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Aktenversendungspauschale – Erstattung bei Freispruch?

VerfGH Berlin – Az.: VerfGH 91/21 – Beschluss vom 18.05.2022

Der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 27. April 2021 – 288 OWi 223/21 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf willkürfreie Entscheidung (Art. 10 Abs. 1 der Verfassung von Berlin – VvB), soweit darin über die Erstattung einer Aktenversendungspauschale von 12,- Euro zuzüglich Umsatzsteuer entschieden ist. Der Beschluss wird insoweit aufgehoben. In diesem Umfang wird die Sache an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen.

Damit ist der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 21. Mai 2021 – 288 OWi 223/21 – gegenstandslos.

Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

I.

Der Polizeipräsident in Berlin erließ einen Bußgeldbescheid gegen die Beschwerdeführerin. Ihr Verteidiger erhob Einspruch und beantragte Akteneinsicht durch Übersendung eines Ausdrucks der Verfahrensakte. Der Polizeipräsident in Berlin entsprach dem Antrag und erhob dafür von dem Verteidiger eine Aktenversendungspauschale von 12,- €. Der Verteidiger stellte diese der Beschwerdeführerin zuzüglich Umsatzsteuer in Rechnung.

Nach Eingang der Einspruchsbegründung hob der Polizeipräsident in Berlin den Bußgeldbescheid auf, stellte das gegen die Beschwerdeführerin eingeleitete Verfahren ein und ordnete an, dass die Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu tragen hat. Die Beschwerdeführerin beantragte gerichtliche Entscheidung hinsichtlich der Entscheidung über die Tragung ihrer notwendigen Auslagen. Das Amtsgericht verpflichtete die Landeskasse daraufhin, die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin zu tragen.

Der Verteidiger beantragte daraufhin die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin. Insoweit machte er auch die Erstattung der Aktenversendungspauschale in Höhe von 12,- € zuzüglich Umsatzsteuer geltend. Mit Bescheid vom 21. Januar 2021 setzte der Polizeipräsident in Berlin die der Beschwerdeführerin zu erstattenden notwendigen Auslagen in geringerem Umfang fest, als vom Verteidiger beantragt. Unter anderem lehnte er die Erstattung der Aktenversendungspauschale nebst Umsatzsteuer ab. Den Antrag der Beschwerdeführerin auf gerichtliche Entscheidung verwarf das Amtsgericht mit Beschluss vom 27. April 2021 als unbegründet. Hinsichtlich der Aktenversendungspauschale führte es zur Begründung aus, diese könnte nicht erstattet werden, weil es sich um eine Zahlung für eine Serviceleistung an den Rechtsanwalt handele, der sich damit eine kostenlose, aber zeitaufwändige Akteneinsicht bei der Bußgeldstelle erspare. Die Anhörungsrüge wies das Amtsgericht zurück.

Die Beschwerdeführerin hat gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 27. April 2021 Verfassungsbeschwerde erhoben, soweit darin die Erstattung der Aktenversendungspauschale abgelehnt wurde. Zur Begründung führt sie aus, die Verweigerung der Erstattung der Aktenversendungspauschale sei willkürlich. Der von dem Amtsgericht zur Begründung angeführte Umstand, es handele sich bei der Auslagenversendungspauschale um eine Zahlung für eine Serviceleistung, mit der der Verteidiger sich eine kostenlose, zeitaufwändige Akteneinsicht bei der Verwaltungsbehörde erspare, könne die Verweigerung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt tragen.

Sie beantragt, festzustellen, dass der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 27. April 2021 – 288 Owi 223/21 – sie in ihren Grundrechten aus Art. 10 Abs. 1, 15 Abs. 1 VvB verletzt, insoweit ihr in diesem Beschluss die Erstattung einer Aktenversendungspauschale von 12,- € zuzüglich Umsatzsteuer versagt wird, den Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten insoweit aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht Tiergarten zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen.

Der Äußerungsberechtigte meint, die gerügten Verfassungsverstöße lägen nicht vor.

II.

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die Ablehnung der Erstattung der Auslagenversendungspauschale verletzt Art. 10 Abs. 1 VvB in seiner Ausprägung als Willkürverbot. Ein Richterspruch verstößt gegen das Verbot objektiver Willkür, wenn die angegriffene Rechtsanwendung oder das Verfahren unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar sind und sich daher der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden Erwägungen beruht. Dies ist etwa der Fall, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird (BVerfG, Beschlüsse vom 13. Oktober 2015 – 2 BvR 2436/14 -, juris Rn. 21; vom 24. September 2014 – 2 BvR 2782/10 -, juris Rn. 29).

