OLG Koblenz – Az.: 4 OLG 32 Ss 88/21 – Beschluss vom 15.06.2021
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der 16. kleinen Strafkammer des Landgerichts Koblenz vom 9. März 2021 wird auf seine Kosten (§ 473 Abs. 1 Satz 1 StPO) als offensichtlich unbegründet verworfen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Koblenz hat den Angeklagten am 7. Juli 2020 wegen Diebstahls mit Waffen zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt. Gegen das Urteil hat der Angeklagte Berufung eingelegt, mit dem Ziel der Aussetzung der Strafe zur Bewährung. Mit dem im Tenor genannten Urteil hat die Strafkammer dieses Rechtsmittel als unbegründet verworfen.
Nach den Feststellungen suchte der Angeklagte am 19. Oktober 2019 den H.-Baumarkt im Industriegebiet in K. und entnahm dort der Warenauslage ein Damentoilettentürschild, eine Rj45 Netzwerk-Doppelkupplung, ein Netzwerkkabel und zwei Türgriffe, wobei er die Sachen in seine Jackentasche steckte, um sie – ohne sie an der Kasse vorzuzeigen und zu bezahlen – für sich zu behalten. Während der Tatausführung führte er ein Taschenmesser mit einer Klingenlänge von 7 cm in seiner Jacke mit sich sowie ein Werkzeug, um Diebstahlsicherungen entfernen zu können. Zum Tatzeitpunkt stand der Angeklagte unter zweifach laufender Bewährung aufgrund früherer Diebstahlstaten. Von den insgesamt 30 Eintragungen in seinem Bundeszentralregisterauszug entfallen 25 Eintragungen auf Diebstahlsdelikte. In einem der beiden Bewährungsverfahren, dem das Urteil des Amtsgerichts Koblenz vom 12. November 2018 im Verfahren 2010 Js 40698/18 zu Grunde liegt, war dem Angeklagten eine Therapieweisung erteilt worden. Die Kammer hat hierzu in den Urteilsgründen folgendes festgestellt:
„Dieser [Therapieweisung] ist er vom 28. Mai 2019 bis zum November 2019 in Form einer ambulanten Therapie bei dem Psychotherapeuten E. nachgekommen. Nachdem von Seiten des Behandlers aufgrund des hier in Rede stehenden erneuten Diebstahls die Therapie beendet worden ist, weil der Angeklagte durch den neuen Diebstahl gegen die zwischen ihnen getroffene Vereinbarung der „Diebstahlsabstinenz“ verstoßen hatte, hat der Angeklagte sich um eine erneute Therapie bemüht und befindet sich seit dem 6. März 2021 wieder in therapeutischer Behandlung. Seit November 2019 wird er zudem von einem Facharzt mit Antidepressiva behandelt, um Stimmungsschwankungen und damit mögliche Rückfälle durch Ladendiebstähle, zu verhindern. Der Angeklagte nimmt die ihm verordneten Antidepressiva regelmäßig ein, um den Wunsch zu stehlen, einzudämmen.“
Als Einlassung des im übrigen geständigen Angeklagten ist den Urteilsgründen zu entnehmen, er könne sich die Tat nur so erklären, dass er nach einem Streit mit seiner Ehefrau und der daraus entstandenen Stresssituation die Tat begangen habe. Er wolle nunmehr in einer Therapie lernen, wie er solche Situationen künftig vermeiden könne.
Gegen das Berufungsurteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision, die nicht weiter ausgeführt ist.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision des Angeklagten als offensichtlich unbegründet zu verwerfen. Der Angeklagte hatte über seinen Verteidiger Gelegenheit zur Stellungnahme; er hat hiervon jedoch keinen Gebrauch gemacht.
II.
Die zulässig erhobene, insbesondere auch frist- und formgerecht (§§ 344 Abs. 2 S. 1, 345 StPO) mit der allgemeinen Sachrüge begründete Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung offenbart keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten und war deshalb auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.
