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Abwesenheitsverfahren – Verletzung des rechtlichen Gehörs – Rechtsbeschwerde

Bußgeldbescheid wegen Geschwindigkeitsüberschreitung: Verfahrensrüge erfolglos

Einleitung

Ein Bußgeldbescheid wurde gegen einen Autofahrer in Berlin erlassen, der eine innerörtliche Höchstgeschwindigkeit um 21 km/h überschritten hat. Der Autofahrer hat Einspruch eingelegt, aber das Amtsgericht Tiergarten hat ihn wegen der Überschreitung zu einer Geldbuße von 80 Euro verurteilt. Der Autofahrer hat daraufhin einen Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gestellt und rügt die Verletzung des rechtlichen Gehörs und einen Verstoß gegen das faire Verfahren.

Verletzung des rechtlichen Gehörs

Das Rechtsbeschwerdegericht hat festgestellt, dass der Betroffene durch die Ladung und Vernehmung des Zeugen F. nicht in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt wurde. Das Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG steht nur demjenigen zu, der eine unmittelbare rechtliche Beziehung zu einem bestimmten Gerichtsverfahren hat, in welchem er dieses Recht beanspruchen kann. In einem Bußgeldverfahren ist der Betroffene formell beteiligt und nicht sein Verteidiger, auch wenn dessen Interessen als Beistand ebenfalls betroffen sein können. Der Antrag des Verteidigers auf Aussetzung des Verfahrens und der Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens wurden abgelehnt, da es zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sei. Das Rechtsbeschwerdegericht hat keinen Verstoß gegen das rechtliche Gehör des Betroffenen feststellen können.

Verstoß gegen das faire Verfahren

Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde wegen des Verstoßes gegen das faire Verfahren blieb ohne Erfolg. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG auf nicht vom Wortlaut der Norm erfasste Verletzungen des Verfahrensrechts wie der Verstoß gegen das faire Verfahren ist Gegenstand gefestigter und vielfach publizierter Rechtsprechung des Senats und entspricht der vorherrschenden Rechtsprechung und der herrschenden Literaturmeinung.

Das Rechtsbeschwerdegericht hat den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde verworfen und entschieden, dass der Bußgeldbescheid wegen Geschwindigkeitsüberschreitung und die Verurteilung des Betroffenen zu einer Geldbuße von 80 Euro rechtskräftig sind. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.


KG – Az.: 3 ORbs 21/23 – Beschluss vom 01.02.2023

In der Bußgeldsache wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts am 1. Februar 2023 beschlossen:

Der Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 23. November 2022 wird verworfen.

Der Betroffene hat die Kosten seiner nach § 80 Abs. 4 Satz 4 OWiG als zurückgenommen geltenden Rechtsbeschwerde zu tragen.

Gründe:

I.

Der Polizeipräsident in Berlin hat gegen den Betroffenen einen Bußgeldbescheid erlassen, mit dem er dem Betroffenen eine am 15. September 2021 begangene fahrlässige Überschreitung der zulässigen innerörtlichen Höchstgeschwindigkeit um 21 km/h (nach Toleranzabzug) vorgeworfen und ein Bußgeld von 80,00 Euro festgesetzt hat.

Auf den rechtzeitig eingelegten Einspruch hat das Amtsgericht Tiergarten u.a. eine Hauptverhandlung für den 23. November 2022 bestimmt, zu der es den Betroffenen und seinen Verteidiger geladen hat. Auf Antrag hat das Gericht den Betroffenen von seiner Präsenzpflicht entbunden. Der Verteidiger hat an der Hauptverhandlung teilgenommen.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen der im Bußgeldbescheid genannten Zuwiderhandlung ebenfalls zu einer Geldbuße von 80,00 Euro verurteilt. Er hat gegen die Entscheidung rechtzeitig einen Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gestellt. Er rügt die Verletzung des rechtlichen Gehörs nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG und einen Verstoß gegen das faire Verfahren. Der Verteidiger führt u.a. aus, dass das Gericht überraschenderweise den Zeugen F., den Messbeamten, geladen habe. In Unkenntnis des Ladungsprogramms habe die Verteidigung auf die Ladung des privat beauftragten Sachverständigen S. zu diesem Hauptverhandlungstermin durch einen Gerichtsvollzieher verzichtet. Der Antrag des Verteidigers auf Aussetzung des Verfahrens wegen der überraschenden Vernehmung des Zeugen und der fehlenden Ladung des Sachverständigen habe die Richterin zurückgewiesen. Auch seinen Antrag auf „Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens über die Fehlerhaftigkeit der Messung“ habe das Gericht unter Hinweis auf § 77 StPO (gemeint ist OWiG) abgelehnt, da es zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sei.

