Das Landgericht Potsdam hat auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft den Nichteröffnungsbeschluss des Amtsgerichts Nauen aufgehoben, sodass gegen die Angeschuldigten L., S., H., M., R., W., und B. wegen hinreichenden Tatverdachts auf Sachbeschädigung durch Graffiti das Hauptverfahren eröffnet wird, während die Beschwerde bezüglich des Angeschuldigten Mike A. zurückgewiesen wurde.
Übersicht
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✔ Das Wichtigste in Kürze
- Das LG Potsdam hebt den Nichteröffnungsbeschluss des AG Nauen auf und eröffnet das Hauptverfahren gegen die Angeschuldigten L., S., H., M., R., W., und B. wegen Graffiti-Sachbeschädigung.
- Die Staatsanwaltschaft legte sofortige Beschwerde gegen den Nichteröffnungsbeschluss ein, was erfolgreich war, außer für den Angeschuldigten Mike A.
- Die Tat, das Besprühen von Regionalzügen mit Graffiti, führte zu erheblichem Schaden und Betriebsstörungen.
- Das Gericht beruft sich auf die Einzigartigkeit von Graffiti-„Tags“ als Beweis für den Tatverdacht.
- Die Kosten des Verfahrens gegen Mike A. werden der Staatskasse auferlegt, während die anderen Angeschuldigten die Kosten des Beschwerdeverfahrens tragen müssen.
- Hinreichender Tatverdacht besteht, wenn die Verurteilung wahrscheinlich ist, wobei „in dubio pro reo“ in diesem Stadium nicht anwendbar ist.
- Für den Angeschuldigten A. reicht der Beweis nicht aus, da seine Crew-Signatur keinen individuellen Rückschluss zulässt.
Graffiti – Kunstform oder Straftat?
Graffiti polarisiert seit Jahrzehnten die Gesellschaft. Während die einen in den bunten Spray-Kunstwerken eine kreative Ausdrucksform sehen, betrachten andere es als reine Sachbeschädigung. Doch wann ist Graffiti rechtlich als Straftat zu bewerten? Eine zentrale Rolle spielt hier der Begriff des hinreichenden Tatverdachts.
In der Rechtsprechung wird Graffiti oft als Sachbeschädigung gewertet, die mit Geld- oder Freiheitsstrafen geahndet werden kann. Entscheidend ist, ob die zuständigen Behörden zu der Überzeugung gelangen, dass die Verurteilung einer Person wegen Sachbeschädigung durch Graffiti wahrscheinlicher ist als ein Freispruch. Dieser Nachweis eines hinreichenden Tatverdachts ist für die Eröffnung eines Hauptverfahrens unerlässlich.
Graffiti-Aktion führt zu gerichtlicher Auseinandersetzung und Urteil des LG Potsdam
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 2011 kam es zu einem Vorfall, der die Justiz bis heute beschäftigt. Eine Gruppe von Personen, identifiziert durch die Anklageschrift als L., S., H., M., R., W., und B., führte eine großangelegte Graffiti-Aktion durch.
Sie besprühten vier Wagen der an den Bahnsteigen 5 und 6 abgestellten Regionalzüge RB 18961 und 18963 der Deutschen Bahn AG. Diese Tat hatte nicht nur eine visuelle Veränderung zur Folge, sondern verursachte auch erheblichen materiellen Schaden. Durch das Eindringen von Sprühfarbe in die Türschlösser wurden die Führerstände unzugänglich, was das Abschleppen der Züge notwendig machte. Die dadurch entstandenen Kosten beliefen sich auf 3.302,49 Euro.
Die rechtliche Herausforderung in diesem Fall lag in der Beweisführung der individuellen Täterschaft, welche durch die einzigartigen Graffiti-„Tags“ – ein Signaturkürzel der Sprüher als Pseudonym – gegeben sein sollte. Diese Tags sind in der Graffiti-Szene als individuelle Signaturen anerkannt und gelten als Beweis für die Urheberschaft einer bestimmten Person.