Auch wenn die nachfolgend aufgeführten Rechtsfragen im vorliegenden Verfahren ohne längere Prüfung erkennbar und eindeutig zu entscheiden waren, sieht sich der Senat – da die letzte Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz zum Themenkomplex „Kleptomanie als nicht stoffgebundener Sucht“ und ihrer Auswirkung auf die Frage der Schuldfähigkeit bereits einige Jahre zurück liegt – veranlasst, die sich daran anknüpfenden tatsächlichen und rechtlichen Fragestellungen in allgemeiner Form nochmals aktualisiert darzustellen.
1.
Das Landgericht hat es im konkreten Fall nicht versäumt, zu prüfen und zu entscheiden, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit erheblich vermindert im Sinne von § 21 StGB gewesen ist. Prüfungsmaßstab waren auf die nicht ausgeführte Sachrüge hin lediglich die Urteilsgründe; eine entsprechende Aufklärungsrüge ist nicht erhoben worden.
a) Bei der Frage, ob sich ein medizinisch-psychiatrischer Befund in der Tatsituation erheblich auf das Steuerungsvermögen iSd. § 21 StGB ausgewirkt hat, handelt es sich um eine Rechtsfrage, die das Gericht in eigener Verantwortung und ohne Bindung an die Ausführungen eines Sachverständigen zu entscheiden hat. Zu beurteilen ist, ob der Täter defektbedingt motivatorischen und situativen Tatanreizen wesentlich weniger Widerstand entgegensetzen kann als ein Durchschnittsmensch (BGH, Urt. 1 StR 15/12 v. 17.04.2012 – NStZ 2013, 53). In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Schuldfähigkeit eines Täters keiner näheren Prüfungen und Erörterung bedarf, wenn Anhaltspunkte für Ihre Beeinträchtigung völlig fehlen (vgl. die Nachw. bei Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. § 20 Rn. 19). Werden jedoch tatsächliche Gründe behauptet (§ 267 Abs. 2 StPO) oder liegen Umstände vor, die den Ausschluss oder die erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB auch nur möglich erscheinen lassen, so bedarf es regelmäßig – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen – von Amts wegen ihrer Prüfung, Erörterung und Darlegung im Urteil (vgl. BGH, Beschl. 3 StR 363/15 v. 27.10.2015 – juris).
b) Die Einlassung des Angeklagten, er leide an „Kleptomanie“, ohne dass weitere Anhaltspunkte für eine gravierende psychopathologische Störung vorgetragen werden oder sich aufdrängen, veranlasst das Gericht regelmäßig weder zu einer weiteren dahingehenden Aufklärung, noch zu einer Erörterung in den Urteilsgründen, ob die Schuldfähigkeit des Täters zum Tatzeitpunkt erheblich im Sinne des § 21 StGB vermindert war.
Die überwiegende Meinung in der psychiatrischen Literatur behandelt Kleptomanie ebenso wie Spielsucht und Pyromanie als nicht stoffgebundene Süchte nicht als krankheitswertige Störung im Sinne der §§ 20, 21 StGB, sondern beurteilt exzessive Ausprägungen dieser Süchte nur als Symptome für andere psychopathologische Auffälligkeiten. Insbesondere weisen diese Neigungen nicht selten auf eine dissoziale-, narzisstische- oder Borderline-Persönlichkeitsstörung hin (LK-Verrel/Linke/Koranyi, StGB, 13. Aufl., 1. Titel: Grundlagen der Strafbarkeit, b) Suchtstörungen). Diese in der psychiatrischen Literatur überwiegend vertretene engere Konzeption steht im Einklang mit der auch in der Rechtsprechung verfolgten restriktiven Linie, nach der eine Exkulpation gemäß § 20 StGB regelmäßig ausgeschlossen ist und auch eine verminderte Schuldfähigkeit iSv. § 21 StGB nur bei objektivierbaren schwersten Persönlichkeitsveränderungen in Betracht kommt (vgl. Pfister, Die Bedeutung der Schuldfähigkeit in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, NStZ-RR 2019, 233).
