sterblichkeitsprofil der Bevölkerung. Dann wird uns das fast gar nicht auffallen.“ (https://www.ndr.de/nachrichten/info/coronaskript112.pdf)
  • Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung am 07.03.2020 im Interview mit der BILD-Zeitung: „Dass jemand an einer anderen Erkrankung stirbt, weil wir einen Notstand wegen Corona haben, würde ich für ausgeschlossen halten. … Corona ist eine Atemwegserkrankung, die in den allermeisten Fällen milde verläuft. Wir haben 28.000  Beatmungsplätze in Deutschland. Das ist mehr als die Zahl der weltweit schwer erkrankten Coronainfizierten! Das deutsche Gesundheitssystem ist extrem leistungsfähig.“ (https://www.bild.de/bild-plus/politik/inland/politik-inland/der-grosse-corona-gipfel-das-droht-deutschland-und-darauf-kommt-es-jetzt-an-69261020,la=de.bild.html#remId=1696410702268304075)
  • Christian Drosten am 09.03.2020: „Meine Einschätzung bezüglich der weiteren Entwicklung in Deutschland hat sich in der vergangenen Woche durch eine Studie geändert: Eine Modellstudie aus den USA prognostiziert, dass Temperatureffekte auf das Virus relativ klein sind. Der Studie nach zu urteilen glaube ich jetzt, dass wir eine durchlaufende Infektionswelle zu erwarten haben und das Maximum der Fälle zwischen Juni und August eintritt.“ (https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/coronavirus-wie-geht-es-weiter-mit-sars-cov-2-a-73160cc3-8dbc-4a89-90b0-c489bfd53661)
  • Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin und Co-Direktor des European Observatory on Health Systems an Policies erklärte laut Ärzteblatt vom 12. März, dass auch die italienischen Verhältnisse „uns noch längst nicht überlasten würden.“ Deutschland sei, was die Intensivstationen angehe, deutlich besser ausgestattet als Italien (um den Faktor 2,5), er gehe davon aus, dass „wir mit unseren Kapazitäten gut hinkommen.“ (https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/111029/Ueberlastung-deutscher-Krankenhaeuser-durch-COVID-19-laut-Experten-unwahrscheinlich)
  • Karin Mölling, Professorin für Virologie und ehemalige Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie an der Universität Zürich, erklärte am 14.03.2020 in einem Interview mit dem Rundfunksender Radioeins rbb, dass eine der Situation nicht angemessene „Angstmacherei“ stattfinde. Bei SARS-CoV 2 werde der Bogen überspannt, man schließe auch nicht die Autobahn, weil es dort Tote gebe, sie sei gegen die Schließung von Schulen und Kindertagestätten. (Der Podcast ist nicht mehr verfügbar.)
  • Alexander Kekulé, Professor für Mikrobiologie und Virologie an der Universität Halle-Wittenberg, am 15.03.2020 in der Talksendung Anne Will: „Ein an Corona erkranktes Kind, das acht Wochen nicht erkannt wird, steckt rund 3.000 Menschen an. Davon müssen 200 bis 300 auf die Intensivstation, etwa 15 sterben.“ (https://www.welt.de/vermischtes/article206578403/Corona-Kekule-erklaert-Anne-Will-den-Effekt-einer-unentdeckten-Infektion.html)
  • Hendrik Streeck, Professor für Virologie an der Universität Bonn, am 16.03.2020: „ich lehne mich mal weit aus dem Fenster und sage: Es könnte durchaus sein, dass wir im Jahr 2020 zusammengerechnet nicht mehr Todesfälle haben werden als in jedem anderen Jahr.“ (https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/neue-corona-symptome-entdeckt-virologe-hendrik-streeck-zum-virus-16681450-p2.html; vgl. dazu auch: https://www.covid19.statistik.uni-muenchen.de/pdfs/codag_bericht_8.pdf)
  • Christian Drosten am 18.03.2020 im NDR-Podcast Coronavirus-Update: „Wir sind nun mal jetzt gerade in der ansteigenden Flanke einer exponentiellen Wachstumskinetik. Und wenn wir nicht jetzt etwas tun, und zwar drastisch und einschneidend, dann wird das so weitergehen. Dann haben wir im Juni, Juli ein Problem. … Und man wird das nicht nur in der Statistik sehen, sondern man wird das in den Krankenhäusern sehen. Diese Patienten werden dann nicht mehr behandelt werden können, und die werden sterben.“ (https://www.ndr.de/nachrichten/info/coronaskript132.pdf)
  • Christian Drosten am 20.03.2020: „Egal, wie man es rechnet und mit wem man spricht: Wir müssen jetzt unbedingt die Fälle senken. Sonst werden wir es nicht schaffen. Wir kriegen sonst innerhalb von ein paar Wochen genau dieselben Probleme wie in Italien. … Geht man von den jetzigen Zahlen aus, bräuchte man – selbst konservativ gerechnet – zu den jetzigen Intensiv-Kapazitäten noch mal das Doppelte, um auch nur einigermaßen alle beatmen zu können, die man müsste.“ (https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-03/christian-drosten-coronavirus-pandemie-deutschland-virologe-charite/komplettansicht)
  • Gerald Gaß, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, im Interview mit dem Mannheimer Morgen am 25.03.2020: „… wir können nur Prognosen treffen für die kommenden zwei Wochen, und da bin ich überzeugt, dass die Kliniken insgesamt über ausreichend Kapazitäten verfügen. Es kann Engpässe in manchen Regionen geben, aber dann besteht die Möglichkeit, Patienten zu verlegen. Eine Überlastung, wie wir sie jetzt in Italien und Spanien sehen, erwarte ich kurzfristig nicht. Dort waren die Kapazitäten von vornherein nennenswert geringer, und es fehlte genug Zeit zur Vorbereitung.“ (https://www.mannheimer-morgen.de/politik_artikel,-politik-ueberbelastung-erwarte-ich-nicht-_arid,1621384.html)