Die Entscheidung des LG Potsdam: Zwischen Tatverdacht und rechtlicher Würdigung
Das Landgericht Potsdam hob in seinem Beschluss vom 2. Juni 2015 (Az.: 24 Qs 110/14) den vorherigen Nichteröffnungsbeschluss des Amtsgerichts Nauen auf. Grund dafür war die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Potsdam gegen die ursprüngliche Entscheidung, die Verfahrenseröffnung zu verweigern. Das LG Potsdam entschied, dass die Anklage gegen die genannten Personen zur Hauptverhandlung zugelassen wird, basierend auf dem hinreichenden Tatverdacht, der sich maßgeblich durch die Zuordnung der individuellen Tags ergibt.
Die juristische Abwägung berücksichtigte die spezifischen Gepflogenheiten der Graffiti-Kultur, in der das „Tagging“ eine zentrale Rolle spielt. Die individuelle Signatur eines Sprühers, sein „Tag“, gilt als persönliche Visitenkarte und wird ausschließlich von ihm verwendet. Diese Praxis bildete die Grundlage für den Tatverdacht und die darauf folgende Entscheidung des Gerichts. Es wurde festgestellt, dass die Tags der Angeklagten auf den beschädigten Zügen identifiziert wurden, was in Verbindung mit weiteren Indizien einen hinreichenden Tatverdacht begründete.
Die Entscheidung des LG Potsdam unterstreicht die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung individueller Beweise im Kontext kultureller Praktiken. Das Gericht wies darauf hin, dass die spezifischen Merkmale eines Tags – seine individuelle Gestaltung und Zuordnung – eine hohe Beweiskraft haben und vergleichbar mit der einer Unterschrift sind. Diese Anerkennung kultureller Signaturen als legitime Beweismittel in einem strafrechtlichen Verfahren markiert einen interessanten Aspekt im Schnittpunkt von Recht und subkulturellen Praktiken.
Die Kosten des Verfahrens wurden entsprechend der Entscheidung verteilt. Während die durch die Anklage gegen den Angeschuldigten Mike A. entstandenen Kosten der Staatskasse auferlegt wurden, tragen die anderen Angeschuldigten die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Dieses Urteil zeigt die komplexe Natur juristischer Entscheidungsfindung auf, die eine tiefe Auseinandersetzung mit dem spezifischen Kontext einer Tat erfordert und dabei auch kulturelle Praktiken und deren Bedeutung in der Beweisführung berücksichtigt.
✔ FAQ: Wichtige Fragen kurz erklärt
Was versteht man unter Sachbeschädigung durch Graffiti?
Unter Sachbeschädigung durch Graffiti versteht man das unbefugte Besprühen oder Bemalen von fremdem Eigentum, wodurch das Erscheinungsbild der Sache nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert wird. Dies ist in Deutschland nach § 303 Abs. 2 StGB strafbar und kann mit einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren geahndet werden.
Die Strafbarkeit von Graffiti wurde mit einer Gesetzesreform im Jahr 2005 explizit festgelegt, um die bis dahin bestehende Lücke zu schließen, die Graffiti nicht immer als Sachbeschädigung einstufte, wenn die Substanz des Objekts nicht verletzt wurde. Seitdem ist auch die bloße Veränderung des Erscheinungsbildes einer fremden Sache ohne Substanzverletzung strafbar, wenn diese Veränderung nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend ist.
Neben der strafrechtlichen Verfolgung können auf die Täter auch erhebliche zivilrechtliche Folgen zukommen, wie Schadensersatzforderungen, die bis zu 30 Jahre lang geltend gemacht werden können. Zudem kann bei der Anbringung von Graffiti auch ein Hausfriedensbruch vorliegen, wenn dafür ein fremdes Grundstück widerrechtlich betreten wird. Weitere mögliche Straftatbestände, die mit Graffiti einhergehen können, sind Beleidigung, Volksverhetzung oder das Verwenden von Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen.
