LG Kiel – Az.: 10 Qs 45/21 – Beschluss vom 02.08.2021
In dem Strafverfahren wegen Körperverletzung u. a. hat das Landgericht Kiel – 10. große Strafkammer – am 2. August 2021 beschlossen:
1. Auf die Beschwerde des Angeklagten vom 18. Mai 2021 wird der Beschluss des Amtsgerichts Kiel vom 06.05.2021 dahingehend abgeändert, dass der Nebenklägervertreterin Einsicht in die Akten gewährt wird mit Ausnahme von
1.1 Seite 3 der Strafanzeige vom 25.08.2020, BI. 3 der Hauptakte Bd I sowie BI. 3 der Hauptakte Bd II
1.2 Zeugenaussage vom 25.08.2020, BI. 32-39 der Hauptakte Bd I
1.3 Bericht Angaben der Rettungskräfte vom 25.08.2020, BI. 11-12 der Hauptakte Bd I sowie BI. 14-15 der Hauptakte Bd II
1.4 Vermerk Telefonat mit der Geschädigten und Frau pp. BI. 74-75 der Hauptakte Bd I
1.5 Zeugenvernehmung vom 16.10.2020, Bl. 221-223 der Hauptakte Bd I
1. 6 Abschrift der Zeugenvernehmung vom 25.08.2020, BI. 233-240 der Hauptakte Bd I
1. 7 Zeugenvernehmung vom 25.08.2020, BI. 241-248 der Hauptakte Bd I
2. Die Kosten der Beschwerde und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers fallen der Landeskasse zur Last.
Gründe:
I.
Die zulässige Beschwerde hat in der Sache nur teilweise Erfolg.
Soweit die Akten zeugenschaftliche Angaben der Nebenklägerin enthalten – sei es unmittelbar, also durch wörtliche Wiedergabe, oder mittelbar, insbesondere in Gestalt von kriminalpolizeilichen Zusammenfassungen -, ist die Einsicht nach § 406e Abs. 2 S. 2 StPO zu versagen. Hinsichtlich des übrigen Akteninhalts ist dagegen weder der Versagensgrund des § 406e Abs. 2 S. 2 StPO noch ein anderer Versagensgrund gegeben.
Nach § 406e Abs. 2 S. 2 StPO kann die Akteneinsicht des Berechtigten versagt werden, soweit der Untersuchungszweck, auch in einem anderen Verfahren, gefährdet erscheint. Der Untersuchungszweck im Sinne dieses gesetzlichen Versagungsgrundes ist gefährdet, wenn durch die Aktenkenntnis des Verletzten eine Beeinträchtigung der gerichtlichen Sachaufklärung (§ 244 II StPO) zu besorgen ist (vgl. nur BT-Drucks. 10/5305, S. 18).
So liegt es hier.
Zur Sicherstellung einer unbefangenen, zuverlässigen und wahren Aussage der Nebenklägerin in einer eventuellen späteren Hauptverhandlung ist es unerlässlich, ihr jede Möglichkeit der vorherigen -Kenntnisnahme vom Inhalt ihrer kriminalpolizeilichen Aussage zu nehmen. Für die Beweisführung steht – abgesehen von den vorliegenden Textnachrichten und den die Verletzungen dokumentierenden Lichtbildern – nämlich ausschließlich die Zeugenaussage der Nebenklägerin zur Verfügung, da sich der Angeschuldigte bislang nicht zur Sache eingelassen hat.
Die weiteren Zeugen haben zum Kerngeschehen keine Angaben machen können. Soweit Verletzungsbilder vorliegen, dokumentieren diese zwar die Folgen der Auseinandersetzung, vermögen aber keinen Aufschluss über Vorgeschehen und konkreten Hergang zu geben.
An einer solchen Verfahrenskonstellation ist – ebenso wie in der Beweiskonstellation von Aussage-gegen-Aussage – regelmäßig das durch § 406e Abs. 2 S. 2 StPO eingeräumte Ermessen da hingehend auf Null reduziert, dass die beantragte Akteneinsicht zu versagen ist (vgl. OLG Hamburg, Beschl. v. 21. März 2016, BeckRS 2016, 7544).
Anderenfalls könnte nämlich später nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass mit der Zeugenaussage in der Hauptverhandlung – bewusst oder unbewusst – nicht etwas tatsächlich Erlebtes wiedergegeben wird, sondern lediglich der Akteninhalt reproduziert wird. Auch besteht die Gefahr, dass hierdurch bei den Verfahrensbeteiligten der falsche Eindruck einer Aussagekonstanz entsteht.