II.

Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde war zu verwerfen.

1. Es kann dahinstehen, ob die Verfahrensrüge nach §§ 80 Abs. 3 Satz 1 und 3, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, mit der die Verletzung des rechtlichen Gehörs nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG gerügt wird, zulässig erhoben worden ist. Sie ist jedenfalls unbegründet. Das Amtsgericht hat den Betroffenen weder durch die Ladung und Vernehmung des Zeugen F. noch durch die Ablehnung des Aussetzungs- und des Beweisantrages in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

Danach ist eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nur dann gegeben, wenn festgestellt werden kann, dass dem Betroffenen keine Möglichkeit eingeräumt worden ist, sich zu allen entscheidungserheblichen und ihm nachteiligen Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern (Seitz/Bauer in Göhler, OWiG 18. Aufl., § 80 Rn. 16a, 16c m.w.N.). Zwar ist Art. 103 Abs. 1 GG nach dem Wortlaut als „Jedermann-Recht“ ausgekleidet, aber das Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG steht nur demjenigen zu, der eine unmittelbare rechtliche Beziehung zu einem bestimmten Gerichtsverfahren hat, in welchem er dieses Recht beanspruchen kann. Dazu bedarf es einer gesicherten prozessualen Stellung (vgl. Nolte/Aust in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 103 Rn. 21). In einem Bußgeldverfahren förmlich beteiligt ist der Betroffene. Er ist Träger dieses Rechts und nicht sein Verteidiger, auch wenn dessen Interessen als Beistand ebenfalls betroffen sein können (vgl. Rennert in: Düring/Herzog/Scholz, GG Kommentar, Art. 103 Rn. 47).

Verzichtet – wie vorliegend – der Betroffene freiwillig auf die Teilnahme und nimmt der Verteidiger an der Hauptverhandlung teil, kann das Rechtsbeschwerdegericht einen solchen Verstoß nur dann feststellen, wenn nachvollziehbar ist, wie der abwesende Betroffene sein Recht auf Stellungnahme zu entscheidungserheblichen Tatsachen in einer Abwesenheitsverhandlung wahrgenommen hat bzw. hätte. Allein das Auftreten seines Verteidigers in der Hauptverhandlung reicht dazu nicht aus. Denn in einem Verfahren nach § 74 Abs. 1 OWiG kann der Verteidiger sowohl die ihm als Verteidiger zustehenden Befugnisse (wie z.B. das Recht zur Antragsstellung und zur Befragung des Zeugen) wahrnehmen (vgl. Senat, Beschluss vom 2. September 2015 – 3 Ws (B) 447/15 -, juris) als auch als Vertreter des Betroffenen mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht – in Ausübung dieser Vollmacht – auftreten und an dessen Stelle in der Hauptverhandlung u.a. Erklärungen abgeben oder entgegennehmen sowie Zeugen oder Sachverständige befragen (vgl. § 73 Abs. 3 OWiG) (vgl. Senat, Beschluss vom 12. Januar 2022 – 3 Ws (B) 335/21 -, juris). Will der Verteidiger in der Hauptverhandlung (auch) als Vertreter des abwesenden Betroffenen auftreten, muss dies deutlich zum Ausdruck gebracht werden.