Zweifelsohne gab es auch interne (mündliche) Beratung der politischen Entscheidungsträger durch Experten. Der Thüringer Ministerpräsident erklärte am 14.03.2020, dass man damit rechnen müsse, dass innerhalb von zwei Jahren sich bis zu 1,5 Millionen Thüringer mit SARS-CoV-2 infizieren und davon 60.000 schwer erkranken könnten. Diese Zahlen hatte er von einem Krisengipfel im Kanzleramt am 12.03.2020 mitgebracht, bei dem offensichtlich eine epidemiologische Modellrechnung vorgestellt wurde. Die Zahlen lassen sich im Übrigen mit den Annahmen der Modellstudie des RKI vom 20.03.2020 in Einklang bringen, wenn man unter „Schwerkranken“ Hospitalisierungspflichtige versteht: Wenn sich von 2,13 Millionen Einwohnern 60 – 70% infizieren und 4,5 % hospitalisiert werden müssen, führt dies zu etwa 57.510 – 67.095 Schwerkranken (https://www.otz.de/politik/ramelow-wir-fahren-bevoelkerungsschutz-auf-sicht-id228695871.html).

d) Zur Beantwortung der Frage, welche Maßnahmen bei einer pandemischen Lage in Betracht kommen, konnte der Verordnungsgeber auf den bereits zitierten Thüringer Influenza-Pandemieplan sowie auf den Nationalen Pandemieplan und die „Ergänzung zum Nationalen Pandemieplan – COVID-19 – neuartige Coronaviruserkrankung“ des RKI vom 04.03.2020 (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Ergaenzung_Pandemieplan_Covid.pdf?__blob=publicationFile) zurückgreifen. Diesen Pandemieplänen ist gemeinsam, dass sie (neben der Isolierung Erkrankter und Quarantänemaßnahmen) als die Öffentlichkeit bzw. Teile davon betreffende nicht-pharmazeutische antiepidemische Maßnahmen lediglich die Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen (Schulen, Kindergärten etc.) und Massenunterkünften, Besuchsregelungen bzw. -verbote in Krankenhäusern sowie Alten- und Pflegeheimen und die Beschränkung bzw. das Verbot von Massenveranstaltungen und Großereignissen vorsehen. Ein allgemeines Kontaktverbot wird dagegen ebensowenig wie Ausgangssperren, die Schließung weiter Teile des Einzelhandels, die Schließung von Museen, das Verbot von Gottesdiensten, Vereinstreffen etc. empfohlen. Auch die Ergänzung zum Nationalen Pandemieplan vom 04.03.2020 beinhaltet keine Erweiterung des bisherigen Maßnahmenkatalogs. Da bis Anfang März 2020 allgemeine Kontaktverbote nie ernsthaft zur Pandemiebekämpfung in Erwägung gezogen wurden, wurde die Wirksamkeit dieser Maßnahmen auch kaum erforscht, so dass der Verordnungsgeber hier nicht auf Forschungsergebnisse zurückgreifen konnte. Hinsichtlich der Wirksamkeit der in den Pandemieplänen vorgesehenen Maßnahmen konnte dagegen die bereits erwähnte Metastudie der WHO „Non-pharmaceutical public health measures for mitigating the risk and impact of epidemic and pandemic influenza“ herangezogen werden.

