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Aussage-gegen-Aussage-Konstellation – Akteneinsicht als Verletzter

OLG Hamburg, Az.: 1 Ws 108/18, Beschluss vom 23.10.2018

In der Strafsache hat der 1. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg am 23.10.2018 beschlossen:

1. Auf die Beschwerde des Angeklagten wird die Verfügung des Strafkammervorsitzenden vom 28. September 2018 mit der Maßgabe aufgehoben, dass dem Beistand der Nebenklägerin Akteneinsicht in Band 1 und 11 der Leitakte mit Ausnahme von BI. 3 bis 5, 81 bis 85. 112 bis 122, 144 bis 147, 226 bis 233 und 256 bis 267 gewährt wird.

2. Die weitergehende Beschwerde wird verworfen.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten hierbei entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe:

Dem Beschwerdeführer wird durch die zur Hauptverhandlung zugelassene Anklageschrift vorgeworfen, in Hamburg am 17. Juli 2018 eine Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil der Nebenklägerin begangen zu haben. Ihre bestelfte anwaltliche Nebenklagevertreterin hat Akteneinsicht beantragt. Dem Akteneinsichtsgesuch hat der Strafkammervorsitzende — nach erfolgter Gewährung rechtlichen Gehörs — mit der in der Beschlussformel benannten Entscheidung in vollem Umfang entsprochen. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde. Er macht den Versagungsgrund nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO geltend und führt namentlich aus, dass eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vorliege. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, den angefochtenen Beschluss mit der Maßgabe aufzuheben, dass der Nebenklägervertreterin lediglich Akteneinsicht in die Leitakte (Bd. 1 und 11) gewährt wird, und die Kosten des Beschwerdeverfahrens der Staatskasse aufzuerlegen.

Die Beschwerde ist zulässig und in der Sache zum überwiegenden Teil begründet.

1. Das Rechtsmittel ist statthaft.

Aussage-gegen-Aussage-Konstellation – Akteneinsicht als Verletzter
Symbolfoto: Minerva Studio/Bigstock

a) Die Entscheidung über die Aktensicht des Verletzten nach § 406e Abs. 1 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1 StPO ist nach Eröffnung des Hauptverfahrens entsprechend § 406e Abs. 4 Satz 4 StPO mit der Beschwerde anfechtbar (§ 304 StPO). Dem steht § 305 Satz 1 StPO mangels Verweisung in § 406e Abs. 4 Satz 3 StPO nicht entgegen (vgl. bereits Senat, Beschl. v. 21. März 2016 — 1 Ws 40/16, BeckRS 2016, 07544, v. 24. Oktober 2014 — 1 Ws 110/14, NStZ 2015, 105, m. Anm. Radt-ke, a.a.O., 108, und v. 22. Juli 2015 — 1 Ws 88/15, StraFo 2015, 328; KG, Beschl. v. 2. Oktober 2015 — 4 Ws 83/15, NStZ 2016, 438; ferner bereits nur Lauterwein, Akteneinsicht und -auskünfte für den Verletzten, Privatpersonen und sonstige Stellen §§ 406e und § 475 StPO [2011], S. 161; Löwe/Rosenberg/Wenske, 26. Aufl., Nachtr. § 406e Rn. 8).

b) Der Angeklagte ist auch beschwerdebefugt.

aa) Ein Angeklagter kann in seinen Rechten durch eine den Untersuchungszweck gefährdende Akteneinsicht eines Nebenklägers betroffen sein und mithin den Versagungsgrund des § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO für sich reklamieren. Die unbeschränkte Akteneinsicht eines Nebenklägers kann im Einzelfall nämlich mit den höchstrichterlichen Grundsätzen der Beweiswürdigung, die sich namentlich aus der freiheitssichernden Funktion der Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 20 Abs. 3 und Art. 104 Abs.1 GG ergeben, unvereinbar sein und sich insoweit als mögliche Rechtsverletzung für den Angeklagten erweisen (vgl. nur Senatsbeschl. v. 24. Oktober 2014 — 1 Ws 110/14, NStZ 2015, 105, m. Anm. Radtke, a.a.O., 108).

bb) So liegt es hier. Soweit der Angeklagte die Tatvorwürfe zum Nachteil der Nebenklägerin pp. bestreitet, steht hier Aussage gegen Aussage. Damit greifen besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung und Beweiserhebung, die durch die Akteneinsicht der Nebenklägerin zumindest eine für das Rechts-schutzbedürfnis zureichende Möglichkeit einer Rechtsverletzung des Angeklagten begründen könnten.

