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Ablehnung Beweisantrag auf Inaugenscheinnahme des Tatorts

KG Berlin – Az.: (3) 121 Ss 94/19 (59/19) – Beschluss vom 07.10.2019

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 2. Januar 2019 mit den getroffenen Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an eine andere Strafkammer des Landgerichts Berlin zurückverwiesen.

Gründe

I.

Durch Urteil vom 9.Mai 2016 hat das Amtsgericht Tiergarten den Angeklagten wegen unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln als Person über 21 Jahre an Personen unter 18 Jahren zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Seine dagegen gerichtete Berufung hat das Landgericht Berlin am 2. Januar 2019 verworfen. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner form- und fristgerechten Revision. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Die Revision hat bereits mit den Verfahrensrügen Erfolg, so dass es auf das weitere Revisionsvorbringen nicht mehr ankommt.

1. Der Verfahrensrüge, mit der die rechtsfehlerhafte Ablehnung des Antrages des Angeklagten auf Inaugenscheinnahme der Tatörtlichkeit angegriffen wird, liegt folgender Verfahrensablauf zugrunde:

Am 5. Dezember 2018, dem dritten Verhandlungstag, hat der Angeklagte beantragt, die Kreuzung Skalitzer Straße/Stichweg Richtung Spreewaldplatz in 10999 Berlin in Augenschein zu nehmen, zum Beweis der Tatsache, dass die Aussage des Zeugen … er habe den mutmaßlichen Verkäufer bis zu dessen Eintreffen auf dem Spreewaldplatz nicht aus den Augen verloren, nicht der Wahrheit entsprechen kann.

Der weiteren Begründung des Antrages ist eindeutig zu entnehmen, dass der Angeklagte behauptet, die Bekundungen des Zeugen …; er, der Zeuge, habe den Angeklagten vom Anbahnungsgespräch mit den Jugendlichen über den Verkauf des Betäubungsmittels an sie bis zur vorläufigen Festnahme des Angeklagten lückenlos beobachtet, mit den Tatörtlichkeiten nicht vereinbar seien. Der Angeklagte hat ersichtlich die Glaubhaftigkeit der Bekundungen des Zeugen widerlegen wollen.

Das Landgericht hat diesen Antrag in derselben Sitzung unter Berufung auf § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO als ungeeignet abgelehnt. Der Beschluss des Landgerichts dazu lautet wie folgt:

„Der Antrag des Verteidigers vom 05.12.2018 auf die Inaugenscheinnahme der Kreuzung Skalitzer Straße/Stichweg Richtung Spreewaldplatz wird abgelehnt.

Ablehnung Beweisantrag auf Inaugenscheinnahme des Tatorts
(Symbolfoto: Von Fer Gregory/Shutterstock.com)

Der Antrag war als ungeeignet abzulehnen, § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO, denn die Kammer hat in der bisherigen Beweisaufnahme bereits die Kreuzung Skalitzer Straße/Stichweg Richtung Spreewaldplatz über den Zeugen …… als Augenscheinsgehilfe in Augenschein genommen. Der Zeuge hat insoweit glaubhafte und detaillierte Angaben zu den Orten, den Wegen sowie den Entfernungen gemacht.“

Die daraufhin erhobene Gegenvorstellung des Angeklagten in einer weiteren Sitzung, in der er noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass es ihm gerade um das Widerlegen der Behauptung des Zeugen, er, der Zeuge, habe den Angeklagten lückenlos beobachtet‘, gehe und dieser Zeuge daher kein geeigneter Augenscheinsgehilfe sei. Diese Einwände hat die Strafkammer unter Hinweis auf die weiterhin zutreffenden, Gründe ihres Beschlusses vom 5. Dezember 2018 zurückgewiesen.

2. Darüber hinaus hat der Angeklagte eine weitere Rüge mit der Begründung erhoben, das Landgericht habe entgegen § 261 StPO eine in der Hauptverhandlung verlesene Urkunde, die Aufschluss über das beim Angeklagten nach seiner Verhaftung verbliebene Münzgeld geliefert habe; nicht zur Kenntnis genommen und nicht verwertet. Ausweislich eines in der Hauptverhandlung verlesenen Durchsuchungsprotokolls seien bei dem Angeklagten drei Zehneuroscheine sowie zwei Fünfeuroscheine sichergestellt worden. Ebenfalls sei in der Hauptverhandlung eine Zahlungsanzeige der Justizvollzugsanstalt Moabit verlesen worden, wonach der Angeklagte bei seiner Einlieferung die Haftanstalt Bargeld von 1,62 Euro mit sich geführt habe. Dies Stehe im Widerspruch zu den im angefochtenen Urteil wiedergegebenen Bekundungen der drei jugendlichen Drogenkäufer. Danach hätten diese den Kaufpreis für die Drogen von 10,- Euro in einer Stückelung von 5,-, 2,- und 3,- Euro zusammengelegt und dem Angeklagten auch Münzgeld, übergeben.