e) Aus der Erhebung des für den Verordnungsgeber erreichbaren Materials hinsichtlich der Gefahrenprognose und der in Betracht kommenden Maßnahmen ergibt sich danach folgendes Fazit für den Zeitpunkt des Verordnungserlasses:

Es gab Modellrechnungen, die bei Eintritt bestimmter Bedingungen eine dramatische Überlastung des Gesundheitssystems prognostizierten. Wie wahrscheinlich der Eintritt dieser Bedingungen war, konnten die Studien nicht angeben. Es gab Experten, die ab der 12. Kalenderwoche erklärten, es finde ein exponentielles Wachstum an Neuinfektionen statt, weshalb eine Überlastung der Intensivstationen drohe, und die dabei den Anschein erweckten, dass ihre Aussagen durch empirische Daten gedeckt seien, was aber nicht der Fall war. Daneben gab es Experten, die keine Überlastung erwarteten. Es gab empirische Daten aus den etablierten Surveillance-Systemen des Robert-Koch-Instituts, wonach die Zahl der stationär behandelter Fälle mit akuten respiratorischen Infektionen (SARI-Fälle) in der 10. und 11. Kalenderwoche und die Zahl der Influenza-ähnlichen Erkrankungen (ILI-Rate), zu denen auch COVID-19 zählt, in der 12. Kalenderwoche jeweils gegenüber der Vorwoche gesunken war und der Anteil von SARS-CoV-2 in den Sentinelproben der Arbeitsgemeinschaft Influenza des RKI in der 12. Kalenderwoche bei nur 1,6 % lag. Und es gab empirische Daten in den Täglichen Lageberichten des RKI, die zumindest sehr stark dafür sprachen, dass die Zahl der täglichen COVID-19-Neuerkrankungen ihren Höhepunkt bereits vor dem 20.03.2020 überschritten hatte und im Sinken begriffen war. Was es nicht gab, waren empirische Daten, die die Hypothese, die Zahl der täglichen Neuinfektionen befinde sich noch im (exponentiellen oder auch nur linearen) Anstieg, hätten stützen können (die „Fallzahlen“ waren es, wie dargelegt, nicht.). Und schließlich war bekannt, dass das Thüringer Gesundheitssystems von einer Überlastung sehr weit entfernt war.

Dies alles konnte und musste bei Aufwendung der von ihm zu erwartenden Sorgfalt bei der Ermittlung und Auswertung der verfügbaren Erkenntnisquellen der Verordnungsgeber wissen. Da sich die Richtigkeit von Modellstudien an der empirischen Wirklichkeit und nicht die Richtigkeit empirischer Fakten an Modellstudien erweisen muss, war für den Verordnungsgeber danach bei einer „sachgerechten und vertretbaren Beurteilung des erreichbaren Materials“ (BVerfGE 50, 290, juris, Rn. 113) der Schluss unabweisbar, dass eine Überlastung des Gesundheitssystems aktuell und in nächster Zukunft nicht drohte und somit keine weiteren Maßnahmen ergriffen werden mussten, um eine solche Überlastung zu verhindern. Der Frage, ob ein allgemeines Kontaktverbot ein geeignetes, erforderliches und angemessenes Mittel zur Verfolgung des in der amtlichen Begründung angegebenen Zieles wäre, hätte sich der Verordnungsgeber danach gar nicht erst zuwenden müssen.

