Ladendiebstahl: Wenn hinreichender Tatverdacht zur Verurteilung nicht ausreicht
Im Bereich des Strafrechts ist die Frage des hinreichenden Tatverdachts oft entscheidend für die Eröffnung eines Hauptverfahrens. Dabei wird geprüft, ob die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung gegeben ist. Insbesondere bei Delikten wie dem Ladendiebstahl ist die Beweissituation entscheidend, um festzustellen, ob ein Tatentschluss vorlag. Hierbei spielen sowohl die Aussagen der Beteiligten als auch vorhandene Urteile und Beweismittel eine Rolle. In einigen Fällen kann es trotz eines initialen Verdachts zu einem Freispruch kommen, wenn die Beweise nicht ausreichen oder Zweifel an der Schuld des Angeschuldigten bestehen.
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✔ Das Wichtigste in Kürze
Das Gericht lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens ab, da es keinen hinreichenden Tatverdacht für einen versuchten Ladendiebstahl sah und eine Verurteilung des Angeschuldigten unwahrscheinlich erschien.
Die zentralen Punkte aus dem Urteil:
- Hauptverfahren wurde aus tatsächlichen Gründen nicht eröffnet.
- Die Kosten des Verfahrens und notwendige Auslagen des Angeschuldigten trägt die Staatskasse.
- Dem Angeschuldigten wurde vorgeworfen, versucht zu haben, ein Parfum im Wert von 205,90 € zu stehlen.
- Der Angeschuldigte gab an, das Parfum nur betrachten zu wollen und keine Absicht zum Diebstahl gehabt zu haben.
- Die Beweissituation, bestehend aus Zeugenaussagen und Videoaufzeichnung, bestätigte lediglich den äußeren Ablauf, nicht aber den Tatentschluss.
- Selbst wenn ein unmittelbares Ansetzen zum Diebstahl angenommen würde, wäre der Angeschuldigte strafbefreiend zurückgetreten.
- Das Gericht betonte den Grundsatz „In dubio pro reo“ (Im Zweifel für den Angeklagten).
- Aufgrund der Beweislage war ein Freispruch zu Gunsten des Angeklagten wahrscheinlich.
Übersicht
Ein Ladendiebstahl mit Wendung: Der Vorfall in Worms
Am 09. Juli 2016 ereignete sich in Worms ein Vorfall, der später Gegenstand einer rechtlichen Auseinandersetzung wurde. Ein Angeschuldigter soll versucht haben, eine Packung des Parfums Chanel Coco Mademoiselle im Wert von 205,90 € zu stehlen. Der Vorwurf lautet, dass der Angeschuldigte das Parfum aus dem Regal genommen und die Verpackung entfernt habe, um es zu entwenden. Als er jedoch bemerkte, dass ein Ladendetektiv ihn beobachtete, stellte er die Parfumflasche zurück ins Regal. Der Ladendetektiv sprach den Angeschuldigten an und verständigte die Polizei.
Hinreichender Tatverdacht und rechtliche Herausforderungen
Der Kern des Falles dreht sich um den hinreichenden Tatverdacht und die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung wegen Ladendiebstahls. Das rechtliche Problem und die Herausforderung in diesem Fall liegen in der Interpretation der Handlungen des Angeschuldigten und der Frage, ob diese ausreichen, um einen hinreichenden Tatverdacht für einen versuchten Diebstahls zu begründen.
Bewertung der Beweissituation und Absichten
Die Zusammenhänge und zu beachtenden Aspekte liegen in der Bewertung der Beweise und der Absichten des Angeschuldigten. Es muss geklärt werden, ob der Angeschuldigte tatsächlich die Absicht hatte, das Parfum zu stehlen, oder ob er es lediglich betrachten wollte. Die Beweissituation besteht aus der Aussage des Ladendetektivs, der Videoaufzeichnung und der Aussage des Angeschuldigten selbst.
Urteil: Freispruch trotz Verdachts
Das Amtsgericht Worms entschied am 14. Dezember 2016, dass das Hauptverfahren gegen den Angeschuldigten aus tatsächlichen Gründen nicht zu eröffnen sei. Die Begründung lautete, dass ein hinreichender Tatverdacht nicht vorliege und eine Verurteilung des Angeschuldigten unwahrscheinlich sei. Der Angeschuldigte hatte in seiner Vernehmung angegeben, das Parfum lediglich betrachten zu wollen und nicht die Absicht gehabt zu haben, es zu kaufen.
Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass die vorhandenen Beweise und die Aussagen des Angeschuldigten nicht ausreichen, um einen Tatentschluss nachzuweisen. Selbst wenn man annehmen würde, dass der Angeschuldigte unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt hätte, wäre er nach § 24 Abs. 1 StGB strafbefreiend zurückgetreten. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten fielen zu Lasten der Staatskasse.
