Neue Perspektiven auf die Verjährung bei Mindestlohnunterschreitung
In einer aktuellen juristischen Auseinandersetzung stand die Frage der Verjährung bei Verstößen gegen das Mindestlohngesetz (MiLoG) im Zentrum. Der Fall begann, als im November 2018 ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen § 20 MiLoG eingeleitet wurde. Zwei Jahre später, im Juli 2020, wurde dem Betroffenen ein Bußgeldbescheid zugestellt, gegen den er Einspruch einlegte. Die Staatsanwaltschaft argumentierte, dass die Verjährung bereits mit der Nichtzahlung im Zeitpunkt der Fälligkeit beginnen sollte, eine Sichtweise, die sich auf die Rechtsprechung zu § 266a StGB (Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt) stützte.
Direkt zum Urteil Az: 1 OLG 53 Ss-OWi 255/21 springen.
Die Rolle der Staatsanwaltschaft und der Generalstaatsanwaltschaft
Die Staatsanwaltschaft argumentierte, dass die vom Bundesgerichtshof entwickelte Rechtsprechung zum Verjährungsbeginn bei § 266a StGB nicht auf Ordnungswidrigkeiten und somit auch nicht auf Verstöße gegen das MiLoG anwendbar sei. Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg unterstützte diese Auffassung in ihrer Stellungnahme vom Juni 2021.
Einschätzung des Bundesgerichtshofs zu Verjährungsfristen
Eine bemerkenswerte Wendung nahm der Fall, als der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung zur Verjährung von Straftaten des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB) änderte. Er stellte nunmehr für den Verjährungsbeginn auf den Zeitpunkt der Fälligkeit ab. Diese Entscheidung wurde jedoch als nicht auf Ordnungswidrigkeiten und somit auf Verstöße gegen das MiLoG übertragbar gesehen.
Schutz der Arbeitnehmer und das Mindestlohngesetz
Ein zentraler Punkt der Diskussion war der Unterschied in den Schutzzwecken der betreffenden Gesetze. Während Ordnungswidrigkeiten nach § 21 Abs. 1 Nr. 9 MiLoG den Schutz der Arbeitnehmer vor unangemessen niedrigen Lohnzahlungen in den Vordergrund stellen, geht es bei § 266a StGB vor allem um das Interesse der Solidargemeinschaft an der Sicherstellung des Aufkommens der Mittel für die Sozialversicherung.
Übertragbarkeit der Rechtsprechung auf Mindestlohnverstöße
Die Argumentation gegen eine Übertragung der Rechtsprechung zu § 266a StGB auf Verstöße gegen das MiLoG liegt vor allem in der unterschiedlichen Behandlung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten. Insbesondere wurde die existenzielle Gefährdung des Arbeitnehmers durch Unterschreitung des Mindestlohnes hervorgehoben. Diese Gefährdung bleibt über den Zeitpunkt der Fälligkeit hinaus bestehen, während die Rechtsgutverletzung nach Ansicht der Gerichte bereits irreversibel eingetreten ist.
Das vorliegende Urteil
Oberlandesgericht Brandenburg – Az.: 1 OLG 53 Ss-OWi 255/21 – Beschluss vom 08.12.2021
Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Potsdam wird das Urteil des Amtsgerichts Potsdam vom 16. März 2021 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Potsdam zurückverwiesen.
Gründe
I.
1. Das Hauptzollamt Potsdam hat mit Bußgeldbescheid vom 20. Juli 2020 gegen den Betroffenen wegen fahrlässigen Unterschreitens des Mindestlohnes gemäß §§ 21 Abs. 1 Nr. 9, 20 Mindestlohngesetz (MiLoG) iVm. §§ 17, 35, 65 OWiG ein Bußgeld in Höhe von 1.060,00 € festgesetzt.
