OLG Stuttgart – Az.: 4 Ws 265/20 – Beschluss vom 30.11.2020
Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Landgerichts – 2. Große Strafkammer Tübingen vom 18. November 2020 wird als unbegründet verworfen.
Der Angeklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
I.
Gegen den Angeklagten und neun Mitangeklagte ist bei der 2. Großen Strafkammer des Landgerichts Tübingen seit Januar 2014 ein Strafverfahren wegen Verdachts des 160-fachen banden- und gewerbsmäßigen Betrug zum Nachteil der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg anhängig. Mit Beschluss vom 9. Februar 2018 setzte die Kammer das Verfahren zur Klärung sozialrechtlicher Fragen analog § 262 Abs. 2 StPO aus. Mit Beschluss vom 30. September 2020 ordnete die Kammer die Wiederaufnahme des Verfahrens an und die Vorsitzende bestimmte 14 Hauptverhandlungstermine ab 23. November 2020 bis 9. Februar 2021. In der Folge beantragte der Angeklagte u. a., das Verfahren wegen der mit der Corona-Pandemie verbundenen Gesundheitsgefahren auszusetzen und die anberaumten Termine aufzuheben.
Mit Beschluss vom 18. November 2020 hat die Vorsitzende der Strafkammer den Antrag abgelehnt. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Angeklagten, der die Vorsitzende am 23. November 2020 nicht abgeholfen und die Akten dem Senat vorgelegt hat.
Die Beschwerde des Angeklagten bleibt in der Sache ohne Erfolg.
1. Gemäß § 305 Satz 1 StPO sind Beschwerden gegen die Ablehnung eines Antrags auf Terminaufhebung oder -verlegung als eine der Urteilsfällung vorausgehende Entscheidung des erkennenden Gerichts grundsätzlich ausgeschlossen (vgl. OLG München, Beschluss vom 30. März 2020 – 2 Ws 387 + 388/20 Rn. 11 und 12, NStZ 2020, 503). Nach herrschender Rechtsprechung ist das Rechtsmittel allerdings dann ausnahmsweise als zulässig anzusehen, wenn es darauf gestützt wird, dass die Entscheidung des/der Vorsitzenden rechtswidrig ist, wozu auch die fehlerhafte Ausübung des Ermessens gehört (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. November 2020 – 2 BvQ 87/20 Rn. 45; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63, Auflage, § 213 Rn. 8 mwN; insoweit noch einschränkender OLG Stuttgart, Justiz 2006, 8: nur bei evidentem und gewichtigem Rechtsfehler). Entscheidend ist, ob die Zwischenentscheidung der Terminierung für den Betroffenen bereits einen bleibenden rechtlichen Nachteil nach sich zieht, der nicht mehr oder nicht vollständig behoben werden könnte (vgl. BVerfG, aa0 Rn. 42 mwN). Der Senat schließt sich der zuletzt genannten Auffassung mit der Maßgabe an, dass nur gewichtige und evidenten Fehler der Ermessensentscheidung des/der Vorsitzenden eine Ausnahme von dem grundsätzlichen Ausschluss der Beschwerde durch § 305 Satz 1 StPO rechtfertigen. In jedem Fall ist die Zweckmäßigkeit der Terminbestimmung einschließlich der Möglichkeit einer anderen Terminplanung und Terminierung der Nachprüfung des Beschwerdegerichts entzogen (vgl. dazu auch Jäger in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 213 Rn. 18).