Die Auswirkungen dieses Urteils betonen die Bedeutung eines sorgfältigen Umgangs mit Beweisen und die Notwendigkeit, die Absichten des Angeschuldigten klar zu bewerten. Es zeigt auch, dass das Prinzip „In dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten – eine zentrale Rolle in der Rechtsprechung spielt.
Das Fazit des Urteils ist, dass trotz des Verdachts und der Umstände, die gegen den Angeschuldigten sprechen könnten, eine Verurteilung nur dann erfolgen kann, wenn ein hinreichender Tatverdacht und eine klare Beweislage vorliegen. In diesem Fall war das Gericht der Ansicht, dass diese Kriterien nicht erfüllt waren, und entschied daher gegen die Eröffnung eines Hauptverfahrens.
✔ Wichtige Begriffe kurz erklärt
Was bedeutet „hinreichender Tatverdacht“ im Kontext des Strafrechts?
Der Begriff „hinreichender Tatverdacht“ ist ein zentraler Bestandteil des deutschen Strafrechts und bezieht sich auf die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person eine Straftat begangen hat. Dieser Verdachtsgrad liegt höher als der Anfangsverdacht, aber niedriger als der dringende Tatverdacht.
Ein hinreichender Tatverdacht liegt vor, wenn aufgrund der Beweislage eine Verurteilung wahrscheinlicher ist als ein Freispruch. Dies bedeutet, dass die Staatsanwaltschaft aufgrund der vorliegenden Beweise zu dem Schluss kommt, dass es wahrscheinlicher ist, dass der Beschuldigte die Straftat begangen hat, als dass er unschuldig ist.
Die Entscheidung, ob ein hinreichender Tatverdacht vorliegt, trifft die Staatsanwaltschaft im Rahmen des Ermittlungsverfahrens. Sie muss dabei den gesamten Akteninhalt vorläufig bewerten und sowohl rechtliche als auch tatsächliche Gesichtspunkte berücksichtigen.
Wenn ein hinreichender Tatverdacht besteht, besteht gemäß § 170 Absatz 1 der Strafprozessordnung (StPO) die Pflicht der Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung. In dem darauf folgenden sogenannten Zwischenverfahren überprüft das Gericht das Vorliegen des hinreichenden Tatverdachtes. Sollte es zur gleichen Ansicht kommen wie die Staatsanwaltschaft, so muss es das Hauptverfahren gemäß § 203 StPO eröffnen.
Es ist zu betonen, dass ein hinreichender Tatverdacht nicht bedeutet, dass der Beschuldigte tatsächlich schuldig ist. Es handelt sich lediglich um eine Einschätzung auf der Grundlage der bisherigen Ermittlungsergebnisse, die eine Verurteilung wahrscheinlicher erscheinen lässt als einen Freispruch. Die endgültige Entscheidung über Schuld oder Unschuld trifft das Gericht im Rahmen des Hauptverfahrens.
Das vorliegende Urteil
AG Worms – Az.: 1 Ds 3200 Js 28464/16 – Beschluss vom 14.12.2016
1. Die Eröffnung des Hauptverfahrens wird aus tatsächlichen Gründen abgelehnt.
2. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Angeschuldigten trägt die Staatskasse.
Gründe
I.
Dem Angeschuldigten wird mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Mainz vom 17.10.2016 zur Last gelegt, am 09.07.2016 in Worms einen versuchten Ladendiebstahl begangen zu haben. Konkret soll der Angeschuldigte in dem D. eine Packung des Parfums Chanel Coco Mademoiselle im Wert von 205,90 € in der Absicht aus dem dafür vorgesehenen Regal entnommen haben, dieses Parfum zu entwenden. Anschließend soll sich der Angeschuldigte in einen weiteren Gang begeben und die Verpackung der Parfumflasche entfernt haben. Als der Angeschuldigte bemerkt habe, dass ihn ein Ladendetektiv, der Zeuge R., beobachtete, habe er die Parfumflasche in ein Regal zurückgestellt. Im weiteren Verlauf sei er von dem Zeugen R. angesprochen und die Polizei verständigt worden.
II.
Gemäß den §§ 203, 204 StPO war das Hauptverfahren gegen den Angeschuldigten aus tatsächlichen Gründen nicht zu eröffnen.
Hinreichender Tatverdacht nach § 203 StPO ist anzunehmen, wenn die vorläufige Tatbewertung ergibt, dass die Verurteilung des Angeschuldigten wahrscheinlich ist (BGHSt 23, 304, 306; OLG Koblenz NJW 1994, 1887; OLG Hamburg StV 1996, 418; KG NJW 1997, 69; KK/Tolksdorf, StPO, 7. Aufl., § 203 Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 203 Rn. 2). Die Wahrscheinlichkeit muss so groß sein, dass es einer Entscheidung durch das erkennende Gericht in der Hauptverhandlung bedarf, um festzustellen, ob noch bestehende Zweifel gerechtfertigt sind (KK/Tolksdorf, a. a. O., § 203 Rn. 4).