Die Polizei und andere Ermittlungsbehörden verfolgen Graffiti als Sachbeschädigung konsequent, und die Täter müssen mit empfindlichen Strafen rechnen. Eltern wird geraten, auf Anzeichen für Graffiti-Aktivitäten bei ihren Kindern zu achten und frühzeitig einzugreifen, um mögliche rechtliche Konsequenzen zu vermeiden.
Wie wird der Tatverdacht bei Graffiti-Sachbeschädigungen festgestellt?
Der Tatverdacht bei Graffiti-Sachbeschädigungen wird durch verschiedene Ermittlungsmethoden festgestellt. Zu den häufigsten Methoden gehören die Sicherung und Analyse von Spuren am Tatort, die Auswertung von Überwachungskameras, Zeugenaussagen und die Untersuchung von beschlagnahmten Gegenständen wie Handys.
Bei der Spurensicherung können beispielsweise Farbproben von der besprühten Fläche und von den Händen oder Kleidungsstücken des Verdächtigen genommen werden, um eine Übereinstimmung festzustellen. Auch die Analyse von Fingerabdrücken oder DNA-Spuren kann zum Einsatz kommen, um den Täter zu identifizieren.
Die Auswertung von Überwachungskameras spielt ebenfalls eine wichtige Rolle, da sie den Täter möglicherweise direkt beim Ausführen der Tat zeigen kann. Zeugenaussagen, etwa von Personen, die den Täter beim Sprayen beobachtet haben, können ebenfalls wichtige Hinweise liefern.
Beschlagnahmte Gegenstände wie Handys können auf Fotos oder Videos von Graffitis untersucht werden, die möglicherweise als Beweismittel dienen. Die Auswertung solcher Daten kann weitere Hinweise auf die Beteiligung an Graffiti-Sachbeschädigungen geben.
In einigen Fällen können auch erkennungsdienstliche Maßnahmen wie die Erstellung von Fotos und Fingerabdrücken des Verdächtigen angeordnet werden, um diesen bei zukünftigen Straftaten schneller identifizieren zu können.
Die Ermittlungen zu Graffiti-Sachbeschädigungen können komplex sein, insbesondere wenn mehrere Täter beteiligt sind oder wenn der Verdächtige Teil einer Gruppe ist, die für mehrere Graffitis verantwortlich ist. In solchen Fällen kann die Zuordnung von spezifischen Graffitis zu einzelnen Tätern schwierig sein, da oft mehrere Personen das gleiche Tag benutzen.
Zusammenfassend basiert die Feststellung des Tatverdachts bei Graffiti-Sachbeschädigungen auf einer Kombination aus physischen Beweisen, technischen Auswertungen und Zeugenaussagen, die zusammen ein Bild der Tat und möglicherweise des Täters ergeben.
§ Wichtige Gesetze und Paragraphen in diesem Urteil
- § 303 StGB (Sachbeschädigung): Dieser Paragraph ist zentral, da der Vorwurf der Sachbeschädigung durch Graffiti direkt unter dieses Gesetz fällt. Er definiert, dass das Beschädigen, Zerstören oder Verändern einer fremden Sache rechtswidrig ist und sanktioniert werden kann.
- § 203 StPO (Hinreichender Tatverdacht): Erklärt, unter welchen Umständen ein Gericht die Eröffnung eines Hauptverfahrens beschließt. Ein hinreichender Tatverdacht liegt vor, wenn auf Grundlage der Ermittlungsergebnisse die Verurteilung wahrscheinlich ist. Dieser Paragraph bildet die Grundlage für die Entscheidung des LG Potsdam zur Aufhebung des Nichteröffnungsbeschlusses.