Der Angeklagten kann unter Anwendung dieses Maßstabs nicht verwehrt werden, gestützt auf die Behauptung einer nicht mehr behebbaren drohenden Gesundheitsschädigung und damit einer Verletzung ihres Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG die unterlassene Terminsaufhebung als Zwischenentscheidung durch die Einlegung einer Beschwerde zur Überprüfung zu stellen (vgl. BVerfGE 51, 324 c 342 f.›; BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 2020 – 2 BvR 483)20, Rn. 3),
2. Die Beschwerde ist jedoch unbegründet.
Zwar macht der Angeklagte einen Ermessensfehlgebrauch geltend, seine Rüge greift indes nicht durch. Die Ablehnung der Vorsitzenden, die Termine der anberaumten Hauptverhandlung aufzuheben, ist nicht zu beanstanden. Sie hat bei ihrer Entscheidung das staatliche Interesse an einer reibungslosen und beschleunigten Durchführung des Strafverfahrens, um dem staatlichen Strafanspruch Geltung zu verschaffen, und die Interessen des Angeklagten und der weiteren Prozessbeteiligten, namentlich das Gesundheitsrisiko, in angemessener Weise gegeneinander abgewogen.
a) Die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen sowie die Gleichbehandlung aller in Strafverfahren Beschuldigter erfordern grundsätzlich die Durchsetzung des staatlichen Strafausspruchs. Die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, eine funktionsfähige Strafrechtspflege zu gewährleisten, umfasst regelmäßig auch die Pflicht, die Einleitung und Durchführung des Strafverfahrens sicherzustellen (vgl. BVerfGE 51, 324 < 343 f.›). Ist angesichts des Gesundheitszustandes eines Angeklagten ernsthaft zu befürchten, dass er bei Teilnahme an einer Hauptverhandlung sein Leben gefährden oder schwerwiegende Gesundheitsschäden erleiden würde, entsteht zwischen der Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem Grundrecht eines Angeklagten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein Spannungsverhältnis, das nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch Abwägung der widerstreitenden Interessen zu lösen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. November 2020 – 2 BvQ 87/20 Rn. 50 mwN; Beschluss vom 19. Mai 2020 – 2 BvR 483/20, Rn. 7). In die erforderliche Abwägung sind vor allem Art, Umfang und mutmaßliche Dauer des Strafverfahrens, Art und Intensität der zu befürchtenden Schäden sowie die Möglichkeiten, diesen entgegenzuwirken, einzubeziehen (vgl. BVerfG 51,324 <345>).
Zwar sollten öffentliche Hauptverhandlungen derzeit nach Möglichkeit vermieden bzw. eingeschränkt werden, um die Ausbreitung des Corona-Virus einzudämmen. Zur Aufrechterhaltung der Strafrechtspflege ist es jedoch dringend erforderlich, gerade in bereits lang andauernden Verfahren die Hauptverhandlung durchzuführen. Die Möglichkeit, dass ein Angeklagter den Belastungen einer Hauptverhandlung nicht gewachsen ist, lässt sich letztlich niemals völlig ausschließen. Solche Risiken sind innerhalb gewisser Grenzen unvermeidbar und müssen im Interesse einer wirksamen Strafrechtspflege hingenommen werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 2009 – 2 BvR 1724/09, Rn., 10; Beschluss vom 13. Juni 2017 2 BvR 1313/17, Rn. 10).