2. Das Rechtsmittel hat in der Sache überwiegend Erfolg. Es liegen die Versagungsgründe des § 406e Abs. 2 Satz 1 und 2 StPO vor. Hiernach kann die Akteneinsicht des Berechtigten versagt werden, soweit der Untersuchungszweck, auch in einem anderen Verfahren, gefährdet erscheint.

a) Der Untersuchungszweck im Sinne dieses gesetzlichen Versagungsgrundes ist gefährdet, wenn durch die Aktenkenntnis des Verletzten eine Beeinträchtigung der gerichtlichen Sachaufklärung (§ 244 Abs. 2 StPO) zu besorgen ist (vgl. nur BT-Drucks. 10/5305, S. 18). Zwar steht den mit der Sache befassten Gerichten hierbei ein weiter Entscheidungsspielraum zu (vgl. nur BGH, Beschl. v. 11. Januar 2005 — 1 StR 498/04, NJW 2005, 1519). Die durch das Akteneinsichtsrecht des Verletzten stets begründete Gefahr einer anhand des Akteninhalts präparierten Zeugenaussage (zu hierin liegenden Gefahren etwa Schwenn, StV 2010, 705, 708; BeckOK-StPO/Eschelbach, 30. Ed., § 261 Rn. 59.5; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl., Rn. 1483a), reicht — entgegen anderer Stimmen im Schrifttum (vgl. Schlothauer, StV 1987, 356, 357 m.w.N.; Riedel/Wallau, NStZ 2003, 393, 397) — für sich zur Versagung aber nicht aus (OLG Koblenz, Beschl. v. 30. Mai 1988 — 2 VAs 3/88, StV 1988, 332, 334; Senat, Beschl. vom 24. Oktober 2014 1 Ws 110/14, NStZ 2015, 105, m. Anm. Radtke, a.a.O., 108, v. 22. Juli 2015 1 Ws 88/15, StraFo 2015, 328 und v. 21. März 2016 — 1 Ws 40/16, BeckRS 2016, 07544; KG, Beschl. v. 2. Oktober 2015 — 4 Ws 83/15 — NStZ 2016, 438; Hilger, a.a.O.; vgl. ferner BT-Drucks. 10/5305, S. 18). Für die Prüfung der — abstrakten (vgl. nur Löwe/Rosenberg/Hilger, StPO, 26. Aufl, § 406e Rn. 12 f.; SSW-StPO/Schöch, 3. Aufl., § 406e Rn. 12) — Gefährdung des Untersuchungszwecks ist vielmehr eine Würdigung der Verfahrens- und Rechtslage im Einzelfall vorzunehmen (vgl. Senat, a.a.O.; OLG Koblenz, a.a.O.; Hilger, a.a.O. Rn. 13; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 406e Rn. 11).

b) Eine diesen Maßgaben verpflichtete Entscheidung führt hier wegen einer Reduzierung des gerichtlichen Ermessens auf Null zu einer weitgehenden, der Beschlussformel im Einzelnen zu entnehmenden Versagung der begehrten Akteneinsicht.

aa) Nach ständiger Senatsrechtsprechung ist die umfassende Einsicht in die Verfahrensakten dem Verletzten in aller Regel in solchen Konstellationen zu versagen, in denen seine Angaben zum Kerngeschehen von der Einlassung des Angeklagten abweichen und eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vorliegt (vgl. hierzu im Einzelnen Senat a.a.O.; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 26. Mai 2014 — 111-1 Ws 196/14, BeckRS 2016, 01698; dem wohl zuneigend KG, a.a.O.; in diesem Sinne auch MünchKomm-StP0/Miebach, § 261 Rn. 223; BeckOK-StPO/Eschelbach, 30. Ed., § 261 Rn. 59.5; Meyer-Lohkamp jurisPRStrafR 2/2016, Anm. 5; Baumhöfener/Daber StraFo 2016, 77; Baumhöfener/Daber/Wenske, NStZ 2017, 562 ff.; Ferber, NJW 2016, 279; Deckers StraFo 2015, 265, 268; Püschel StraFo 2015, 269, 275; Gubitz NStZ 2016, 367 ff.; Deiters StV 2017, 146; Hilgert NJW 2016, 985; in diesem Sinne erkennbar auch BVerfG [Kammer], Beschl. v. 31. Januar 2017 — 1 BvR 1259/16, NJW 2017, 1164). wohl unentschieden MeyerGoßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 6; a.A. OLG Braunschweig, Beschl. v. 3. Dezember 2015 — 1 Ws 309/15, BeckRS 2015, 20532; BeckOK-StPO/Weiner, 30. Ed., § 406e Rn. 8a; Breu, StraFo 2015, 248 ff.; Schöch, NStZ 2016, 631; ders., in FS Streng [2017], 743 ff.).

Der Gesetzgeber hat in Kenntnis dieser Rechtspraxis den Regelungsgehalt von § 406e Abs. 2 StPO in den jüngsten Reformen des Strafprozessrechts unverändert gelassen; er hat vielmehr dem Umstand einer unbeeinflussten Zeugenaussage im Zusammenhang mit der Ausübung von Verletztenrechten erkennbar und mit Recht an anderer Stelle selbst besondere Bedeutung beigemessen (vgl. etwa § 2 Abs. 2 PsychPbG).

