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ANOM-App des FBI – erhobenen Date unterliegen keinem Beweisverwertungsverbot

OLG Saarbrücken – Az.: 4 HEs 35/22 – Beschluss vom 30.12.2022

1. Die Fortdauer der Untersuchungshaft wird angeordnet.

2. Die weitere Haftprüfung (§ 117 Abs. 1 StPO) wird dem Landgericht Saarbrücken – 4. Große Strafkammer – für die Dauer von höchstens drei Monaten übertragen (§ 122 Abs. 3 Satz 3 StPO).

3. Neuer Termin zur Haftprüfung (§ 122 Abs. 4 StPO) wird bestimmt auf den 30. März 2022.

Zusammenfassung

Verdacht des illegalen Drogenhandels: Angeklagter bleibt in Untersuchungshaft.

Der Angeklagte V. wird aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Saarbrücken vom 2. Juli 2022 und eines Beschlusses der 4. Großen Strafkammer des Landgerichts Saarbrücken vom 30. November 2022 in Untersuchungshaft bleiben. Die Anklage vom 21. Oktober 2022, die den Angeklagten und drei weitere Tatverdächtige betrifft, wurde zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Am 4. Januar 2023 soll das Hauptverfahren beginnen. Der Angeklagte wird sich sechs Monate in Untersuchungshaft befinden, bevor der Senat gemäß §§ 121, 122 StPO über die Frage der Haftfortdauer entscheidet.

Aniom App Beweisverwertung
(Symbolfoto: mundissima/Shutterstock.com)

Der Angeklagte wird verdächtigt, Betäubungsmittel in nicht geringer Menge illegal gehandelt zu haben. Er soll über den Krypto-Provider „A.“ unter dem Nutzernamen „h.“ gehandelt haben. Die Beweismittel für diesen Verdacht wurden im Zuge eines Rechtshilfeersuchens durch das FBI gewonnen. Die Kommunikationsinhalte wurden auf einem Server des Providers A. gesichert und den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung gestellt. Das deutsche Prozessrecht gestattet die Verwertung der im Ausland gesicherten Beweise in einem Strafverfahren gegen den Angeklagten, da es keine ausdrücklichen Verwendungsbeschränkungen für im Wege der Rechtshilfe aus dem Ausland erlangte Daten gibt. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die im Ausland erhobenen Beweise unter Verstoß gegen völkerrechtlich verbindliche Garantien oder gegen allgemeine rechtsstaatliche Grundsätze gewonnen wurden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus vorliegen. Die Ermittlungen waren aufgrund der Anzahl der Tatverdächtigen und der Notwendigkeit der Auswertung zahlreicher Beweismittel und Spuren sehr aufwendig und wurden innerhalb eines angemessenen Zeitraums von dreieinhalb Monaten abgeschlossen. Es gab zwar eine Verzögerung von rund zwei Wochen aufgrund einer verzögerten Vollstreckung eines Durchsuchungsbeschlusses, diese wurde jedoch im weiteren Fortgang der Ermittlungen kompensiert. Auch die Zurücknahme und erneute Erhebung der Anklage hat die Zulässigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft nicht beeinträchtigt. Das Hauptverfahren wird innerhalb von nur geringfügig mehr als zwei Monaten nach Erhebung der Anklage und wenige Tage nach Ablauf der Frist des § 121 Abs. 1 StPO beginnen, was den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die beschleunigte Bearbeitung von Verfahren, in denen Angeklagte sich in Untersuchungshaft befinden, genügt. Angesichts des Verfahrensgegenstands und seiner Bedeutung sowie der Schwere des Eingriffs in das in Art. 2 Abs. 2 GG garantierte Freiheitsrecht des Angeklagten rechtfertigen die Gründe, die ein Urteil noch nicht zugelassen haben, die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft, die auch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe steht.

Gründe

I.

