Außervollzusetzung von Haftbefehlen
LG Stralsund – Az.: 23 KLs 17/20 jug. – Beschluss vom 18.01.2021
In dem Strafverfahren wegen versuchten Totschlags u.a. hat das Landgericht Stralsund – 23. Kammer (Große Jugendkammer) als Schwurgericht – am 18. Januar 2021 beschlossen:
1. Die am 5. Januar 2021 begonnene Hauptverhandlung wird ausgesetzt. Die weiteren Termine entfallen.
2. Die Haftbefehle des Amtsgerichts Greifswald bezüglich pp. bleiben aus den Gründen ihres Erlasses sowie nach Maßgabe der Anklageschrift aufrechterhalten, werden jedoch unter Auferlegung folgender Weisungen außer Vollzug gesetzt:
Die vorgenannten Angeklagten haben jeglichen Kontakt zu den Zeugen pp. – sei es durch persönliche Kontaktaufnahme, durch Telefonanrufe, Whatsapp-Nachrichten oder Nutzung sonsti-ger sozialer Medien oder Briefsendungen – zu unterlassen. Im Falle zufälliger Begegnungen sind Abstände zu den genannten Personen von mindestens 20m einzuhalten und sind die genannten Personen in keinem Fall anzusprechen.
Darüber hinaus haben sich die Angeklagten pp. einmal wöchentlich jeweils Freitagvormittags bei dem für ihren Wohnort zuständigen Polizeirevier zu melden.
Gründe:
I.
Mit Beschluss der Kammer vom 03.12.2020 wurde das Hauptverfahren eröffnet und die Anklage der Staatsanwaltschaft Stralsund vom 23.10.2020 (513 Js 14031/20) zur Hauptverhandlung zugelassen und wurden Hauptverhandlungstermine für den 05.01., 26.01., 04.02., 05_02., 26.02. und im Nachgang für den 19.03. und 26.03.2021 bestimmt. Eine straffere Durchführung der Hauptverhandlung scheiterte an einer mangelnden übereinstimmenden Verfügbarkeit der zahlreichen Prozessbeteiligten, hier insbesondere der Verteidiger. Aus diesem Grund konnte bereits der 1. Hauptverhandlungstag erst um 14.30 Uhr begonnen werden. An diesem 05.01.2021 wurde bislang nach Eröffnung der Hauptverhandlung die Anklageschrift verlesen und den Angeklagten Gelegenheit gegeben, sich zur Person und/oder zur Sache zu äußern. Dieses Recht wurde von den Angeklagten überwiegend nicht wahrgenommen. An diesem Sitzungstag wurde offenbar, dass die in der aktuellen Pandemiesituation gebotenen Abstands- und Hygieneregeln angesichts der Vielzahl der Beteiligten nicht ausreichend gewährleistet wer-den konnten.
In der gegebenen Situation, in der von Menschenansammlungen eine erhöhte Gefahr der Infektion mit einem Krankheitserreger ausgeht, obliegt insbesondere der Vorsitzenden bei der Wahrnehmung der ihr gemäß §§ 213, 238 StPO zugewiesenen Aufgaben gegenüber allen Prozess-beteiligten eine Schutzpflicht. Diese erfordert Gesundheitsgefahren, die von der Durchführung einer Hauptverhandlung ausgehen können, im gebotenen Umfang abzuwenden. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass sich die Pflicht aller Beteiligten an einer anberaumten Hauptverhandlung zu der sie geladen wurden, teilzunehmen im Einzelfall als Schaffung eines Risikos für grundrechtlich geschützte Belange, insbesondere aus Artikel 2 Abs. 2 S. 1 GG darstellen, also die einschlägigen Verfahrensvorschriften im Lichte des Artikels 2 Abs. 2 GG auszulegen sind. Bei der Terminierung Anfang Dezember 2021 war die Vorsitzende im Hinblick auf die angekündigte Zulassung von Impfstoffen und dem beschlossenen „Lockdown“ ect. noch davon ausgegangen, dass sich die Situation jedenfalls bis zum 26.01.2021, dem ersten vorgesehenen kompletten Hauptverhandlungstag- entspannen würde und ein Gesundheitsrisiko für die Beteiligten mit entsprechenden Maßnahmen auf ein vertretbares Maß reduziert werden könne. Der im Landgericht größte verfügbare Sitzungssaal, GE 17, war inzwischen mit Plexiglastrennwänden ausgestattet worden. Im Sitzungssaaltrakt sind zahlreiche Desinfektionsaufsteller vorhanden. Daneben wurde versucht, die Beteiligten möglichst in einem Mindestabstand von 1,5 m zu platzieren. Am 1. Sitzungstag hat sich dann herausgestellt, dass sich nicht nur die Pandemiesituation inzwischen weiter verschlechtert und der Lockdown nicht die erhofften Ergebnisse gebracht hatte, sondern auch, dass die Mindestabstände praktisch nicht einzuhalten sind. Vier der Angeklagten befinden sich in Haft und müssen durch Justizvollzugsanstaltsbeamte vorgeführt und während der Hauptverhandlung bewacht werden. Die Kammer selbst ist mit 5 Personen, einschließlich der Schöffen besetzt. Hinzu kommen der Vertreter der Staatsanwaltschaft, die Protokollführerin, der Vertreter der Jugendgerichtshilfe, 2 weitere Angeklagte sowie 6 Verteidiger. Ab dem 2. Hauptverhandlungstag nähme zusätzlich noch ein Sachverständiger an der Haupt-verhandlung teil. Damit befinden sich in dem 116,90m2 großen Schwurgerichtssaal einschließlich der vorführenden Beamten durchgängig 29 Personen, zu denen dann jeweils noch die geladenen Zeugen hinzuzurechnen wären. Wenngleich die Möglichkeit besteht, die Öffentlichkeit zwar nicht auszuschließen, aber angesichts der gegebenen Situation doch auf ein Minimum zu beschränken, könnten theoretisch 5 weitere Personen begehren, an der Hauptverhandlung als Öffentlichkeit teilzunehmen.