b) Die sachverständig beratene Kammer hat im Rahmen ihres Hygienekonzeptes geeignete Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um das Ansteckungsrisiko zumindest erheblich zu mindern. So wurde der Sitzungsort aus den Räumen des Landgerichts in den ca. 211 m2 großen Uhlandsaal der Museumsgesellschaft Tübingen verlegt, an den, getrennt durch zu öffnende, deckenhohe und breite Flügeltüren, der ca. 221 m2 große Silchersaal angrenzt. Während die Verfahrensbeteiligten im Uhlandssaal sitzen, hält sich die Öffentlichkeit im Silchersaal auf, wobei der Abstand zu den Verfahrensbeteiligten über fünf Meter beträgt. Insgesamt umfasst die Fläche des Sitzungssaals somit ca. 432 m2 (mit angrenzender Bühne sogar 465 m2). Auf dieser Fläche ist es möglich, dass alle Verfahrensbeteiligten einen Abstand von mindestens eineinhalb Metern voneinander einhalten. Zusätzlich wurden zwischen den Beteiligten Plexiglasscheiben angebracht, die das Infektionsrisiko weiter senken. Außerdem wurden regelmäßige Lüftungspausen durch Öffnen der Fensterfronten mit jeweils fünf großen Fenstern unter Inanspruchnahme eines Co2-Messgeräts als Absicherung angeordnet. In diesen regelmäßigen Lüftungspausen Ist es den Verteidigern auch möglich, sich mit ihren Mandanten unter Einhaltung des Mindestabstandes zu besprechen. Des Weiteren wurde für alle Verfahrensbeteiligte sowie die Zuhörer das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung während der gesamten Dauer der Hauptverhandlung verpflichtend angeordnet, wobei zu Beginn der Sitzung eine entsprechende FFP2/KN95-Maske zur Verfügung gestellt wurde. Schließlich stehen Spender mit Desinfektionsmittel bereit und die Tische der Verfahrensbeteiligten werden vor jedem Sitzungstag desinfiziert. Außerdem besteht eine feste Sitzordnung. Personen mit Erkältungssymptomen sowie solchen mit Kontakt zu einer coronainfizierten Person ist der Zutritt in die Säle verwehrt.
Dieses Hygienekonzept wurde mit dem Leiter des Referats „Hygiene und Infektionsschutz“ des Landesgesundheitsamtes pp. abgesprochen und vor Ort begutachtet. Der Sachverständige hatte unter Einbeziehung der Eckdaten des Verfahrens (Anzahl, Alter und Vorerkrankung der Beteiligten) keine Bedenken gegen die Durchführung der Hauptverhandlung unter Einhaltung der genannten Hygienemaßnahmen. Dass es sich bei ihm um einen promovierten Biologen und keinen Arzt handelt, ändert angesichts der Überschneidung der Fachgebiete an seiner Qualifikation nichts.
Im Übrigen behält sich die Kammer vor, bei einem wesentlichen Anstieg der Infektionslage die Rahmenbedingungen des Verfahrens zu überprüfen und gegebenenfalls z. B. durch Aufspaltung in parallel zu führende Hauptverhandlungen das Infektionsrisiko weiter zu verringern.
c) Soweit der Angeklagte Vorbehalte gegen dieses Hygienekonzept geltend macht, zielt er auf den Ausschluss eines jeglichen Risikos gesundheitlicher Beeinträchtigung ab, der jedoch auch verfassungsrechtlich nicht geboten ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 2009 – 2 BvR 1724/09, Rn. 10). Denn die Verfassung gebietet keinen vollkommenen Schutz vor jeglicher mit einem Strafverfahren verbundenen Gesundheitsgefahr, zumal ein gewisses Infektionsrisiko mit dem neuen Corona-Virus derzeit für die gesamte Bevölkerung zum allgemeinen Lebensrisiko gehört (vgl. BVerfG, Beschluss vorn 19. Mai 2020 – 2 BvR 483/20, Rn. 9).
Das Landgericht wird seiner Pflicht, zwischen dem Risiko einer Infektion mit möglicherweise gefährlichem Verlauf und dem Interesse des Staates an einer effektiven Strafverfolgung sorgfältig abzuwägen gerecht, indem es zur Minimierung der Ansteckungsgefahr diese Vielzahl geeigneter Maßnahmen getroffen hat. Es berücksichtigt nicht nur die dem Angeklagten seit langem zur Last gelegten Tatvorwürfe, die dem öffentlichen Interesse an der Fortführung des Strafverfahrens angesichts des erheblichen Zeitablaufs seit der Anklageerhebung besonderes Gewicht verleihen, sondern alle anderen wesentlichen Umstände des Einzelfalls, Insbesondere den Schutz der Gesundheit des Angeklagten und der übrigen Verfahrensbeteiligten.
In einer Zusammenschau dieser Umstände erweist sich die Ablehnung der Terminaufhebung daher als nicht rechtsfehlerhaft.