Daran gemessen ist nicht feststellbar, ob und wie der erlaubt abwesende Betroffene sein Recht aus Art. 103 GG in der Hauptverhandlung hätte wahrnehmen wollen. Auch der umfangreiche Rügevortrag des Verteidigers verhält sich dazu nicht. Anhaltspunkte dafür, dass der nach Aktenlage über eine Vertretungsvollmacht verfügende Verteidiger von dieser im Rahmen der Befragung des Zeugen Gebrauch gemacht hat, sind weder vorgetragen noch erkennbar. Denkbar ist auch, dass der Betroffene in Kenntnis der Sachlage doch an der Hauptverhandlung hätte teilnehmen wollen. Hinweise darauf sind weder der Antragsbegründung noch den Akten zu entnehmen.

Der nach Auffassung der Verteidigung fehlerhaft abgelehnte Beweisantrag auf Einholen eines Sachverständigengutachtens und des Antrages auf Aussetzung des Verfahrens (Begründungsschrift S. 10) verletzt den Betroffenen bereits deswegen nicht in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG, weil der Verteidiger diese Anträge im eigenen Namen gestellt hat (vgl. „beantrage ich“ mit der Unterschrift „RA L.“). Insoweit hat er seine Befugnisse als Verteidiger wahrgenommen.

Demnach ist ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör des Betroffenen nicht feststellbar.

2. Soweit der Verteidiger ein Verstoß gegen das faire Verfahren rügt, bleibt auch dieser Angriff ohne Erfolg. Denn die Nichtanwendung des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG (Verletzung rechtlichen Gehörs) auf nicht vom Wortlaut der Norm erfasste Verletzungen des Verfahrensrechts – wie der Verstoß gegen das faire Verfahren – ist Gegenstand gefestigter und vielfach publizierter Rechtsprechung des Senats und entspricht der vorherrschenden Rechtsprechung und der herrschenden Literaturmeinung (vgl. Senat VRS 134, 48; ZfSch 2018, 472 [= StraFo 2018, 383 = NJW-Spezial 2018, 491]; 2021, 288; VRR 2019, Nr. 10, 17 [Volltext bei juris] und Beschlüsse vom 3. Juni 2021 – 3 Ws (B) 148/21 –; BayObLG NZV 1996, 44; OLG Braunschweig, Beschluss vom 19. Oktober 2011 – Ss (OWiZ) 140/11 – [juris]; OLG Saarbrücken SVR 2018, 155 [Volltext bei juris]; Hadamitzky in KK-OWiG 5. Aufl., § 80 Rn. 40; Rebmann/Roth/Herrmann, OWiG, § 80 Rn. 8; Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2; offen: Seitz/Bauer in Göhler, OWiG 18. Aufl., § 80 Rn. 16e [analoge Anwendung „erscheint vertretbar“] unter Hinweis auf BVerfGE 92, 191; GA 1996, 180; NJW 1993, 2167; a. A. OLG Rostock, Beschl. vom 13. Juli 2016 – 21 Ss OWi 103/16 (Z) – [offenkundiges redaktionelles Versehen bei Abfassung der Urteilsformel]). Einer erweiternden Anwendung auf weitere – auch durch die Verfassung ausgeschlossene – Rechtsverletzungen steht bereits der insoweit eindeutige Wortlaut der Vorschrift entgegen. Eine analoge Anwendung stellte einen tiefgreifenden Eingriff in den Normenbestand dar, der ausschließlich dem Gesetzgeber zusteht. Dieser hat aber in Kenntnis des Diskurses – auch bei der Neufassung des § 80a durch Gesetz vom 24. August 2004 (BGBl. I S. 2198) – die bisherige Ausnahmeregelung, die sich auf den Grundsatz des rechtlichen Gehörs beschränkt, ersichtlich bewusst beibehalten (vgl. Hadamitzky in KK-OWiG 5. Aufl., § 80 Rn. 40).

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.

 

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