Der Angeklagte wird sich aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Saarbrücken vom 2. Juli 2022 (Az.: ZBG-AR 1137/22), aufrechterhalten durch Beschluss der 4. Großen Strafkammer des Landgerichts Saarbrücken vom 30. November 2022 (Az.: 4 KLs 47/22), mit dem das Landgericht die zwischenzeitlich gegen den Angeklagten und drei weitere Tatverdächtige erhobene Anklage vom 21. Oktober 2022 zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet hat, am 2. Januar 2023 sechs Monate in Untersuchungshaft befinden, bevor das Hauptverfahren am 4. Januar 2023 beginnen wird. Der Senat ist daher gemäß §§ 121, 122 StPO berufen, über die Frage der Haftfortdauer zu entscheiden.

II.

Die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft ist gerechtfertigt. Sowohl die allgemeinen Voraussetzungen für das Fortbestehen der Untersuchungshaft als auch die in § 121 Abs. 1 StPO gesetzlich festgeschriebenen besonderen Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

1. Der Angeklagte ist der ihm im Haftbefehl des Amtsgerichts Saarbrücken vom 2. Juli 2022 (Bl. 272 ff. d.A.) zur Last gelegten Taten des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge weiterhin dringend verdächtig. Soweit der Haftbefehl vom 2. Juli 2022 das Tatgeschehen rechtlich neben einer Strafbarkeit gemäß § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG zugleich als bewaffnetes unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge einordnet (§ 29a Abs. 1 Nr. 2, § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG), handelt es sich um ein offensichtliches redaktionelles Versehen, das auf Wirksamkeit, Bestand und Fortdauer der Untersuchungshaft keine Auswirkungen hat. Wegen der Einzelheiten der verdachtsbegründenden Umstände wird auf den Haftbefehl sowie die zwischenzeitlich zur Hauptverhandlung zugelassene Anklageschrift vom 21. Oktober 2022 (Bl. 548 ff. d.A.) und das darin niedergelegte wesentliche Ergebnis der Ermittlungen Bezug genommen.