Mit dem Bußgeldbescheid wird dem Betroffenen vorgeworfen, als Inhaber des „…“ in … im Zeitraum vom 1. Januar 2015 bis zum 30. Juni 2015 dem Arbeitnehmer … nicht den in diesem Zeitraum geltenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 € brutto, sondern lediglich einen Stundenlohn von 7,00 € gezahlt zu haben. Bei einer monatlichen Arbeitszeit von 65 Stunden belaufe sich die monatliche Differenz von tatsächlich geleistetem Lohn zum Mindestlohn auf 97,50 €, so dass sich für den Tatzeitraum eine Unterschreitung des Mindestlohnes auf insgesamt 585,00 € errechne. Der Bemessung der Geldbuße hat das Hauptzollamt Potsdam einen geschätzten Marktvorteil von 120,00 €/Monat zugrunde gelegt und bei der Festsetzung der individuellen Geldbuße den Verschuldensgrad, die Art und Dauer der Zuwiderhandlung, den lange zurückliegenden Tatzeitraum berücksichtigt und diese mit 50% des wirtschaftlichen Vorteils berechnet.
Vor Erlass des Bußgeldbescheides war dem Betroffenen mit Schreiben vom 29. November 2018 die Einleitung des Ermittlungsverfahrens nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz wegen Verstoßes gegen § 20 MiLoG bekannt und ihm zugleich Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.
Der Bußgeldbescheid wurde dem Betroffenen am 22. Juli 2020 zugestellt; mit Anwaltsschriftsatz vom 29. Juli 2020 hat der Betroffene dagegen Einspruch eingelegt.
Auf den form- und fristgerecht eingelegten Einspruch des Betroffenen hat der Bußgeldrichter des Amtsgerichts Potsdam zunächst mit Verfügung vom 18. November 2020 Termin zur Hauptverhandlung auf den 19. Januar 2021 anberaumt, den Termin wegen Verhinderung des Verteidigers mit Verfügung vom 26. November 2020 auf den 9. Februar 2021 und schließlich mit weiterer Verfügung vom 8. Februar 2021 auf den 16. März 2021 verlegt.
Mit Anwaltsschriftsatz vom 12. Februar 2021 vertritt der Betroffene unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 266a StGB die Auffassung, dass die Ordnungswidrigkeit jedenfalls verjährt und das Verfahren einzustellen sei.
2. Das Amtsgericht Potsdam hat mit Urteil vom 16. März 2021 das Verfahren gegen den Betroffenen wegen des absoluten Verfahrenshindernisses der Verjährung nach § 260 Abs. 3 StPO iVm. § 71 OWiG eingestellt. Das Amtsgericht bezieht sich hierzu auf die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. November 2019, 1 StR 58/19, NStZ 2020, 159 ff. und vom 1. September 2020, 1 StR 58/19, ZIP 2020, 2404 ff.; ebenso: BGH, Beschluss vom 4. Februar 2020, 3 AR 1/20; BGH, Beschluss vom 6. Februar 2020, 5 AR 1/20, zit. jeweils nach juris) zu der Strafnorm des § 266a StGB (Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt), wonach die Verjährung hinsichtlich dieser Norm nicht erst mit Wegfall der Zahlungsfrist, sondern bereits mit der Nichtzahlung im Zeitpunkt der Fälligkeit beginne. Dies führe im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass unter Berücksichtigung der letzten Tat im Juni 2015 die Zahlung des Mindestlohnes spätestens am letzten Werktag des Folgemonats, mithin am 31. Juli 2015 fällig gewesen sei. Mit dem Verstreichenlassen des Fälligkeitszeitpunkts sei die dem Betroffenen vorgeworfene Tat aus dem Juni 2015 spätestens am 1. August 2015 beendet worden, so dass an diesem Tag die dreijährige Verjährung in Gang gesetzt worden sei. Im Zeitpunkt der Anhörung des Betroffenen im September 2018 als erste die Verjährung unterbrechende Handlung sei die Ordnungswidrigkeit bereits verjährt gewesen.
3. Die Staatsanwaltschaft Potsdam hat mit dem am 18. März 2021 bei Gericht eingegangenem Schreiben gegen das vorgenannte amtsgerichtliche Urteil Rechtsbeschwerde eingelegt und diese nach der am 22. April 2021 gemäß § 41 StPO iVm. § 71 OWiG erfolgten Urteilszustellung unter dem Datum des 1. Mai 2021, eingegangen bei Gericht am 5. Mai 2021, begründet. Die Staatsanwaltschaft ist der Auffassung, dass die durch den Bundesgerichtshof entwickelte Rechtsprechung zum Verjährungsbeginn bei § 266a StGB auf Ordnungswidrigkeiten und damit auch auf Verstöße gegen das Mindestlohngesetz nicht übertragbar sei.
Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg ist in ihrer Stellungnahme vom 11. Juni 2021 der Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Potsdam beigetreten und hat beantragt, das Urteil des Amtsgerichts Potsdam vom 16. März 2021 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Potsdam zurückzuverweisen.
II.
Der Senat folgt dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg.
Die gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 3 OWiG statthafte und nach § 79 Abs. 3 OWiG i. V. m. § 341, 344, 345 StPO form- und fristgerecht angebrachte Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Potsdam hat in der Sache Erfolg und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.
Die Ordnungswidrigkeit nach § 21 Abs. 1 Nr. 9 MiLoG ist im vorliegenden Fall nicht verjährt.
a) Die Verfolgungsverjährungsfristen betragen bei vorsätzlicher oder fahrlässig begangenen Ordnungswidrigkeiten nach § 21 Abs. 1 Nr. 9 MiLoG drei Jahre (§ 21 Abs. 2 Nr. 1 OWiG). Nach § 31 Abs. 3 S. 1 OWiG beginnt die Verjährung mit Beendigung der Handlung, was bei Unterlassungsdelikten – wie der Nichtzahlung des Mindestlohnes – bedeutet, dass die Verjährung erst mit Wegfall der Zahlungspflicht beginnt. Dies ist nicht bereits dann der Fall, wenn die Handlungspflicht erstmals hätte erfüllt werden müssen, aber nicht erfüllt worden ist; dieser Zeitpunkt markiert vielmehr die Vollendung (BGH, Urteil vom 04. April 1979, 3 StR 488/78, in: NJW 1980, 406; OLG Jena Beschluss vom 02.02.2006, 1 Ss 97/05, BeckRS 2006, 136172). Da es sich bei dem Anspruch auf Zahlung des gesetzlichen Mindestlohnes um einen zivilrechtlichen Vergütungsanspruch handelt, unterliegt dieser nach § 195 BGB einer dreijährigen Verjährungsfrist. Dieser beginnt mit dem Schluss des Jahres zu laufen, in dem der Anspruch entstanden ist (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB) und der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt hat oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangt haben müsste (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Dieser Zeitpunkt ist daher für den Beginn der Verjährung der Ordnungswidrigkeit ausschlaggebend (vgl. Erbs/Kohlhaas-Häberle, Strafrechtliche Nebengesetze, 234. EL, 2021, § 21 MiLoG, Rn. 27). Die Verjährung begann mithin mit Ablauf des 31. Dezember 2018 und endet mit Ablauf des 31. Dezember 2021.
Bei der am 10. September 2018 angeordneten Eröffnung der Tatvorwürfe hatte die Verjährung mithin noch nicht begonnen.
b) Soweit der Bundesgerichtshof im Bereich des Strafrechts für Straftaten des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB) seine Rechtsprechung zur Verjährung geändert hat und nunmehr für den Verjährungsbeginn auf den Zeitpunkt der Fälligkeit abstellt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. November 2019, 1 StR 58/19, NStZ 2020, 159 ff. und vom 1. September 2020, 1 StR 58/19, ZIP 2020, 2404 ff.), sind diese Grundsätze auf das Ordnungswidrigkeitenverfahren und damit auf Verstöße nach dem Mindestlohngesetz nicht ohne weiteres übertragbar; auch besteht kein Bedürfnis für eine Vorverlagerung des Verjährungsbeginns bei Ordnungswidrigkeiten.
Dies folgt schon aus dem unterschiedlichen Charakter von Strafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht. Gegenstand des Strafrechts ist kriminelles Unrecht, für das als „ultima ratio“ Geld- oder Freiheitsstrafe angedroht ist. Das Ordnungswidrigkeitenrecht hingegen hat (bloßes) Verwaltungs- bzw. Ordnungsunrecht zum Gegenstand, hinsichtlich dessen als Unrechtsfolge einer Zuwiderhandlung im Regelfall lediglich eine Geldbuße angedroht ist.
