LG Kleve – Az.: 120 Qs – 305 Js 87/16 – 45/18 – Beschluss vom 24.08.2018
Der Haftbefehl des Amtsgerichts Kleve vom 08.03.2017 wird auf Kosten der Landeskasse, die auch die im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten zu tragen hat, aufgehoben.
Gründe
I.
Die Staatsanwaltschaft hat unter dem 09.06.2016 gegen den Betroffenen und Beschwerdeführer Anklage wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln, Diebstahls und Nötigung erhoben. Nachdem ein erster Hauptverhandlungstermin am 07.12.2016 nicht hatte durchgeführt werden können, weil der Angeklagte nicht erschienen war, beraumte das Amtsgericht neuen Termin zur Hauptverhandlung auf den 08.03.2017 an. Auch diesen Termin nahm der Angeklagte nicht wahr. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das Amtsgericht daher noch am selben Tage einen Sicherungshaftbefehl gegen den Angeklagten. Im Zusammenhang mit der darauf von der Staatsanwaltschaft eingeleiteten Fahndung nach dem Angeklagten erließ die Staatsanwaltschaft einen Europäischen Haftbefehl. Aufgrund dieses Haftbefehls wurde der Angeklagte in den Niederlanden festgenommen.
Mit der von seinem Verteidiger eingelegten Beschwerde wendet sich der Angeklagte gegen den Haftbefehl vom 08.03.2017. Er macht geltend, dass der Haftbefehl nicht hätte erlassen werden dürfen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig und hat in der Sache Erfolg. Der ausdrücklich auf § 230 Abs. 2 StPO gestützte Haftbefehl vom 08.03.2017 hätte gegen den Angeklagten nicht erlassen werden dürfen, weil diese nicht ordnungsgemäß zu dem auf diesen Tag anberaumten Hauptverhandlungstermin geladen worden war.
In diesem Zusammenhang ist bereits fraglich, ob die Ladung des Amtsgerichts den Angeklagten überhaupt erreicht hat. Die Ladung ist per „Einschreiben – Rückschein“ an den Angeklagten verschickt worden. In der Akte befindet sich der Ausdruck einer Internetseite der Deutschen Post, demzufolge das Ladungsschreiben mit der für das Schriftstück vergebenen Sendungsnummer am 31.12.2016 zugestellt worden ist. Diesem Ausdruck ist indes der dem Ladungsschreiben beigefügte Rückschein angeheftet, welcher über eine ordnungsgemäße Auslieferung gerade keine Angaben enthält: Weder ergibt sich aus dem Rückschein das Datum der Zustellung, noch ist er von einem Mitarbeiter eines niederländischen Postunternehmens oder dem Angeklagten selbst unterschrieben worden. Vor diesem Hintergrund kann der Nachweis der Zustellung anhand der vorliegenden Unterlagen nicht zweifelsfrei geführt werden.
Aber auch wenn man diese Zweifel überwindet, leidet die Ladung an einem weiteren Mangel, der dem Erlass eines Haftbefehls nach Maßgabe des § 230 Abs. 2 StPO entgegensteht. Gemäß § 216 Abs. 1 S. 1 StPO geschieht die Ladung eines auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten unter der Warnung, dass im Fall seines unentschuldigten Ausbleibens seine Verhaftung oder Vorführung erfolgen werde. Die Beifügung dieser Warnung ist wesentlicher Bestandteil einer ordnungsgemäßen Ladung. Fehlt diese Warnung, können gegen den Angeklagten nicht die in § 230 Abs. 2 StPO vorgesehenen Zwangsmittel ergriffen werden (vgl. dazu Gmel, in Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Auflage, § 230 RdNr. 10; Meyer-Goßner, in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Auflage, § 216 RdNr. 4, jeweils mit weiteren Nachweisen).
Eine derartige Warnung enthält die nunmehr von der Staatsanwaltschaft übermittelte Kopie des Ladungsschreibens vom 15.12.2016 gerade nicht. Es liegt auch kein Ausnahmefall vor, in dem von der Beifügung der Warnung abgesehen werden kann. Zwar kann die Warnung unterbleiben, wenn die Hauptverhandlung ohne den Angeklagten durchgeführt werden kann (vgl. § 216 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 232 StPO). Doch auch auf diese Möglichkeit müsste der Angeklagte nach § 232 Abs. 1 S. 1 StPO hingewiesen werden. Zudem stellte es nach Auffassung der Kammer einen Widerspruch dar, wenn das erkennende Gericht einerseits erklärte, auch ohne den Angeklagten die Hauptverhandlung durchführen zu wollen, andererseits aber seine Anwesenheit in der Verhandlung mit Zwangsmittel durchsetzte. Soweit schließlich eine Ausnahme von dem Erfordernis einer der Ladung beizufügenden Warnung für die Fälle vorgesehen wird, dass ein Angeklagter zu einer Hauptverhandlung über eine Berufung (vgl. § 329 Abs. 1 StPO) oder über den Einspruch gegen einen Strafbefehl (§ 412 StPO) nicht erscheint (vgl. dazu Meyer-Goßner a. a. O.), liegt auch ein derartiger Ausnahmefall nicht vor.