- § 210 StPO (Sofortige Beschwerde): Dieser Paragraph regelt die Zulässigkeit und die Fristen für die Einlegung einer sofortigen Beschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen im Vorfeld der Hauptverhandlung, was im vorliegenden Fall durch die Staatsanwaltschaft genutzt wurde.
- § 311 StPO (Beschwerde): Bestimmt die allgemeinen Regelungen für das Beschwerderecht, inklusive der Fristen und Formvorschriften. Relevant für das Verständnis des Verfahrens, in dem die Staatsanwaltschaft gegen den Nichteröffnungsbeschluss vorging.
- § 465 StPO (Kosten bei Zurücknahme eines Rechtsmittels): Erläutert die Kostenentscheidung in Strafverfahren. Dieser Paragraph ist wichtig, um zu verstehen, wer die Kosten des Verfahrens trägt, insbesondere im Kontext der Aufhebung des Nichteröffnungsbeschlusses und der Anklageerhebung.
- § 472 StPO (Notwendige Auslagen des Angeschuldigten): Gibt Aufschluss darüber, wie mit den durch die Anklageerhebung entstandenen notwendigen Auslagen eines Angeschuldigten umzugehen ist. Im vorliegenden Fall wurden die Auslagen für den Angeschuldigten Mike A. der Staatskasse auferlegt.
Das vorliegende Urteil
LG Potsdam – Az.: 24 Qs 110/14 – Beschluss vom 02.06.2015
Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Potsdam wird der Nichteröffnungsbeschluss des Amtsgerichts Nauen vom 27. November 2014 – 26 Ds 440 Js 57643/11 (17/14) – aufgehoben, soweit er die Angeschuldigten L., S., H., M., R., W. und B. betrifft. Im Übrigen – betreffend den Angeschuldigten Mike A. – wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Soweit der Beschwerde stattgegeben worden ist, also betreffend der Angeschuldigten L., S., H., M., R., W. und B., wird die Anklage der Staatsanwaltschaft Potsdam vom 2. Juni 2014 – 440 Js 57643/11 – mit der Maßgabe zur Hauptverhandlung zugelassen, dass der angeklagte Tatzeitraum richtigerweise lautet:
„in der Nacht vom 9. auf den 10. November 2011“.
Das Hauptverfahren wird vor dem Amtsgericht Nauen – Strafrichter – eröffnet.
Die Kosten, die durch die Anklageerhebung in Bezug auf den Angeschuldigten Mike A. entstanden sind sowie die diesem durch die Anklageerhebung und das Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt. Im Übrigen haben die Angeschuldigten L., S., H., M., R., W. und B. die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Mit der Anklageschrift vom 2. Juni 2014 hat die Staatsanwaltschaft Potsdam den Angeschuldigten gemeinschaftlich begangene Sachbeschädigung in Tateinheit mit Störung öffentlicher Betriebe zur Last gelegt, indem sie in der Nacht vom 9. auf den 10. November 2011 – in der Anklageschrift ist der Tatzeitraum versehentlich bezeichnet als: „in der Nacht vom 09.10.2011 auf den 10.11.2011“ – einem gemeinsam gefassten Tatplan folgend jeweils vier Wagen der an den Bahnsteigen 5 und 6 abgestellten Regionalzüge RB 18961 und 18963 der Deutschen Bahn AG mit Graffitizeichnungen besprüht haben; durch das Eindringen von Sprühfarbe in die Türschlösser der beiden Wagenparks hätten die Führerstände der betroffenen Züge nicht betreten werden können, so dass sie abgeschleppt werden mussten. Insgesamt sei ein Schaden in Höhe von 3.302,49 Euro entstanden.