Die Anordnung des Kontaktverbots zum Ziel einer Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems kann daher nicht als im Rahmen der Einschätzungsprärogative des Verordnungsgebers (noch) vertretbare Entscheidung bewertet werden.

Das Gericht verkennt dabei nicht, dass der Verordnungsgeber unter enormem Handlungsdruck stand, der von vielen Medien, allen voran dem Öffentlich-rechtlichen Rundfunk über Wochen durch eine hochfrequente und einseitig dramatisierende Berichterstattung, etwa über den Verlauf der Pandemie in Italien, aufgebaut wurde (vgl. Gräf/Henning, Die Verengung der Welt. Zur medialen Konstruktion Deutschlands unter Covid-19 anhand der Formate ARD Extra – Die Coronalage und ZDF Spezial, https://www.researchgate.net/publication/343736403_Die_Verengung_der_Welt_Zur_medialen_Konstruktion_Deutschlands_unter_Covid-19_anhand_der_Formate_ARD_Extra_-Die_Coronalage_und_ZDF_Spezial; zusammenfassend: https://www.uni-passau.de/bereiche/presse/pressemeldungen/meldung/detail/die-verengung-der-welt-passauer-studie-ueber-corona-berichterstattung-von-ard-und-zdf-sorgt-fuer-leb), der sich aber auch aus den zitierten und weiteren Äußerungen von Experten ergab. Hinzu kommt, dass auf dem Verordnungsgeber, dem Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, auch ein erheblicher politischer Druck lastete, insoweit das allgemeine Kontaktverbot von der Bundeskanzlerin und den Ministerpräsidenten der Länder in einem Beschluss vom 22.03.2020 (https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/besprechung-der-bundeskanzlerin-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-vom-22-03-2020-1733248) vereinbart wurde, den der Verordnungsgeber offensichtlich nur noch umsetzen sollte. Dabei war offensichtlich nicht vorgesehen, dass der Verordnungsgeber im Rahmen der von ihm geforderten Verhältnismäßigkeitsprüfung zu der Überzeugung kommen könnte, die beschlossenen Maßnahmen seien nicht verhältnismäßig.

Dies alles ändert aber nichts daran, dass der Verordnungsgeber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet war, die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen heranzuziehen, auszuschöpfen und sich um eine eigene sachgerechte und vertretbare Beurteilung zu bemühen. Vom Verordnungsgeber muss insoweit erwartet werden, dass er auch hohem medialem Druck standhält und auch angesichts dezidierter Äußerungen von Experten nicht auf die eigene, kritische und vernunftgeleitete Prüfung der verfügbaren Erkenntnisquellen verzichtet. Auch die scheinbare Evidenz von „Bildern aus Bergamo“ (vgl. dazu und zur Macht der Bilder: Frank Fehrenbach über das „Bild aus Bergamo“, oder: „The common bond is the movie theatre“, https://www.zispotlight.de/frank-fehrenbach-ueber-das-bild-aus-bergamo-oder-the-common-bond-is-the-movie-theatre/) und der verständliche Wunsch, solche Bilder in Deutschland zu vermeiden, konnten diese dem Verordnungsgeber aufgegebene Verpflichtung nicht obsolet machen. Gerade in einer Krisensituation muss vom Verordnungsgeber besonnenes und rationales Handeln erwartet werden.