Der Umstand, dass der Angeschuldigte keine eigenen Angaben zum Tatvorwurf macht, sondern sich durch Schweigen verteidigt, steht der Annahme einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation nicht entgegen (vgl. BGH v. 06.12.2012, NStZ 2013, 180).
Dass die Nebenklägervertreterin versichert hat, der Mandantin die Ermittlungsakte nicht zugänglich zu machen, erlaubt keine andere Entscheidung. Denn zum einen ist die Einhaltung einer solchen Versicherung nicht mit der erforderlichen Sicherheit kontrollierbar (vgl. dazu und zum folgenden OLG Hamburg, Beschl. v. 24. Oktober 2014, NStZ 2015, 105). Und zum anderen ist eine solche Versicherung auch nicht durchsetzbar (vgl. dazu OLG Braunschweig, Beschl. v. 3. Dezember 2015, NStZ 2016, 629).
Der vielfach vertretenen Auffassung, dass die Gewährung von Akteneinsicht für den Nebenkläger den Angeklagten nicht beschwere, sondern im Gegenteil für diesen günstig sei, weil einer in der Hauptverhandlung gegebenen Aussagekonstanz infolgedessen nur eine erhebliche reduzierte Beweiskraft beigemessen werden könne (vgl. dazu OLG Schleswig, Beschluss vom 17. April 2018, Az. 1 Ws 195/18 (123/18), zitiert nach juris; OLG Braunschweig a.a.O.), kann schon deshalb nicht gefolgt werden, weil es mit dem im Rechtsstaatsprinzip verfassungsrechtlich angelegten Grundsatz der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege unvereinbar ist, wenn das Gericht durch die Gewährung von Akteneinsicht für den Nebenkläger schon vorab dafür sorgt, dass das Verfahren faktisch nur noch mit einem Freispruch enden kann (vgl. dazu OLG Hamburg, Beschl. V. 21. März 2016, a.a.O.). Im Übrigen ist aber auch durchaus zweifelhaft, dass die Gewährung von Akteneinsicht für den Nebenkläger quasi naturgesetzlich einen Freispruch zur Folge hat. Vielmehr besteht durchaus auch die Gefahr, dass das Gericht es unterlässt, sich näher mit einer möglichen Verursachung der Aussagekonstanz allein durch vorherige Akteneinsicht auseinanderzusetzen, und auf dieser Grundlage zu Unrecht zu einem Schuldspruch gelangt (vgl. dazu und zum folgende OLG Hamburg, Beschl. v. 23. Oktober 2018, BeckRS 2018, 28084). Diese Gefahr ist umso größer einzuschätzen, als es nach höchstrichterlicher Rechtsprechung grundsätzlich nicht geboten ist, im späteren Urteil eine etwaige Kenntnis des Nebenklägers vom Inhalt der Verfahrensakten im Zusammenhang mit der Aussageanalyse zu erörtern, sondern nur dann, wenn Hinweise auf eine konkrete Falschaussagemotivation des Nebenklägers oder Besonderheiten in seiner Aussage dazu Anlass geben (vgl. BGH, Beschl. v. 5. April 2016, NStZ 2016, 367). Der Ange-klagte kann also infolge einer Akteneinsichtsgewährung sogar einem erhöhten Risiko unterliegen, zu Unrecht verurteilt zu werden.
Die Kammer verkennt nicht, dass das Informationsrecht der Nebenklägerin sowie deren Recht auf Fürsorge, Gleichbehandlung und Menschenwürde durch die Versagung der Akteneinsicht nicht unerheblich eingeschränkt werden, doch ist dies von ihr im vorliegenden Einzelfall zur Sicherstellung der Wahrheitsfindung hinzunehmen, an der auch sie ein alles überragendes Interesse haben muss.
II.
Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.
Von einer teilweisen Belastung des Beschwerdeführers mit den Kosten des Beschwerdeverfahrens und seinen notwendigen Auslagen gemäß § 473 Abs. 4 StPO hat die Kammer abgesehen. Denn es ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer die angefochtene Entscheidung hingenommen hätte, wenn sie schon entsprechend der Entscheidung der Kammer gelautet hätte (vgl. dazu LR-StPO/Hilger, 26. Auflage, § 473 Rn. 51).
Die notwendigen Auslagen der Nebenklägerin trägt diese selbst (vgl. Münchener Kommentar zur StPO / Maier, 1. Auflage 2019, § 473 Rdnr. 127 m.w.N.).