Mit dem angefochtenen Beschluss vom 27. November 2014 hat das Amtsgericht Nauen die Eröffnung des Verfahrens abgelehnt, da nach dem Ergebnis der Ermittlungen und den gegebenen Beweismöglichkeiten eine Verurteilung nicht hinreichend wahrscheinlich sei. Gegen den ihr am 10. Dezember 2014 gemäß § 41 StPO durch Übersendung der Akte zugestellten Beschluss hat die Staatsanwaltschaft Potsdam mit Faxschreiben vom 11. Dezember 2014 sofortige Beschwerde erhoben und diese mit Verfügung vom 15. Dezember 2015 dahingehend begründet, dass ein hinreichender Tatverdacht im Sinne von § 203 StPO bestehe. Auf diese Verfügung wird Bezug genommen.
Die Angeschuldigten und ihre Verteidiger hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
II.
1. Die sofortige Beschwerde gegen den Nichteröffnungsbeschluss ist gemäß § 210 Abs. 2 in Verbindung mit § 311 StPO statthaft. Sie ist zulässig; insbesondere hat die Staatsanwaltschaft die Wochenfrist gemäß § 311 Abs. 2 StPO gewahrt.
2. Die sofortige Beschwerde bleibt nur in Hinblick auf den Angeschuldigten A. erfolglos; im Übrigen hat sie in der Sache Erfolg. Betreffend die Angeschuldigten L., S., H., M., R., W. und B. hat das Amtsgericht Nauen zu Unrecht die Eröffnung des Hauptverfahrens aus tatsächlichen Gründen abgelehnt. Nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen sind diese Angeschuldigten der ihnen vorgeworfenen Straftat hinreichend verdächtig, so dass in Bezug auf sie die Voraussetzungen für die Eröffnung des Hauptverfahrens erfüllt sind.
a) Gemäß § 203 StPO beschließt das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens, wenn der Angeschuldigte nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint. Hinreichender Tatverdacht ist anzunehmen, wenn die Verurteilung in einer Hauptverhandlung bei vorläufiger Tatbewertung auf der Grundlage des Ermittlungsergebnisses mit vollgültigen Beweismitteln wahrscheinlich ist (BGHSt 23, 304 [306]; Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 14. August 2006, 1 Ws 166/06, bei juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 203 Rz. 2).
Bei seiner Prüfung hat das Gericht die Beweislage vorläufig zu bewerten. Dabei ist das Gericht gehalten, seine Beurteilung einerseits aufgrund des gesamten Ermittlungsergebnisses vorzunehmen, andererseits aber auch die besseren Aufklärungsmöglichkeiten der Hauptverhandlung in Rechnung zu stellen (OLG Koblenz, NJW 2013, 98). Bei dieser Entscheidung bleibt daher für den Zweifelssatz in dubio pro reo kein Raum (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 203, Rz. 2 m.w.N.). Bei ungefähr gleicher Wahrscheinlichkeit von Verurteilung und Nichtverurteilung ist das Hauptverfahren zu eröffnen, wenn zweifelhafte Tatfragen in der Hauptverhandlung geklärt werden und zu einer die Verurteilung tragenden tatsächlichen Grundlage führen können (OLG Stuttgart, NStZ-RR 2011, 318; OLG Koblenz, NJW 2013, 98; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 203 Rdn. 2).
b) Nach diesem Prüfungsmaßstab ist betreffend die Angeschuldigten L., S., M., R., W. und B. ein hinreichender Tatverdacht für die hier in Rede stehende Straftat gegeben.