a) Danach ist insbesondere anzunehmen, dass es sich bei dem Angeklagten V. um den Nutzer der Kennung „h.“ des Krypto-Providers „A.“ handelt, der hierüber den Handel mit Betäubungsmitteln, hinsichtlich dessen sich ein dringender Verdacht im Übrigen jedenfalls hinsichtlich der Taten zu Ziff. 3. bis 6. des Haftbefehls vom 2. Juli 2022 aus den Ergebnissen der nationalen zunächst verdeckt sowie sodann offen geführten Ermittlungsmaßnahmen (Telekommunikationsüberwachung, Observation, Durchsuchungsmaßnahmen) ergibt, abgewickelt hat. Die überwachte Kommunikation, die den dringenden Tatverdacht für die Nutzung des Kryptodienstes A. durch den Angeklagten unter der Kennung „h.“ zum Zwecke der Abwicklung des Handels mit Betäubungsmitteln begründet und zur Einleitung des Ermittlungsverfahrens führte, ist nach derzeitigem Stand im Strafverfahren auch verwertbar. Das US-amerikanische Federal Bureau of Investigation (FBI) hat die Kommunikationsinhalte im Zuge gegenseitiger Rechtshilfe von einem nicht näher bezeichneten Mitgliedstaat der Europäischen Union erhalten, in dem sie aufgrund einer gerichtlichen Anordnung über einen Server des Providers A. gesichert worden waren, und stellte sie sodann unter Erteilung einer Genehmigung zur justiziellen Verwertung den Strafverfolgungsbehörden der jeweiligen Länder, hier dem Bundeskriminalamt, zur Verfügung (vgl. Vermerk der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main – Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität – vom 20. Mai 2021, S. 3 = Bl. 5 d.A.). Die Verwertung der auf diese Weise im Ausland außerhalb des vorliegenden Strafverfahrens erhobenen Beweise in dem Strafverfahren gegen den Angeklagten ist vom nationalen Prozessrecht gedeckt. Verfassungsgemäße Rechtsgrundlage für die Verwertung in der Hauptverhandlung erhobener Beweise ist § 261 StPO, unabhängig davon, ob diese zuvor im Inland oder auf sonstige Weise – etwa im Wege der Rechtshilfe – erlangt worden sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2500/09 und 857/10, BVerfGE 130, 1 ff. Rn. 120, 137 ff. m.w.N.; BGH, Beschluss vom 2. März 2022 – 5 StR 457/21 -, juris Rn. 25). Ausdrückliche Verwendungsbeschränkungen für im Wege der Rechtshilfe aus dem Ausland erlangte Daten sieht das deutsche Recht nicht vor (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 – 5 StR 457/21 -, juris Rn. 25). Soweit gleichsam die dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung tragenden Wertungen der auch bei grenzüberschreitendem Datenverkehr anwendbaren (vgl. BGH, Beschluss vom 21. November 2012 – 1 StR 310/12, juris) strafprozessualen Verwendungsbeschränkungen sowohl des § 479 Abs. 2 i.V.m. § 161 Abs. 3 StPO als auch des § 100e Abs. 6 StPO Berücksichtigung zu finden haben (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 – 5 StR 457/21 -, juris Rn. 25 und Rn. 68), schließt dies die Verwendung der vom FBI erlangten Daten und Kommunikationsinhalte im konkreten Fall aufgrund des dringenden Tatverdachts der Begehung von Straftaten des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG als Katalogtaten im Sinne von § 161 Abs. 3 und § 100e Abs. 6 StPO nicht aus (vgl. OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 22. November 2021 – 1 HEs 427/21 -, StraFo 2022, 203 f.; vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 – 5 StR 457/21, juris Rn. 68 zur Heranziehung des Schutzniveaus aus § 100e Abs. 6 StPO im Fall der Verwertung von im Ausland gesicherter EncroChat-Kommunikation), zumal eine Verwertung von Erkenntnissen aus dem Kernbereich privater Lebensführung aufgrund des Inhalts der gesicherten Kommunikation nicht zu besorgen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 – 5 StR 457/21 -, juris Rn. 68).

b) Der Verwertbarkeit steht auch nicht entgegen, dass die vom Angeklagten genutzte A.-App vom FBI mit dem Ziel entwickelt und dem Markt verdeckt zur Verfügung gestellt worden ist, die über den Server des Providers A. laufende, Ende zu Ende verschlüsselte Kommunikation aufgrund gerichtlicher Anordnung des bislang nicht näher benannten EU-Mitgliedstaates, in dem der Server gelegen ist, zu erheben und mittels eines bei der Entwicklung angehefteten Master-Keys zu entschlüsseln.

aa) Aufgrund des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung (Art. 82 AEUV) lässt ein von den nationalen deutschen Vorschriften abweichendes Verfahren die Verwertbarkeit von im Ausland erhobenen Beweisen grundsätzlich unberührt (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 – 5 StR 457/21 -, juris Rn. 50 ff., 73 ff. m.w.N.; Schomburg/Lagodny/Hackner, IRG Vor § 68 Rn 11 m.w.N.), und die nationalen deutschen Gerichte sind nicht verpflichtet, die Rechtmäßigkeit von originär im Ausland, mithin nicht aufgrund deutschen Rechtshilfeersuchens durchgeführten Ermittlungsmaßnahmen anhand der Vorschriften des ausländischen Rechts auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 – 5 StR 457/21 -, juris Rn. 26 ff. m.w.N.; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 22. November 2021 – 1 HEs 427/21 -, StraFo 2022, 203, 204). Das Vorliegen eines Beweisverwertungsverbots ist demnach ausschließlich nach nationalem Recht zu bestimmen.