In dem angefochtenen Urteil hat das Landgericht dazu unter anderem ausgeführt:

„Gegen die Täterschaft spricht weiterhin nicht der Umstand, dass ausweislich des Durchsuchungs- und Sicherstellungsprotokolls vom 19. Februar 2016 bei ihm zwar 40,- Euro Bargeld (zwei 5,- Euro- und drei 10,- Euroscheine), jedoch keine Münzen gefunden wurden, obwohl die Minderjährigen, die ihr Geld zusammenlegten, jedenfalls auch mit Münzen bezahlt haben müssten. Denn nach den Angaben der Zeugen … und … würden in den Protokollen nur Gelder erwähnt, die auf Handelserlös hindeuteten oder eine szenetypische Stückelung aufwiesen. Dazu gehöre Münzgeld üblicherweise nicht und dies würde den Beschuldigten daher zumeist belassen, ohne überhaupt aufgeführt zu werden.

Hinsichtlich der Einzelheiten der Revisionsbegründung wird auf den Schriftsatz des Verteidigers vom 17. Juni 2019 Bezug genommen.

Die zulässige Revision des Angeklagten hat in der Sache (vorläufigen) Erfolg.

Das angefochtene Urteil hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

Dazu hat die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 8. Juli 2019 ausgeführt:

„1. Die Ablehnung des Beweisantrages auf Inaugenscheinnahme der im Antrag bezeichneten Straßenkreuzung ist nicht rechtsfehlerfrei erfolgt. An dem den Antrag ablehnenden Gerichtsbeschluss ist schon zu bemängeln, dass diesem nicht ausreichend zweifelsfrei entnommen werden kann, auf welcher Grundlage letztlich die Zurückweisung tatsächlich erfolgte (vgl. KG, Beschluss, vom 27. Januar 2015 – (4) 161 Ss 186/14 (285/14) – [„klare Benennung eines gesetzlichen Ablehnungsgrundes“]). Während die Nennung des § 244 Abs. 3 S. 2 StPO und die Erwähnung der Ungeeignetheit dafür sprechen könnten; dass das Landgericht den Antrag aus diesem Grunde abgelehnt hat, deuten die Ausführungen zum Zeugen … eher auf den Ablehnungsgrund des § 244 Abs. 5 S. 1 StPO hin. Dies kann indes vorliegend im Ergebnis dahin stehen, weil ohnehin keine der beiden Varianten die Ablehnung des Antrages tragfähig zu rechtfertigen vermag.

Die Zurückweisung des Beweisantrages wegen völliger Ungeeignetheit des bezeichneten Beweismittels hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Der Augenschein ist nur dann ein völlig ungeeignetes Beweismittel, wenn er nicht rekonstruierbare örtliche Verhältnisse zur Tatzeit beweisen soll (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO. Aufl., § 244 Rdnr. 59c m.w.N.). Ungeachtet des Umstandes, dass sich die Begründung des ablehnenden Gerichtsbeschlusses hierzu überhaupt nicht verhält, liegt dieses auch nicht auf der Hand, denn Gegenstand des Augenscheins soll nach dem Antragsvorbringen die bauliche Beschaffenheit eines bestimmten, seit dem Tatzeitpunkt unverändert bestehenden Straßenabschnitts sein, welcher Aufschluss über die Einsehbarkeit zwischen bestimmten Standorten geben kann. Angesichts der nach dem Antragsvorbringen vom Zeugen … hierzu angegebenen Positionen und Abstände zwischen ihm und dem verfolgten Angeklagten ist es auch nicht von vornherein auszuschließen, dass sich aus der Inaugenscheinnahme Erkenntnisse zur relevanten Frage der Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines ununterbrochenen Sichtkontakts ergeben können.