Kleptomanie oder Stehlsucht stellt nach obergerichtlicher Rechtsprechung für sich genommen daher keine die Schuldfähigkeit ausschließende oder erheblich einschränkende krankhafte seelische Störung dar (vgl. OLG Koblenz, Beschl. 1 Ss 111/05 v. 24.05.2006; KG Berlin, Beschl. 1 Ss 320/97 v. 29.12.1998 – juris; OLG Düsseldorf, Beschl. 5 Ss 267/95-112/95 I v. 08.12.1995 – juris; für Spielsucht vgl. BGH, Beschl. 5 StR 411/04 v. 25.11.2004 – juris mwN.). Maßgeblich ist vielmehr, ob der Betroffene durch den Stehlzwang gravierende psychiatrische Veränderungen in seiner Persönlichkeit erfährt, die in ihrem Schweregrad einer seelischen Störung gleichwertig sind (BGH, aaO. Rn. 13). Stehlsucht kann daher zwar grundsätzlich ein Symptom einer schweren Persönlichkeitsstörung sein, welche die Steuerungsfähigkeit, nicht das Einsichtsvermögen, erheblich mindern kann (KG Berlin aaO.). Die vom Bundesgerichtshof geforderte Gleichwertigkeit mit dem Schweregrad einer krankhaften seelischen Störung ist aber praktisch nur in solchen Fällen zu erreichen, in denen eine Komorbidität vorliegt und die nicht stoffgebundene Sucht mit einer anderen gravierenden psychopathologischen Auffälligkeit zusammentrifft (LK-Verrel/Linke /Koranyi, aaO. zur Spielsucht).
c) Gemessen an diesem Maßstab mussten sich vorliegend der Kammer nach den von ihr getroffenen Feststellungen Anhaltspunkte für eine solche gravierende psychopathologische Auffälligkeit nicht aufdrängen.
Der Bundeszentralregisterauszug des Angeklagten enthält 30 Eintragungen, wovon 25 auf Diebstahlsdelikte entfallen. Diese Information spricht aber für sich genommen noch nicht für das sichere Vorliegen einer zwanghaften Stehlsucht. Dass Täter von Ladendiebstählen häufig rückfällig werden, ist der richterlichen Praxis nicht fremd. Strafrechtliche Karrieren dieser Art kommen massenhaft vor, sind aber noch kein Indiz für eine krankhafte Persönlichkeitsstörung (OLG Koblenz aaO). Keineswegs selten ist es auch, dass Täter stehlen, ohne in Geldnot zu sein. Denn Diebstähle werden nicht nur von Personen begangen, welche die Mittel zum Erwerb eines begehrten Gegenstands nicht aufbringen können, sondern oft auch von solchen, die nicht bezahlen wollen, obwohl sie es könnten. Das Motiv für Eigentumsdelikte besteht in der Regel in der Bereicherungsabsicht des Täters, auch wenn er sich selbst diese Absicht nicht immer vor Augen führen mag. Anhalt für eine Störung der Impulskontrolle kann aber dann angezeigt sein, wenn der Betroffene Dinge stiehlt, für die er offenkundig keine Verwendung hat (KG Berlin aaO.), was im vorliegenden Fall jedoch mangels entsprechender Feststellungen im Urteil auszuschließen war.
Auch die Feststellung im Urteil, der Angeklagte leide an Stimmungsschwankungen, welche fachärztlich mit Antidepressiva behandelt würden, bot keine Veranlassung, sich mit seiner Schuldfähigkeit näher zu befassen, da solche Symptome viele Ursachen haben können und ohne nähere Ausführungen strafrechtlich irrelevant sind. Hinzu kommt, dass das Vorliegen einer Depression gerade kein typisches Symptom für Kleptomanie ist. Die von ihr Betroffenen erleben die Stehlsucht eher subjektiv als lustvoll, aber wesensfremd (KG Berlin aaO.).