bb) Danach ergibt sich ein Beweisverwertungsverbot vorliegend weder aus rechtshilfespezifischen Gründen noch aus nationalem Verfassungs- oder Prozessrecht oder den Vorgaben der EMRK (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 – 5 StR 457/21 -, juris Rn. 25 ff.). Insbesondere bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die im Ausland erhobenen Beweise unter Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien, wie etwa Art. 3 oder Art. 6 EMRK, oder unter Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze i.S.d. ordre public (vgl. § 73 IRG) gewonnen wurden oder die Ermittlungshandlung der Umgehung nationaler Vorschriften diente (vgl. Schomburg/Lagodny/Hackner, IRG Vor § 68 Rn 11 m.w.N). Weder liegt ein Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzender und aufgrund dessen ein Verfahrenshindernis begründender Fall polizeilicher Tatprovokation (vgl. dazu etwa EGMR, Urteil vom 23. Oktober 2014 – 54648/09 – juris) vor, weil die Annahme, allein durch Schaffung der Möglichkeit einer abhörsicheren Kommunikation sei der Tatentschluss des Angeklagten zur Begehung der ihm vorgeworfenen Taten hervorgerufen worden, fernliegt, noch begründet der Umstand, dass sich die Datenerhebung gegen sämtliche Nutzer der A.-App ohne Beschränkung auf bestimmte Zielpersonen und ohne Vorliegen eines konkreten Tatverdachts richtete, mithin Verdachtsmomente erst generieren sollte, einen elementaren Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze. Das Inverkehrbringen der App diente nicht dazu, die Persönlichkeit der Nutzer durch Eindringen in deren Privat- oder Intimsphäre auszuspähen. Vielmehr war absehbar, dass die durch die Nutzung ermöglichte, vermeintlich abhörsichere Kommunikation, neben der eine normale Nutzung des Mobilfunkgerätes zum Telefonieren und mit Zugang zum Internet nicht mehr möglich war, nahezu ausschließlich im Bereich organisierter Kriminalität eingesetzt werden würde (vgl. OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 22. November 2021 – 1 HEs 427/21 -, StraFo 2022, 203, 204; zur Ablehnung eines Verstoßes gegen den Grundsatz des ordre public bei EncroChat-Daten vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 3. August 2021 – 2 Ws 102/21 (S); 2 Ws 96/21 – juris; Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 29. Januar 2021 – 1 Ws 2/21 -, juris, sowie dem Grunde nach auch BGH, Beschluss vom 2. März 2022 – 5 StR 457/21 -, juris Rn. 57). Ebenso wenig haben die deutschen Ermittlungsbehörden durch ein planmäßiges Vorgehen zur Umgehung nationaler Vorschriften zur Kommunikationsüberwachung an der Datengewinnung mitgewirkt (vgl. OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 22. November 2021 – 1 HEs 427/21 -, StraFo 2022, 203, 204).

c) Der die Fortdauer der Untersuchungshaft tragende Tatverdacht besteht im Übrigen ungeachtet der einer weiteren Aufklärung des dem Tatvorwurf zugrundeliegenden tatsächlichen Geschehens vorbehaltenen Rechtsfrage, ob das unter Ziffer 5 der Anklageschrift vom 21. Oktober 2021 umschriebene Geschehen sich entsprechend des Hinweises der 4. Großen Strafkammer des Landgerichts Saarbrücken in deren Beschluss vom 30. November 2022 als zwei rechtlich selbständige Taten des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge oder lediglich als einzelne, auf denselben Güterumsatz bezogene Teilakte einer Tat des Handeltreibens erweist (vgl. zur Verklammerung einzelner Teilakte der Einfuhr, des Erwerbs, des Ankaufs wie auch des Verkaufs im weiten Begriff des Handeltreibens, wenn sie sich auf denselben Güterumsatz beziehen, BGHSt 30, 28; BGH NStZ-RR 2012; Oğlakcıoğlu in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts Band 6, 1. Aufl. 2022, Betäubungsmittelstrafrecht, Rn. 67).