Diese Voraussetzungen liegen hier jedoch nicht vor. Nach der vorzunehmenden Gesamtwürdigung des vorhandenen Akteninhalts ist nach Auffassung des Gerichts eine Verurteilung des Angeschuldigten R. wegen der ihm im Rahmen der Anklageschrift vom 17.10.2016 vorgeworfenen Tat in Form eines versuchten Diebstahls nicht wahrscheinlich.
Der Angeschuldigte hat in seiner Vernehmung vom 10.08.2016 ausgeführt, er habe das Parfum nicht stehlen wollen. Vielmehr habe er die Flasche aus der Verpackung genommen, um sie sich anzuschauen und dann, weil er nicht die Absicht gehabt habe sie zu kaufen, in ein Regal zurück gestellt. Diese Angaben des Angeschuldigten werden sich in einer Hauptverhandlung nicht widerlegen lassen. Die Angaben des Zeugen R. und die bei den Akten befindliche Videoaufzeichnung bestätigen lediglich den äußeren Ablauf, der von dem Angeschuldigten nicht bestritten wird. Sie belegen jedoch für sich nicht ohne Weiteres einen etwaigen Tatentschluss des Angeschuldigten, einen Diebstahl zu begehen und damit den Straftatbestand des § 242 Abs. 1 StGB durch ein unmittelbares Ansetzen erfüllen zu wollen.
Voraussetzung für eine wahrscheinliche Verurteilung des Angeschuldigten R. wäre vorliegend, dass er zu dem Zeitpunkt des unmittelbaren Ansetzens, namentlich als er die Parfumflasche aus dem Regal entnahm, Tatentschluss dazu hatte, den an der Parfumflasche bestehenden fremden Gewahrsam des Ladeninhabers zu brechen und eigenen Gewahrsam zu begründen. Da es sich bei dem Gewahrsam um ein tatsächliches Sachherrschaftsverhältnis handelt, sind die Anschauungen des täglichen Lebens und vor allem die Umstände des Einzelfalles maßgebend (vgl. bspw. BGHSt 16, 271, 273 ; 23, 254, 255; 41, 198, 205). Zwar kommt ein unmittelbares Ansetzen in Betracht, wenn der Täter die Sache in die Hand nimmt, um sie wegzunehmen (BeckOK StGB/Wittig, Ed. 32, § 242 Rn. 42.1 unter Bezugnahme auf RGSt 55, 244). Allerdings sind an die Feststellung, der Täter habe die Ware entwenden wollen, bei im Geschäftsbereich offen getragenen kleineren Gegenständen erhöhte Anforderungen zu stellen (BayObLG NJW 1997, 3226, 3227). Bei offen im Bereich der Geschäftsfläche eines Selbstbedienungsladens mitgeführten Waren kann nämlich nicht ohne weiteres angenommen werden, der Kunde wolle sich diese Ware ohne Bezahlung zueignen. Es handelt sich nämlich um ein – wie die Videoaufzeichnung plastisch dokumentiert – grundsätzlich sozial übliches und von dem Ladeninhaber toleriertes Verhalten, das durch eine Vielzahl weiterer Besucher an den Tag gelegt wird.
Selbst wenn man jedoch zu der Annahme gelangen würde, dass der Angeschuldigte durch die Entnahme der Parfumflasche aus dem Regal zu einer Tatbestandsverwirklichung des § 242 Abs. 1 StGB unmittelbar angesetzt haben sollte, wäre er hier nach § 24 Abs. 1 StGB von einem offensichtlich unbeendeten Versuch strafbefreiend zurück getreten, weil eine etwaige Angst vor Entdeckung die Freiwilligkeit nicht auszuschließen vermag (Fischer, StGB, 63. Aufl., § 24 Rn. 19b).
Aufgrund der vorstehenden Erwägungen gelangt das Gericht nach nochmaliger Abwägung sämtlicher Umstände mithin zu dem Ergebnis, dass aufgrund der vorhandenen Beweissituation nach der derzeitigen Aktenlage, bei der maßgebliche Veränderungen nicht zu erwarten stehen, in einer Hauptverhandlung nach dem Grundsatz „In dubio pro reo“ ein Freispruch zu Gunsten des Angeklagten wahrscheinlich ist. Zwar ist der Grundsatz „In dubio pro reo“ auf das Wahrscheinlichkeitsurteil nicht anwendbar (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 203 Rn 2; KK/Tolksdorf, a.a.O., § 203 Rn 4; KG NJW 1997, 69). Jedoch kann hinreichender Tatverdacht mit der Begründung verneint werden, dass in einer Hauptverhandlung nach dieser Regel wahrscheinlich Freispruch ergehen würde (OLG Köln StraFo 1998, 230; OLG Karlsruhe 1974, 806; OLG Bamberg NStZ 1991, 252; Meyer-Goßner/Schmit, a.a.O., § 203 Rn 2; KK/Tolksdorf, a.a.O., § 203 Rn 4). So liegt es hier.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten folgt aus §§ 464 Abs. 1, 467 Abs. 1 StPO.