Die Kammer vermag auch der Auffassung der Staatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 22.08.2018 nicht zu folgen, derzufolge bereits die Existenz des Europäischen Haftbefehls dafür spreche, dass der Haftbefehl auch ohne Androhung von Zwangsmitteln im Ausland vollstreckt werden könne. Diese Auffassung verkennt, dass ein Europäischer Haftbefehl nur dann Bestand haben kann, wenn die Verhaftung nach den Vorschriften des Rechts des Mitgliedstaats der Europäischen Union, der den Haftbefehl erlassen hat, seinerseits rechtmäßig ist. Der Europäische Haftbefehl soll die Vollstreckung des nach nationalem Recht ergangenen Haftbefehls auch jenseits der Grenzen des Staates, in dem er ergangen ist, ermöglichen und sie auch vereinfachen. Jedoch schafft das Recht der Europäischen Union und hier in 1. Linie der Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union vom 13.06.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI) keinen eigenständigen weiteren Haftgrund.
Aus den Vorschriften des Rechts der Europäischen Union kann zudem nicht die Auffassung hergeleitet werden, dass eine Warnung in Fällen wie dem vorliegenden entbehrlich ist, um von einer ordnungsgemäßen Ladung auszugehen. Wollte man dies vertreten, würden im Ausland wohnende Angeklagten gegenüber denjenigen, die sich in Deutschland aufhalten, benachteiligt, weil gegen letztgenannte nur dann Zwangsmaßnahmen ergriffen werden können, wenn ihre Ladung die Warnung nach § 216 StPO beinhaltet. Eine solche Ungleichbehandlung verstieße auf Europäischer Ebene gegen das dort verankerte Diskriminierungsverbot (vgl. Art 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union).
Eine derart unterschiedliche Behandlung ist auch nicht deshalb gerechtfertigt, weil nach der – soweit erkennbar – einhellig vertretenen Auffassung die bezeichnete Warnung gegenüber im Ausland lebenden Personen die Ausübung hoheitlicher Gewalt auf fremdem Staatsgebiet und damit ein den unzulässigen Eingriff in die Souveränität eines fremden Staates darstellt und damit einem allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts (vgl. Art. 25 GG) widerspricht. Ob daraus abzuleiten ist, dass eine mit der beschriebenen Warnung verbundene Ladung an in Ausland wohnende Angeklagte ausnahmslos als unwirksam anzusehen ist (so wohl die in der Beschwerde zitierte Entscheidung des OLG Köln vom 18.10.2005 – 2 Ws 488/05) oder im Anschluss eine im Vordringen begriffene Rechtsprechung die Warnung der Wirksamkeit der Ladung jedenfalls dann nicht entgegensteht, wenn sie den eindeutig einschränkenden Hinweis enthält, dass die Vollstreckung der angedrohten Zwangsmaßnahmen ausschließlich im Geltungsbereich der Strafprozessordnung erfolgt (vgl. dazu OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16.09.2014 – 2 Ws 334/14 -, zitiert nach juris, mit weiteren Nachweisen), bedarf hier keiner Entscheidung. Denn wie bereits ausgeführt worden ist, ist hier überhaupt keine Warnung ausgesprochen worden. Darüber hinaus wäre es höchst widersprüchlich und stellte sogar eine Täuschung des Angeklagten dar, wenn die Justizbehörden im Anschluss an die zuletzt vertretene Auffassung eine Warnung aussprechen, derzufolge Zwangsmaßnahmen gegen den säumigen Angeklagten nur auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ergriffen werden können, dann aber diese Zwangsmaßnahmen mit Hilfe eines Europäischen Haftbefehls gleichwohl im Ausland durchsetzt.
Die Ingewahrsamnahme durch den niederländischen Staat stellt keinen Verzicht auf den völkerrechtlichen Schutz dar, da die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Haftbefehls Aufgabe des Erlassstaates ist.