Die Ermittlungen haben ergeben, dass durch die hier gegenständliche Tat auf die abgestellten Bahnzüge die Tag-Schriftzüge der Angeschuldigten L. (SOUR), S. (TUES), M. (MISTA), R. (RÜBE, LOZR), W. (YUSK) und B. (BECKER) aufgebracht worden sind. In der Graffiti-Szene gilt die Regel, dass ein Tag-Schriftzug nur von einem Graffiti-Sprüher benutzt wird und daher individuell zugeordnet werden kann (LG Berlin, Urteil vom 11.8.2005, (524) 21 Ju Js 783/03 (35/05), in Juris). Im Graffiti-Jargon ist das „Tag“ ein Signaturkürzel des Graffiti-Sprühers und stellt sein Pseudonym dar; es wird häufig als Unterschrift verwendet, aber auch als territoriale Markierung mit dem Ziel, den eigenen Style zu präsentieren und in einem bestimmten Gebiet besonders präsent zu sein und so Bekanntheit (Fame) zu erreichen (vgl. Wikipedia-Eintrag zum Graffiti-Jargon http://de.wikipedia.org/wiki/Graffiti-Jargon). Einen guten, möglichst einzigartigen Style zu erreichen gilt in Graffiti-Kreisen als erstrebenswert. So erläutert Graffiti-Websites: „[…] Tags weisen auf die Individualität von Menschen hin. Es ist ein Ausdruck von Selbstwertgefühl und Urheberschaft, wie auch eine Art Gütezeichen.“ Weiterhin: „Tags […] werden ständig wiederholt und daher von ihren Urhebern ´blind´ beherrscht. Sie dienen dazu, ein Territorium zu markieren und anderen Taggern zu signalisieren: hier war ich.“ (http://graffiti-portal.com/abc2.html). Es ist in Graffiti-Kreisen verpönt, den Tag einer anderen Person zu verwenden. So wird angehenden Graffiti-Sprühern empfohlen, vor der Auswahl des Tag sicherzustellen, dass dieser nicht schon von jemand anderem genutzt wird und sich gegebenenfalls einen anderen Tag zu überlegen, da es „großen Ärger“ nach sich ziehen kann, wenn man mit einem Tag malt, der schon vergeben ist (http://graffiti-lernen.info/tutorial-teil-1-der-tag, vgl. auch http://de.wikihow.com/Graffiti-taggen). Lässt sich ein Tag – etwa aus früheren Verfahren – einem bestimmten Sprayer zuordnen, so kann er ihm auch in weiteren Fällen zugeordnet werden, solange keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass dieses Tag auch von einem anderen Sprayer verwendet wird oder dass der Tag verkauft worden ist (LG Berlin, Urteil vom 11.8.2005, (524) 21 Ju Js 783/03 (35/05), in Juris). Die Kammer teilt ausdrücklich nicht den Standpunkt, den das Landgericht Offenburg in seiner – oft zitierten – Entscheidung vom 15. Januar 2002 vertreten hat, wonach dem Tag für die Frage der Täterschaft lediglich eine Indizwirkung zukommen soll (LG Offenburg, StV 2002, 359, vollständig in Juris). Angesichts der oben geschilderten Gepflogenheiten in Graffiti-Kreisen, die jedenfalls heute im Internet leicht nachzulesen sind, und angesichts der Bedeutung, die dabei dem Tag als individuelle Signatur zukommt, ist sein Beweiswert mit derjenigen einer individuellen Unterschrift vergleichbar. Zwar mag es in Einzelfällen vorkommen, dass Tags nachgeahmt und insbesondere die Tags von bekannten Sprayern in Einzelfällen „unberechtigt“ kopiert worden sein können (sogenanntes biten; siehe den Wikipedia-Eintrag zum Graffiti-Jargon) (vgl. neben der oben genannten Entscheidung des LG Offenburg auch die eingereichten Entscheidungen des AG Berlin-Tiergaren vom 1.9.2008, Gz.: (279 Ds) 3023 PLs 7352/08 (107/08) und des AG Nürnberg vom 10.3.2011, Gz.: 17 C 10279/10, das sich allerdings auf Takes bezieht). Die bisherigen Ermittlungen haben allerdings keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die oben genannten Individual-Tags der Angeschuldigten L., S., H., M., R., W. und B. im vorliegenden Fall von anderen Personen nicht nur „unberechtigt“ gebraucht, sondern auch in ihrer individuellen optischen Gestaltung (dem Style) nachgeahmt worden sein könnten.