Die Argumente, die der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs zur Änderung seiner Rechtsprechung angeführt hat, greifen auf das Ordnungswidrigkeitenrecht nicht durch. Zum einen ging es dort um die Harmonisierung unterschiedlicher Verjährungsläufe bei den Vorschriften § 266 Abs. 1 und § 266 Abs. 2 Nr. 2 StGB einerseits und § 266 Abs. 2 Nr. 1 StGB andererseits, zum anderen vor allem um die Gewährleistung eines „weitgehenden Gleichlaufs“ (BGH aaO., Rn. 18) der Verjährung bei § 370 Abs. 1 AO (Steuerhinterziehung) und § 266a StGB (Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt), die in ihrer tatbestandlichen Struktur übereinstimmen und häufig zusammentreffen.
Die Änderung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Verjährungsbeginn bei § 266 StGB verfolgte zudem das Ziel, einer unangemessen langen „Gesamtverjährungszeit“ entgegenzuwirken (vgl. dazu Loose, Vorenthalten von Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung, 2017, S. 170 m.w.N.). Die voraufgegangene Rechtsprechung führte zu Verwerfungen im Bereich des Verjährungssystems bei Straftaten nach § 266a StGB. Ansprüche auf vorsätzlich vorenthaltene Sozialversicherungsbeiträge würden unter Berücksichtigung von § 25 Abs. 1 Satz 2 SGB IV, §§ 78a Satz 1, 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB in der Summe erst nach 35 bis 36 Jahre verjähren, wobei sich diese Zeitspanne im Falle der Hemmung oder des Ruhens der Verjährung weiter verlängern könnte, was kaum noch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen würde (BGH aaO. Rn. 20 m.w.N.). Solch lange Verjährungsfristen drohen für Ordnungswidrigkeiten nach dem Mindestlohngesetz, die lediglich drei Jahre betragen, nicht, so dass auch insoweit eine Vergleichbarkeit mit der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Verjährungsbeginn bei § 266a StGB nicht gegeben ist und auch nicht bezweckt sein dürfte.
Gegen eine Übertragung der vorgenannten Rechtsprechung auf Fälle der Zuwiderhandlungen gegen das Gesetz zur Regelung des allgemeinen Mindestlohns, und damit zugleich gegen eine entsprechende Gleichsetzung der Verstöße gegen § 266a StGB mit Zuwiderhandlungen nach §§ 20, 21 MiLoG, sprechen auch die unterschiedlichen Schutzzwecke. Ordnungswidrigkeiten nach § 21 Abs. 1 Nr. 9 MiLoG stellen den Schutz der Arbeitnehmers von unangemessen niedrigen Lohnzahlungen, mithin dessen Existenzsicherung, in den Vordergrund, während geschütztes Rechtsgut des § 266a StGB vor allem das Interesse der Solidargemeinschaft an der Sicherstellung des Aufkommens der Mittel für die Sozialversicherung ist.
Die Existenzgefährdung des Betroffenen durch Unterschreitung des Mindestlohnes wirkt ordnungsrechtlich über den Zeitpunkt der Fälligkeit bis zum Wegfall der Zahlungspflicht fort. Mag auch die Rechtsgutsverletzung im Zeitpunkt der Fälligkeit irreversibel eingetreten sein und durch weiteres Untätigbleiben nicht mehr vertieft werden, bleibt doch die Existenzgefährdung aufrecht erhalten, wobei § § 21 Abs. 1 Nr. 9 MiLoG ein Unterlassen beschreibt (“entgegen § 20 das dort genannte Arbeitsentgelt nicht oder nicht rechtzeitig zahlt“). Verwaltungsunrecht unterscheidet sich vom Strafunrecht, was ein Festhalten am Erlöschen der Zahlungspflicht als maßgeblichen Zeitpunkt der Beendigung der Ordnungswidrigkeit gebietet.
Nach alledem unterliegt das angefochtene Einstellungsurteil der Aufhebung.