f) Nur ergänzend ist noch Folgendes zu berücksichtigen: Auch nach dem Erlass der Verordnung am 26.03.2020 war der Verordnungsgeber verpflichtet, im Hinblick auf die äußerst gravierenden Grundrechtseingriffe und die „dynamische Situation“ die weitere Entwicklung fortwährend zu beobachten und ggf. auch kurzfristig durch Änderung oder Aufhebung der Verordnung darauf zu reagieren (vgl. OVG Thüringen, Beschlüsse vom 10.04.2020 – 3 EN 248/20, juris, vom 09.04.2020 – 3 EN 238/20 – juris, OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.04.2020 – 13 B 398/20.NE – juris). Soweit er sich dabei zuvor bisher nicht in der gebotenen Weise mit den Situationsberichten des RKI auseinandergesetzt hatte, hätte er dabei bei der Lektüre des Situationsberichts vom 26.03.2020, in dem erstmals die Zahlen der in der 11. und 12. Kalenderwoche durchgeführten Tests veröffentlicht wurden, gewissermaßen aus allen Wolken fallen müssen. Denn mit der Veröffentlichung dieser Daten war die Behauptung, es gebe einen exponentiellen Anstieg der Infektionen mit Verdopplungsraten von wenigen Tagen, unzweifelhaft widerlegt. Hätte er noch eine weitere Woche zugewartet, hätte er dies im Situationsbericht vom 1. April für die 13. Kalenderwoche erneut bestätigt gefunden, wobei ihm klar sein musste, dass die am 22.03.2020 zusätzlich beschlossenen Maßnahmen wie das Kontaktverbot keinen Einfluss auf die Testergebnisse der 13. Kalenderwoche (23. – 29.03.) haben konnten. Im Situationsbericht vom 2. April hätte der Verordnungsgeber lesen können, dass auch in der 13. KW die Zahl der Influenza-ähnlichen Erkrankungen weiter rückläufig war und in nur 2 von 121 (1,7%) untersuchten Sentinelproben SARS-CoV-2 identifiziert wurde. Dies hätte ihm Anlass genug sein müssen, das allgemeine Kontaktverbot unverzüglich aufzuheben.

g) Der Verordnungsgeber hat laut amtlicher Begründung ausschließlich das Ziel verfolgt, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, um die medizinische Versorgung aller an COVID-19 Erkrankten sicherzustellen. Die bloße Minimierung der Infektionszahlen war kein Ziel der Verordnung, zumal seinerzeit davon ausgegangen wurde, dass sich ohnehin 60-70 % der Bevölkerung infizieren müssten. Auf den Gedanken, auch wenn keine Überlastung des Gesundheitssystems droht, was zugleich bedeutet, dass keine mit Influenzawellen früherer Jahre unvergleichbare Gefahrenlage besteht (dass es sich so verhielt, bestätigt jetzt auch das RKI in Rommel et. al., COVID-19-Krankheitslast im Jahr 2020: „Die Analyse der Übersterblichkeit legt aber nahe, dass die COVID-19-Pandemie am Ende des Jahres 2020 etwa das Niveau schwerer Influenzawellen erreicht hat.“ https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/Krankheitslast/Publikationen/publikationen_Inhalt.html, deutsche Fassung: https://www.aerzteblatt.de/archiv/217880/COVID-19-Krankheitslast-in-Deutschland-im-Jahr-2020), könnte die Verhängung eines allgemeinen Kontaktverbotes und eines Lockdowns verhältnismäßig sein, ist im März 2020 noch niemand gekommen. Murswiek (Die Corona-Waage – Kriterien für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Corona-Maßnahmen, NVwZ-Extra 5/2021, S. 14) fasst diese inzwischen (nicht erst seit dem Auftreten von Verfechtern einer No-Covid-Strategie) offenbar nicht mehr selbstverständliche Sicht der Dinge wie folgt zusammen: „Der Lockdown diente in einer solchen Lage nur noch einer relativ geringfügigen Minderung des Risikos, an Covid-19 zu sterben oder sehr schwer zu erkranken. Dieses Risiko, um dessen Verminderung es konkret geht, ist aber für den Einzelnen wohl nicht größer als viele andere Lebensrisiken. Außerdem hat jeder, der sich durch das Risiko belastet fühlt, die Möglichkeit, durch sein eigenes Verhalten das Risiko noch weiter zu mindern – wie das in Bezug auf andere Lebensrisiken ja auch der Fall ist. Niemand kann erwarten, dass das gesamte öffentliche Leben stillgelegt wird, um ein Risiko, das sich in der Größenordnung ansonsten allgemein ohne staatliche Gegenmaßnahmen akzeptierter Risiken bewegt, noch ein wenig zu vermindern.“

VIII.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO i. V. m. § 46 OWiG.

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