Eine Gesamtschau der von der Strafkammer getroffenen Feststellungen führt auch unter Einbeziehung der Therapiebemühungen des Angeklagten nicht zur Annahme komorbider Faktoren, die eine gravierende psychische Veränderung der Persönlichkeit des Angeklagten vermuten ließen und die in ihrem Schweregrad einer krankhaften seelischen Störung gleichwertig vergleichbar sein könnten. Gegen eine schwere Persönlichkeitsveränderung spricht zudem beim Angeklagten, dass er durchaus längere Zeiten straffreier Lebensführung vorzuweisen hat und bereits mehrere Jahre in wirtschaftlich äußerst beengten Verhältnissen lebt; schließlich hatte er zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung gerade ein privates Insolvenzverfahren abgeschlossen.
2.
Rechtsfehlerhaft in sachlich-rechtlicher Hinsicht ist die Entscheidung des Landgerichts hier insoweit, als diese das hier sich aufdrängende Gesamtstrafübel bei der Strafzumessung im engeren Sinne nicht in den Blick genommen hat. In den Urteilsgründen ist hierzu wie folgt ausgeführt:
„Im Rahmen der konkreten Strafzumessung war zu Gunsten des Angeklagten zu berücksichtigen, dass er sich geständig eingelassen hat und einsichtig in sein Fehlverhalten war. Zudem war zu seinen Gunsten zu berücksichtigen, dass es sich um Waren von einem jeweils geringen Warenwert gehandelt hat und für den Baumarkt tatsächlich kein Schaden entstanden ist, da die Waren zurückgegeben worden sind. Weiter hat die Kammer strafmildernd berücksichtigt, dass die Tat fast ein Jahr und fünf Monate zurückliegt und von Oktober 2019 datiert und der Angeklagte seit diesem Tag nicht erneut straffällig geworden ist. Weiter hat die Kammer strafmildernd berücksichtigt, dass der Angeklagte sich bemüht, an der Bekämpfung des ihm bekannten Problems hinsichtlich des Wunsches zu stehlen arbeitet und sich deswegen in Therapie befand und sich auch erneut in Therapie begeben hat. Zu Lasten des Angeklagten war jedoch zu berücksichtigen, dass er bereits erheblich und auch einschlägig vorbestraft ist und die Tat unter zweifach laufender Bewährung aus einschlägigen Vorstrafen begangen hat.“
Eine Vorverurteilung sowie die Begehung der neuerlichen Tat während der deshalb laufenden Bewährungszeit darf zwar strafschärfend berücksichtigt werden; mit Rücksicht auf die Wirkungen der Strafe, die für das künftige Leben des Angeklagten zu erwarten sind (§ 46 Abs. 1 S. 2 StGB), ist angesichts des drohenden Widerrufs der Strafaussetzung einer erheblichen Restfreiheitsstrafe jedoch auch das ihn treffende Gesamtstrafübel in den Blick zu nehmen und zu erörtern (BGH, Beschl. 2 StR 281/20 v. 09.09.2020 – StV 2021, 354). Es hätte daher vorliegend durch die Kammer als bestimmender Strafzumessungsgesichtspunkt einer Erörterung bedurft, dass der Angeklagte mit dem Widerruf der gegen ihn mit Urteilen des Amtsgerichts Andernach vom 1. Juni 2016 und des Amtsgerichts Koblenz vom 12. November 2018) verhängten Freiheitsstrafen von insgesamt elf Monaten zu rechnen hat.
Dieser Rechtsfehler hat sich jedoch nicht zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt, sodass das Urteil hierauf nicht beruht. Der Senat kann angesichts der weiteren zu Lasten des Angeklagten sprechenden Strafzumessungsumstände, insbesondere seiner zahlreichen einschlägigen Vorstrafen, und der Höhe der vorliegend verhängten Strafe, die sich nahe der Mindeststrafe von sechs Monaten bewegt, ausschließen, dass selbst im Falle der Berücksichtigung auch des Gesamtstrafübels eine noch geringere als die hier verhängte, äußerst milde Freiheitsstrafe ausgeurteilt worden wäre, oder dass dies gar zur Annahme eines minder schweren Falles geführt hätte. Hierfür spricht auch, dass die Kammer den Strafzumessungsgesichtspunkt des Gesamtstrafübels bei der Frage der Strafaussetzung zur Bewährung durchaus zu Gunsten des Angeklagten in den Blick genommen hat.