So liegt der Fall hier. Die mit der Verfassungsbeschwerde allein angegriffene Versagung der Erstattung der Aktenversendungspauschale durch den Beschluss vom 27. April 2021 verletzt das Grundrecht der Beschwerdeführerin auf eine willkürfreie Entscheidung gemäß Art. 10 Abs. 1 VvB. Der Beschluss ist insoweit, gemessen an seiner Begründung, unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr vertretbar. Die Entscheidung über die Erstattung der Aktenversendungspauschale musste sich daran orientieren, ob es sich dabei um Auslagen der Beschwerdeführerin in dem genannten Verfahren handelte und ob diese notwendig waren. Das ergibt sich aus der amtsgerichtlichen Kostengrundentscheidung, die die Staatskasse zur Tragung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin in dem gegen sie geführten Ordnungswidrigkeitenverfahren verpflichtet hatte. Zu diesem der Entscheidung über die Erstattung der Aktenversendungspauschale zugrunde zulegenden Maßstab weist die Begründung des Amtsgerichts, die Aktenversendungspauschale sei eine Servicepauschale, die der Verteidiger dafür bezahle, dass er sich eine Akteneinsicht bei der Behörde oder eine Mitnahme der Akte erspare, keinen sachlichen Bezug mehr auf. Weder nimmt das Argument des Amtsgerichts der Aktenversendungspauschale offenkundig die Eigenschaft als Auslage der Beschwerdeführerin, noch lässt es deren Notwendigkeit offensichtlich entfallen. Eine Konkretisierung des abstrakten rechtlichen Entscheidungsmaßstabes, die einen sachlichen Bezug zwischen den Begriffen Auslage und Notwendigkeit einerseits und der Begründung des Beschlusses herstellen könnte, hat das Amtsgericht nicht ausgeführt.

Die angefochtene Entscheidung beruht, soweit sie die Erstattung der Aktenversendungspauschale betrifft, auch auf diesem Verstoß gegen das Willkürverbot, da sie keine selbstständig tragende verfassungskonforme Alternativbegründung enthält und sich bei methodisch korrekter Anwendung des einschlägigen Fachrechts auch nicht als einzig in Betracht kommende Entscheidung darstellt. Die verfahrensgegenständliche Aktenversendungspauschale kann als Auslage der Beschwerdeführerin angesehen werden. Auslagen sind Vermögenswerte, d.h. in Geld messbare Aufwendungen eines Verfahrensbeteiligten, die bei der Rechtsverfolgung bzw. der Geltendmachung prozessualer Rechte entstanden sind. Aufwendungen eines Dritten sind als Auslagen des Beteiligten anzusehen, wenn ihm der Beteiligte zum Ersatz verpflichtet ist (vgl. Gieg, Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Auflage 2019, § 464a StPO Rn. 6). Die Verpflichtung zur Zahlung der Aktenversendungspauschale ist gegenüber dem Verteidiger der Beschwerdeführerin durch deren Verteidigung gegen den verfahrensgegenständlichen Ordnungswidrigkeitenvorwurf entstanden. Die Beschwerdeführerin ist ihrem Verteidiger insoweit auch aus dem mit ihm bestehenden Geschäftsbesorgungsvertrag zum Ersatz verpflichtet.

Die Aktenversendungspauschale kann auch als notwendige Auslage angesehen werden. Notwendig ist eine Auslage, wenn sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder zur Geltendmachung prozessualer Rechte erforderlich war (vgl. Gieg, a. a. O.). Das kann schon dann anzunehmen sein, wenn der vernünftige und besonnene Verfahrensbeteiligte sie für geboten halten durfte. Angesichts des Umstandes, dass die einzige andere Möglichkeit, Akteneinsicht zu erlangen, vorliegend eine Einsichtnahme in die elektronisch geführte Verfahrensakte an einem Bildschirm in den Räumen des Polizeipräsidenten in Berlin war, dürfte dies auch naheliegen. Denn diese Möglichkeit der Akteneinsicht stellt sich gegenüber der von dem Verteidiger der Beschwerdeführerin erbetenen Übersendung eines Ausdrucks der Verfahrensakte zweifellos als die deutlich zeit- und kostenaufwändigere Alternative dar.

Ob die angegriffene Entscheidung die Beschwerdeführerin auch in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 15 Abs. 1 VvB verletzt, kann danach dahinstehen.

III.

Die angegriffene Entscheidung wird nach § 54 Abs. 3 VerfGHG insoweit aufgehoben, als darin über die Nichterstattung der Aktenversendungspauschale nebst Umsatzsteuer entschieden worden ist. In entsprechender Anwendung des § 95 Abs. 2 Halbsatz 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes wird die Sache im Umfang der Aufhebung an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen.

Damit ist der Rügebeschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 21. Mai 2021 – 288 OWi 223/21 – gegenstandslos.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.

 

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