Ob die vorstehenden Überlegungen zu dem Ergebnis führen, dass ein im Ausland lebender Angeklagter, der den an ihn gerichteten Ladungen zum Hauptverhandlungstermin nicht folgt, grundsätzlich keine Zwangsmaßnahmen befürchten muss, weil gegen ihn entweder schon keine Warnung ausgesprochen werden darf oder diese allein für das Gebiet der Bundesrepublik gilt, lässt die Kammer offen. Es sollte jedoch überlegt werden, ob die Auslegung des § 216 Abs. 1 StPO, wonach der Ausspruch der dort beschriebenen Warnung gegenüber im Ausland wohnenden Personen eine unzulässige Ausübung von deutschen Hoheitsrechten darstellt, nach Einführung der Vorschriften über den Europäischen Haftbefehl (vgl. dazu den Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union vom 13.06.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI) noch zeitgemäß ist. Im Hinblick auf die mit dem Erlass des Rahmenbeschlusses vom 13.06.2002 verfolgten Zwecke (Vereinfachung und Verbesserung der Zusammenarbeit bei grenzüberschreitender strafrechtlicher Verfolgung, vgl. dazu insbesondere die Erwägungsgründe 5, 8 und 11 des Rahmenbeschlusses), ist zu diskutieren, ob die völkerrechtlichen Bedenken jedenfalls für das Gebiet der Europäischen Union nicht zurücktreten müssen und die Warnung nach § 216 Abs. 1 StPO gegen die in der Union wohnenden Angeklagten ausgesprochen werden und bei ihrer Nichtbeachtung gegebenenfalls den Erlass eines Europäischen Haftbefehls rechtfertigen kann.
Im Interesse des einheitlichen europäischen Rechtsraumes müsste innerhalb der EU zumindest die Warnung, dass auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls die Verhaftung durch die Behörden des Wohnsitzstaates droht, zulässig sein.
Geht man demgegenüber davon aus, dass angesichts der vorstehend dargelegten Umstände es letztlich nicht möglich ist, einen Sicherungshaftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO gegen einen im Ausland wohnenden Angeklagten zu erlassen und im Aufenthaltsstaat auch durchzusetzen, besteht daneben die Möglichkeit, einen Untersuchungshaftbefehl nach Maßgabe des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO wegen Fluchtgefahr zu erlassen. Auf diese Möglichkeit hat bereits die von der Verteidigung zitierte Entscheidung des OLG Köln vom 18.10.2005 – 2 Ws 488/05 -, abgedruckt unter NStZ-RR 2006, 22, hingewiesen und in diesem Zusammenhang die Auffassung vertreten, dass Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO besteht, wenn sich aus dem gesamten Verhalten des Beschuldigten ergibt, dass er nicht bereit ist, am Strafverfahren so weit mitzuwirken, wie er hierzu verpflichtet ist (nähere Ausführungen dazu in einem weiteren Beschluss des OLG Köln vom 07.08.2002 – 2 Ws 358/02 -, abgedruckt unter NStZ 2003, 219). Ob hier eine solche Fluchtgefahr besteht, ist jedoch nicht unzweifelhaft, da bislang jedenfalls nicht nachgewiesen worden ist, dass den Angeklagten die an ihn gerichteten Ladungen zu den Hauptverhandlungsterminen erreicht haben.
Darüber hinaus wäre die Kammer auch aus einem weiteren Grund gehindert, den bestehenden Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO durch einen Untersuchungshaftbefehl zu ersetzen. Dahinstehen kann dabei, ob dies schon daraus folgt, dass die für den Erlass eines neuen Haftbefehls bestehende Erstzuständigkeit des Amtsgerichts umgangen würde (so OLG Köln, NStZ-RR 2006, 22, 23; OLG Hamm, NStZ-RR 2009, 89, 90), weil das Beschwerdegericht grundsätzlich alle in der Sache erforderlichen Entscheidungen selbst zu treffen hat (vgl. § 309 Abs. 2 StPO). Einer eigenen Entscheidung der Kammer steht jedoch entgegen, dass der gegen den Angeklagten von der Staatsanwaltschaft erlassener Europäischer Haftbefehl Bezug auf die angefochtene Entscheidung vom 08.03.2017 nimmt. Eine „Ersetzung“ der dem Europäischen Haftbefehl zu Grunde liegenden deutschen Entscheidung wäre nach Auffassung der Kammer ein Verstoß gegen den Spezialitätsgrundsatz und könnte zu ernsthaften Meinungsverschiedenheiten zwischen den beteiligten Staaten führen.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.
Ob nicht doch ein besonders schwerer räuberischer Diebstahl vorliegt, muss die Kammer vorliegend nicht prüfen.