Nach der Bewertung des Robert-Koch-Instituts, Stand 14.01.2021, ist nach wie vor eine hohe Anzahl an Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Das RKI schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als sehr hoch ein. Die Zahl der Neuinfektionen hatte am 14.01.2021 noch einen Stand von 25.164 Neuinfizierten und einen seit Pandemiebeginn erreichten Höchststand von 1.244 Verstorbenen. Wenn gleich die Situation im Bundesland Mecklenburg-Vorpommem im Verhältnis zu anderen Bundesländern noch vergleichsweise moderat ist, ist auch hier ein Ansteigen der Fallzahlen zu beobachten. Hinzu kommt, dass am 19.12.2020 im Vereinigten Königreich über eine neue Virusvariante (B.1.1.7) berichtet wurde, für die es Hinweise auf eine leichtere Übertragbarkeit ergibt. Auch in Deutschland wurden dem RKI Fälle dieser Variante übermittelt. Nach dem RKI ist zu erwarten, dass weitere Fälle bekannt werden, die durch die Virusvariante bedingt sind. Eine weitere neue Virusvariante, die in Südafrika aufgetreten ist und die ebenfalls mit einer höheren Übertragbarkeit einhergeht, wurden ebenfalls, wenn auch nur vereinzelt in Deutschland identifiziert. Dem entsprechend wird seitens des RKI für notwendig gehalten, dass sich die gesamte Bevölkerung für den Infektionsschutz engagiert, z.B. in dem sie Abstands- und Hygieneregeln konsequent – auch im Freien – einhält, Innenräume lüftet und wo geboten, ein Mund-Nasenbedeckung korrekt trägt. Menschenansammlungen – besonders in Innenräumen – sollten möglichst gemieden werden (vgl. https: //bww.RKI.de, dort Epidemiologische Lage in Deutsch-land, Datenstand 14.01.2021). Ein höheres Risiko der Übertragung speziell bei Veranstaltungen kann demnach bei folgenden Kriterien angenommen werden: Teilnahme einer größeren Anzahl von Menschen in hoher Dichte, Anzahl und Intensität der Kontaktmöglichkeiten, enge Interaktion zwischen den Teilnehmenden, lange Dauer der Veranstaltung, Veranstaltung in geschlossenen Räumen, begrenzte Räumlichkeiten, schlechte Belüftung der Räume ect. Mit Rücksicht auf die geschilderte Risikoeinschätzung und die Räumlichkeiten des Landgerichts erschien es der Kammer geboten, die hier in Rede stehende Hauptverhandlung mit derart zahlreichen notwendigen Prozessbeteiligten auszusetzen.