Auch die vereinzelt gebliebene Rechtsprechung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Beschl. v. 15. März 2016 – 5 StR 52/16, BeckRS 2016, 06515; Beschl. v. 5. April 2016 – 5 StR 40116, NStZ 2016, 367 mit abl. Anm. Gubitz und abl. Besprechung Eisenberg, JR 2016, 391; vgl. hingegen BGH, Beschl. v. 21. April 2016 – 2 StR 435/15, BeckRS 2016, 11403) ändert hieran nichts. Sie betrifft erkennbar revisionsrechtliche Fragestellungen und nicht den Verfah-rensabschnitt vor Erlass eines tatgerichtlichen Urteils. Überdies machen die – begründungslosen – Entscheidungen des 5. Strafsenats deutlich, wie bedeutsam ein effektiver Rechtsschutz des Angeklagten in dieser besonderen Beweiskonstellation vor der Vernehmung des einzigen Belastungszeugen ist (vgl. hierzu im Einzelnen Baumhöfener/Daber/Wenske, NStZ 2017, 562, 565).

bb) Die Beweiskonstellation von Aussage-gegen-Aussage erfährt ihr Gepräge durch eine Abweichung der Tatschilderung des Zeugen von der eines Angeklagten, ohne dass ergänzend auf weitere unmittelbar tatbezogene Beweismittel, etwa belastende Indizien wie Zeugenaussagen über Geräusche oder Verletzungsbilder zurückgegriffen werden kann (vgl. nur Sander, StV 2000, 45, 46; ders. in Löwe/Rosenberg, a.a.O., § 261 Rn. 83d m.w.N.; Schmandt, StraFo 2010, 446, 448 m.w.N.). Dieselbe Verfahrenskonstellation ist allerdings auch gegeben, wenn der Angeklagte selbst keine eigenen Angaben zum Tatvorwurf macht, sondern sich durch Schweigen verteidigt (vgl. etwa BGH, Urteil vom 6. Dezember 2012 – 4 StR 360/12, NStZ, 2013, 180, 181; ferner Sander, a.a.O.; Schmandt, a.a.O., m.w.N.).

So liegt es hier. Die Nebenklägerin hat gegen ihren Willen durchgeführte sexuelle Handlungen des Angeklagten wie insbesondere das mehrfache vaginale Eindringen des Angeklagten mit einem Finger beschrieben. Der Angeklagte hingegen hat die Tatvorwürfe bestritten und sich dahin eingelassen, dass es zu einvernehmlichen Intimitäten wie Küssen, Umarmungen und Berührungen gekommen sei. Die Aussageinhalte betreffen erkennbar auch das Kerngeschehen der angeklagten Tat. Ihr besonderes Gepräge verliert diese Beweiskonstellation zum einen auch nicht durch den sachverständigen Zeugen Dr. Dietz vom Institut für Rechtsmedizin (SB I Fach 7) und die Zeugin PP (SB I Fach 6). Bei beiden handelt es sich lediglich um Zeugen vom Hörensagen. Zum anderen stützen die vorhandenen objektiven tatbezogenen Beweismittel, insbesondere der chemischtoxikologische Befund der Urinprobe der Nebenklägerin (BI. 155 d.A.) und die kriminaltechnische Untersuchung der in der Wohnung des Angeklagten aufgefundenen Substanzen (BI. 101 f. d.A.; SB III Fach 12 Bi. 4-6), zwar den Vorwurf der ge-fährlichen Körperverletzung und die dem Angeklagten zur Last gelegten Qualifika-tionstatbestände bzw. das Regelbeispiel für besonders schwere Fälle des § 177 StGB. Hinsichtlich des Kerngeschehens des Vergewaltigungsvorwurfs kommt es aber entscheidend auf die Angaben der Nebenklägerin zu den in der Wohnung des Angeklagten stattgefundenen Ereignissen an.

cc) Schließlich erweist sich die Absichtserklärung der Vertreterin der Nebenklägerin, die Inhalte der Verfahrensakten der Nebenklägerin selbst nicht zur Kenntnis bringen zu wollen, als unzureichend, um die Gefährdung des Untersuchungszwecks mit der notwendigen Sicherheit auszuschließen. Die Erklärung ist weder durchsetzbar noch mit der gebotenen Sicherheit zu kontrollieren (vgl. Senatsbeschlüsse v. 22. Juli 2015 — 1 Ws 88/15, StraFo 2015, 328 und v. 24. November 2014 — 1 Ws 120/14, BeckRs 2015, 00700; Baumhöfener/DaberNVenske, a.a.O., 565).

3. Ergänzend bemerkt der Senat:

Der Untersuchungszweck kann in dieser besonderen Fallkonstellation auch durch die von Gesetzes wegen gebotene uneingeschränkte Bekanntmachung der Anklageschrift (§ 201 Abs. 1 Satz 2 StPO), namentlich des wesentlichen Ermittlungsergebnisses (§ 200 Abs. 2 Satz 1 StPO), gefährdet werden. Da der Gesetzgeber möglicherweise — versehentlich diesen Aspekt nicht geregelt hat, kommt es der Anklagebehörde jedenfalls zu, den Inhalt des wesentlichen Ermittlungsergebnisses mit Blick auf die zu vermeidende Aktenkenntnis des einzigen Belastungszeugen knapp abzufassen. Die Funktionen der Anklageschrift werden hierdurch nicht durchgreifend in Frage gestellt (vgl. im Einzelnen MünchKomm-StPO/Wenske, § 201 Rn. 19).

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