Auch unter dem im ablehnenden Beschluss anklingenden Gesichtspunkt die Augenscheinnahme sei wegen der Schilderungen des Zeugen … zu den in Rede stehenden Örtlichkeiten zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich, ist die Zurückweisung des Beweisantrags nichtgerechtfertigt. Zutreffend wird mit der Revisionsbegründung darauf hingewiesen, dass die Vornahme ‚der Beweiserhebung dann geboten ist, wenn durch diese – wie hier – gerade bestimmte-, die Örtlichkeiten betreffende Behauptungen des vom Gericht als Augenscheinsgehilfen behandelten Zeugen widerlegt werden sollen (vgl. BGH NStZ 1984, 565; KG NStZ 2007, 25; OLG Koblenz StV 2013, 553 f.; OLG Köln StV 2002, 238 ff.; Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 244 Rdnr. 347).

Ein Beruhen des Urteils auf der rechtsfehlerhaften Ablehnung des Antrages kann nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden. Es erscheint zumindest denkbar, dass eine Beweiserhebung zu einer günstigeren Entscheidung für den Angeklagten hätte führen können, weil der vom Zeugen … behaupteten ununterbrochenen Beobachtung des Angeklagten von dem Tatgeschehen bis zur Festnahme ersichtlich tragende Bedeutung für die Täterfeststellung des Gerichts zugekommen ist Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Wiedererkennen durch die Zeugin … (UA S. 9), weil dieses zum einen nicht näher anhand bestimmter Merkmale des Angeklagten konkretisiert worden und zum anderen die Beschreibung des Verkäufers durch die Käufer des Marihuanas nicht unerheblich abweichend ausgefallen ist. Auf die Frage, ob das Landgericht den Antrag gegebenenfalls rechtsfehlerfrei hätte ablehnen können kommt es dabei ebenfalls nicht an, zumal auch dem Revisionsgericht eine Nachholung der Begründung oder gar eine „Auswechselung“ des Ablehnungsgrundes verwehrt ist (vgl. KG, Beschluss vom 29. November 2012 – (2) 121 Ss 179/12 (40/12) -) und es dem Angeklagten im Falle einer etwaigen zutreffenden Begründung zudem unbenommen geblieben wäre, hieran anknüpfend weitere Anträge zu stellen oder Erklärungen abzugeben (vgl. KG, Beschluss vom 15. September 2011 – (2) 1 Ss 307/11 (52/11) -).

2. Auch die im Hinblick auf die fehlende Erörterung der verlesenen, den Angeklagten betreffenden Zahlungsanzeige der JVA Moabit beanstandete Verletzung des Gebots erschöpfender Beweiswürdigung dringt durch. Zwar besteht keine verfahrensrechtliche Plicht, im Urteil alles zu erörtern, was Gegenstand der Hauptverhandlung war, so dass grundsätzlich aus der Nichterwähnung eines ordnungsgemäß eingeführten Beweismittels nicht darauf zu schließen ist, der Richter habe das Beweismittel übersehen. Indes dürfen Umstände, weiche geeignet sind, die Entscheidung wesentlich zu beeinflussen, nicht stillschweigend übergangen werden (vgl. KG, Beschluss vom 9. Juni 2015 – (3) 161 Ss 106/15 (66/15) -), weil eine Beweiswürdigung, welche über den Angeklagten möglicherweise entlastende Umstände ohne Erörterung hinweggeht, unter Verstoß gegen § 261 StPO rechtsfehlerhaft ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 26.1 Rdnr. 6). Angesichts des Umstandes, dass die Strafkammer bei verständiger Würdigung der gesamten Urteilsgründe erkennbar selbst davon ausgegangen ist, dass zumindest 5 Euro des Kaufpreises in Münzgeld bezahlt worden sein müssten (UA S. 5, 11), beim zeitnah danach festgenommenen Angeklagten ausweislich der verlesenen Zahlungsanzeige bei Aufnahme zur Untersuchungshaft jedoch nur 1,62 Euro in Münzen festgestellt worden sind, hätte sich im Hinblick auf die Angaben der jugendlichen Käufer zum Erscheinungsbild des Verkäufers und die Einlassung der Angeklagten, es läge hinsichtlich des Täters des Betäubungsmittelverkaufs in seiner Person eine Verwechselung vor, zumindest die Auseinandersetzung mit dem Inhalt der verlesenen Urkunde aufdrängen müssen. Auch hierbei lässt sich ein Beruhen des Urteils auf diesem Rechtsfehler nicht zweifelsfrei ausschließen, weil bei gebotener Erörterung und Berücksichtigung des erhobenen Beweises möglicherweise eine für den Angeklagten günstigere Entscheidung getroffen worden wäre.“

Diese zutreffenden Ausführungen macht sich der Senat zu Eigen.

Das Urteil war demnach nach § 349 Abs.4 StPO aufzuheben und die Sache nach § 354 Abs. 2 S. 1 StPO zur neuen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen.

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