Der Vorsitzenden erscheint es unmöglich, im Schwurgerichtssaal des Landgerichts eine hinreichende räumliche Distanzierung der Prozessbeteiligten bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Öffentlichkeit in dem Saal zu gewährleisten. So müssen die Anwälte der Angeklagten, um ihrer Aufgabe nachkommen zu können, im Lauf der Verhandlung zeitweise engen Kontakt mit diesen halten. Sie sind bei dem jeweiligen Vor- und Abführen zum bzw. vom Gerichtssaal auch zwangsläufig im nahen Kontakt mit den Vollzugsbeamten, sodass auch hierbei eine wechselseitige Infektionsgefahr für die Betroffenen besteht. Nach der seitens der Verwaltung des Landgerichts zur Nutzung empfohlenen Co2 APP der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung e.V. (DGUV) wäre im Saal ab 21 Minuten ein drastischer Abfall der gesundheitlich noch unbedenklichen Luftqualität zu erwarten und müsste so häufig stoß gelüftet werden, was die Durchführung der Hauptverhandlung angesichts dessen, dass alle Personen hierfür tunlichst den Raum verlassen und die inhaftierten Angeklagten dann immer wieder neu ab- und zugeführt werden müssten, zusätzlich erschwerte, insbesondere auch für die erwartet langen Zeugenvernehmungen vielfache Unterbrechungen bedingte. Auch wenn letzerem durch die unter II. weiter begründete Entscheidung, die Haftbefehle außer Vollzug zu setzen, begegnet werden könnte, würden sich die genannten Risiken nicht nennenswert verringern. Denn auch die bisher vorgesehene Sitzordnung hat sich nicht als praktikabel, erwiesen, weil ein Teil der Verteidiger und der Angeklagten die noch zu vernehmenden Zeugen jeweils nur von hinten sehen könnten. Überlegungen zu einer anderen Sitzverteilung erwiesen sich angesichts der räumlichen Vorgaben und dem Umstand, dass Angeklagte und Verteidiger dann teilweise außerhalb der Trennwände sitzen würden, als untauglich. Zeugen für die, gleich bei welcher Sitzordnung, keine Schutzwände zur Verfügung stünden, wären anzuhalten, ihre Mund- und Nasenbedeckung aufzubehalten, was die Beurteilung ihrer Aussagen, bei denen es nicht nur auf den Wortlaut, sondern auch auf Gestik und Mimik ankommt, nicht unerheblich beeinträchtigen würde.
Überdies gehören beide Schöffen, wie der Vorsitzenden erst am 1. Hauptverhandlungstag bekannt wurde, aufgrund von erheblichen Vorerkrankungen der Hochrisikogruppe an.
Vor diesem Hintergrund ist zu befürchten, dass eine Durchführung der Hauptverhandlung bzw. ihre Ausgestaltung die Rechte der Prozessbeteiligten, wie sie sich aus Artikel 2 Abs. 2 S. 1 GG ergeben, nachhaltig einschränken würde. Nach Abwägung der möglichen Gesundheitsgefahren einerseits und dem Beschleunigungsgrundsatz andererseits, blieb im Ergebnis nur, die Haupt-verhandlung auszusetzen. Die Kammer hat aber bereits neue Termine ab dem 1. Juni 2021 bestimmt, um so möglichst die Verfügbarkeit der notwendigeneinerseits und mit dieser Terminierung
II.
Zwar ist anerkannt, dass die Aufhebung einzelner Verhandlungstermine (die angesichts der durch die Begleitumstände notwendig gewordenen weiträumigen Terminierung ohne Verstoß gegen gesetzliche Fristen ohnehin nicht möglich wäre) oder auch die Aussetzung der Hauptverhandlung, wenn dies auf unvorhersehbaren Ereignissen außerhalb der Sphäre der Justiz liegt und die notwendig werdenden Schutzmaßnahmen Verzögerungen der Hauptverhandlung oder deren Aussetzung rechtfertigen, grundsätzlich auch dann möglich ist, wenn Angeklagte sich in Untersuchungshaft befinden. Da gegenwärtig die weitere Entwicklung jedoch überhaupt nicht abzusehen ist, waren bei der Frage, ob die Untersuchungshaft weiter zu vollstrecken ist, auch der Freiheitsanspruch der Betroffenen einerseits und der Strafverfolgungsanspruch des Staates andererseits in die Überlegungen mit einzubeziehen.
In der Gesamtschau gelangte die Kammer dabei zu dem Ergebnis, dass die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft vor dem Hintergrund, dass die Dauer der Verzögerungen in keiner Wei-se überblickt werden kann, unverhältnismäßig wäre.
Zwar bejaht die Kammer nach wie vor den dringenden Tatverdacht und hat die Kammer auch berücksichtigt, dass den Angeklagten eine Straftat von erheblicher Schwere vorgeworfen wird und die Haftgründe aus ihrer Sicht fortbestehen.
Angesichts der Besonderheit der Situation erschien es der Kammer nach eingehender Beratung jedoch letztlich vertretbar, die Haftbefehle außer Vollzug zu setzen.
Die erteilten. Weisungen bieten aus ihrer Sicht hinreichend Gewähr dafür, das Verfahren zu sichern und auch eine etwaige Beeinflussung von Zeugen zu unterbinden. Die Angeklagten müssen sich jedoch darüber im Klaren sein, dass Weisungsverstöße, die Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle nach sich ziehen werden.