c) Auch in Hinblick auf den Angeschuldigten H. ist ein hinreichender Tatverdacht für die hier in Rede stehende Straftat gegeben. Zwar ist nach dem Akteninhalt nicht festzustellen, dass sich ein Tag des Angeschuldigten H. an den betroffenen Eisenbahnwagons befindet. Allerdings ist bei ihm ein Datenstick mit den Fotos aufgefunden worden, die während der Tatbegehung aufgenommen worden sind und die die Tatausführung zeigen. Dies weist darauf hin, dass der Angeschuldigte H. bei der Tatausführung zugegen war und diese dokumentiert hat. Hinzu kommt, dass die Durchsuchung beim Angeschuldigten H. zum Auffinden von Fotos geführt hat, die der Zuordnung von Tags dienten. Überdies hat der Angeschuldigte H. im Tatzeitrum telefonischen Kontakt zu dem Mitangeschuldigten M. gehabt. Wenn auch der telefonische Kontakt für sich genommen keinen Hinweis auf eine Anwesenheit vor Ort oder eine andere Form der Mittäterschaft erbringt, kann das Zusammentreffen der genannten Indiztatsachen dazu führen den Angeschuldigten H. der ihm vorgeworfenen Mittäterschaft an der hier gegenständlichen Tat zu überführen.
d) In Hinblick auf den Angeschuldigten A. besteht nach der aus der Akte ersichtlichen Beweislage derzeit kein hinreichender Tatverdacht für die hier in Rede stehende Straftat. Es ist nach dem Akteninhalt nicht festzustellen, dass sich ein Tag des Angeschuldigten Andersen (FROK) an den betroffenen Eisenbahnwagons befindet. Im Gegensatz zum Tag lässt eine Crew-Signatur keinen individuellen Rückschluss auf die Urheberschaft zu, da sie nicht nur von einem, sondern von mehreren Sprüher verwendet wird. Bei einer Crew handelt es sich um Zusammenschlüsse von Graffiti-Sprühern, von denen jeder das Crew-Kürzel – ähnlich wie die eigenen Tags – in Bildern verarbeiten und durch die gemeinsame Verwendung des Kürzels dessen Bekanntheitsgrad erhöhen (vgl. Wikipedia-Eintrag zum Graffiti-Jargon). Die Verwendung eines Crew-Kürzels lässt nur den Rückschluss auf eine Gruppe, nicht jedoch auf eine bestimmte einzelne Person zu. Allein der Umstand, dass sich an den Wagons die Crew-Zeichen AMD und RMB befinden und dass diese Zeichen im Wohnumfeld des Angeschuldigten A. auftauchen, lässt nicht den Schluss darauf zu, dass der Angeschuldigte A. vor Ort gewesen sei und an der hier gegenständlichen Tat teilgenommen hätte. Auch der Umstand, dass der Angeschuldigte A. im Tatzeitraum mit dem Angeschuldigten M. telefoniert hat, kann keinen Beweis dafür erbringen, dass der Angeschuldigte A. bei der Tat vor Ort gewesen sei oder an ihrer Ausführung mitgewirkt hätte.
3. Die Bezeichnung des Tatzeitraums in der Anklageschrift: „in der Nacht vom 09.10.2011 auf den 10.11.2011“ handelt es sich um ein – nach dem Akteninhalt offensichtliches – Schreibversehen, das im Zuge der Eröffnungsentscheidung zu berichtigen war.
III.
Die Kostenentscheidung beruht in Hinblick auf den Angeschuldigten A. auf einer entsprechenden Anwendung von § 472 Abs. 1 und 2 StPO, im Übrigen auf einer entsprechenden Anwendung von § 465 StPO, denn ein ausschließlich zuungunsten der Angeschuldigten eingelegtes Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hatte in vollem Umfang Erfolg (vgl. Beschluss der Kammer vom 21. Mai 2015, Az.: 24 Qs 104/14).