2. Der Haftgrund der Fluchtgefahr besteht aus den im Haftbefehl genannten Gründen fort, da der Beschuldigte, dem mehrere Taten des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zur Last liegen, mit einer erheblichen Strafe im nicht aussetzungsfähigen Bereich zu rechnen hat. Von dieser geht für den Angeklagten ein nicht unerheblicher Fluchtanreiz aus. Für die Bereitschaft des Angeklagten, diesem Anreiz im Fall der Entlassung aus der Untersuchungshaft nachzugeben, bestehen zur Überzeugung des Senats hinreichend konkrete Anhaltspunkte, ohne dass Umstände vorlägen, die den Fluchtanreiz zu mindern vermögen, zumal der Angeklagte und seine Familie den Ermittlungserkenntnissen nach planten, ihren Wohnsitz in Deutschland aufzugeben und nach S. überzusiedeln. Vor diesem Hintergrund der ohnehin beabsichtigten Aufhebung des in Deutschland gelegenen Lebensmittelpunktes sowohl des Angeklagten als auch seiner Familie besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Angeklagte seine den Ermittlungserkenntnissen nach vorhandenen und im Übrigen für das ihm vorgeworfene Deliktsfeld typischen Verbindungen zu Strukturen organisierter Kriminalität im In- und Ausland nutzen wird, um sich bereits vorab dem Strafverfahren in der Bundesrepublik Deutschland zu entziehen.

Auf den im Haftbefehl ebenfalls – subsidiär – angenommenen Haftgrund der Wiederholungsgefahr gem. § 112a Abs. 2 StPO kommt es deshalb derzeit nicht an (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 69. Aufl., § 112a Rn. 17).

Die Haft ist zur Abwendung der Fluchtgefahr auch erforderlich. Der Zweck der Untersuchungshaft kann durch mildere Maßnahmen als deren Vollzug (§ 116 Abs. 3 StPO) nicht sichergestellt werden.

3. Die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO für die Anordnung der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor. Ein wichtiger Grund, der noch kein Urteil zugelassen hat, ist gegeben.

a) Die Ermittlungen, die sich aufgrund der Anzahl der Tatverdächtigen (vgl. Saarländisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 18. Februar 2019 – 1 Ws 1/19 (H) -), die ausnahmslos von ihrem Recht, sich nicht zur Sache einzulassen, Gebrauch machen, sowie der Notwendigkeit der Auswertung zahlreicher Beweismittel und Spuren hinsichtlich des Ermittlungsaufwands von durchschnittlichen Ermittlungsverfahren abheben, sind durch die Ermittlungsbehörden angemessen gefördert und zum 14. Oktober 2022, mithin binnen eines angemessenen Zeitraums von dreieinhalb Monaten ab Festnahme des Angeklagten, zum Abschluss gebracht worden. Unmittelbar im Anschluss an die zur Festnahme des Angeklagten führenden Durchsuchungsmaßnahmen am 1. Juli 2022 veranlasste die Staatsanwaltschaft unter dem 5. Juli 2022 daktyloskopische, molekulargenetische und toxikologische Untersuchungen der zahlreichen sichergestellten Beweismittel, die bis zum 16. September 2022 abgeschlossen wurden. Die Auswertung des sichergestellten Mobilfunkgerätes des Angeklagten wurde zum 28. September 2022 fertiggestellt. Soweit die Ermittlungen nicht unmittelbar im Anschluss hieran abgeschlossen wurden, sondern die im Ergebnis ohne Erfolg verlaufene Vollstreckung eines unter dem 22. August 2022 von der Staatsanwaltschaft erwirkten Durchsuchungsbeschlusses für die Wohnung des Mitangeklagten a. am 10. Oktober 2022 abgewartet wurde, ohne dass die verzögerte Vollstreckung des Durchsuchungsbeschlusses durch Gründe im Verfahren veranlasst war, liegt darin ungeachtet der bei der ersten Haftprüfung nach § 121 Abs. 1 StPO gegenüber späteren Haftprüfungen nach § 122 Abs. 4 StPO weniger strengen Anforderungen an die Zügigkeit der Bearbeitung (vgl. Senatsbeschluss vom 6. April 2022 – 4 HEs 3/22 – m.w.N.) im Ergebnis keine durchgreifende, das Beschleunigungsgebot verletzende Verzögerung. Der dadurch eingetretene Verzug von rund zwei Wochen wurde im weiteren Fortgang der Ermittlungen jedenfalls kompensiert. Die Polizeibehörden erstellten den Abschlussbericht nach der Durchsuchungsmaßnahme innerhalb von vier Tagen am 14. Oktober 2022. Die Staatsanwaltschaft erhob im Anschluss innerhalb von weiteren vier Tagen bereits am 18. Oktober 2022 Anklage.

b) Unter Berücksichtigung der bei der ersten Haftprüfung nach § 121 Abs. 1 StPO weniger strengen Anforderungen an die Zügigkeit der Bearbeitung (vgl. Senatsbeschluss vom 6. April 2022 – 4 HEs 3/22 – m.w.N.) schlägt auch der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft aufgrund Hinweises des Vorsitzenden der zuständigen Strafkammer veranlasst war, die Anklage vom 18. Oktober 2018 zurückzunehmen und unter dem 21. Oktober 2022 erneut zu erheben, nicht auf die Zulässigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft durch. Ungeachtet der Geringfügigkeit der dadurch eingetretenen Verzögerung von drei Tagen ist aufgrund der terminlichen Verhinderung der Verteidiger der Angeklagten auszuschließen, dass ohne diese Verzögerung ein früherer Beginn der Hauptverhandlung als der nunmehr zwischen den Verfahrensbeteiligten abgestimmte 4. Januar 2023 möglich gewesen wäre. Das Landgericht hat dem gleichermaßen für das gerichtliche Zwischenverfahren Geltung beanspruchenden Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Januar 2014 – 2 BvR 2248/13 -, juris Rn. 35 m.w.N.) in gesteigertem Maße Rechnung getragen. Unmittelbar nach Eingang der berichtigten Anklage und der Akten am 21. Oktober 2022 hat der Vorsitzende der zuständigen Strafkammer noch an demselben Tag die Zustellungen der Anklageschrift veranlasst und zugleich mit Entscheidungen über die notwendige Verteidigung einzelner Angeklagter am 31. Oktober 2022 mit den Verteidigern für den Fall der Zulassung der Anklage Hauptverhandlungstermine für die Zeit ab dem 4. Januar 2023 abgestimmt (vgl. Bl. 562 f. d.A.). Einer früheren Terminierung standen unterschiedliche terminliche Verhinderungen der Verteidiger der Angeklagten entgegen. Am 30. November 2022, mithin nur etwas mehr als einem Monat nach Eingang der Anklage, hat die zuständige Strafkammer diese zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet.

Dieser Verfahrensgang belegt, dass das Hauptverfahren innerhalb von nur geringfügig mehr als zwei Monaten nach Erhebung der Anklage und lediglich wenige Tage nach Ablauf der Frist des § 121 Abs. 1 StPO beginnen wird. Damit genügt die Sachbearbeitung – unter Berücksichtigung der den Gerichten notwendigerweise zuzugestehenden Zeiträume für die Prüfung und Vorbereitung der im gerichtlichen Zwischenverfahren zu treffenden Entscheidungen – den verfassungsrechtlich determinierten Anforderungen an die beschleunigte Bearbeitung von Verfahren, in denen Angeklagte sich in Untersuchungshaft befinden (vgl. BVerfGK 10, 294, 307; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. November 2012 – 2 BvR 1164/12 -, juris Rn. 43).

4. Diese Gründe, die ein Urteil noch nicht zugelassen haben, rechtfertigen in Verbindung mit dem Verfahrensgegenstand und seiner Bedeutung auch unter Berücksichtigung der Schwere des Eingriffs in das in Art. 2 Abs. 2 GG garantierte Freiheitsrecht des Angeklagten die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft. Der fortdauernde Vollzug der Untersuchungshaft steht auch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe.

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