OLG Karlsruhe, Az.: 2 Ss 57/98, Beschluss vom 16.07.1998
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Heidelberg vom 04. Dezember 1997
a) im Schuldspruch dahin abgeändert, daß der Angeklagte einer Ordnungswidrigkeit des vorsätzlichen verbotswidrigen Überholens und Nichtbeachtens der Fahrstreifenbegrenzung schuldig ist;
b) im Rechtsfolgenausspruch mit den insoweit getroffenen Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an einen Strafrichter des Amtsgerichts Heidelberg zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Heidelberg verurteilte den Angeklagten am 21.08.1997 wegen Nötigung zu einer Geldstrafe von 35 Tagessätzen zu je 100.–DM. Hinsichtlich eines weiteren Vorwurfs der vorsätzlichen Körperverletzung war das Verfahren nach § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt worden. Die Berufung des Angeklagten verwarf das Landgericht durch Urteil vom 04.12.1997. Mit seiner hiergegen gerichteten frist- und formgerecht eingelegten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts. Sein Rechtsmittel, mit dem er der Sache nach seine Freisprechung, hilfsweise die Verurteilung nur wegen einer Ordnungswidrigkeit erstrebt, hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen – vorläufigen – Erfolg.
II.
Das Rechtsmittel ist zulässig. Zwar ist der Schriftsatz, mit dem die Revision des Angeklagten eingelegt wurde, nicht auffindbar. Der Verteidiger hat jedoch anwaltlich versichert, daß er das von ihm verfaßte Schreiben persönlich an der Gerichtspforte bei der Posteingangsstelle am 05.12.1997 abgegeben hatte. Damit ist nicht zweifelhaft, daß innerhalb der gesetzlichen Frist vom Angeklagten Revision eingelegt worden war und das Schreiben lediglich innerhalb des Gerichts in Verstoß geriet.
III.
1. Nach den Feststellungen des Berufungsurteils befuhr der Angeklagte am 17.02.1997 mit seinem PKW die Bundesstraße 3 in Richtung H., die in Höhe des Gewerbegebietes H. ansteigend über eine Eisenbahnbrücke und nach einer Rechtskurve abfallend in Richtung B. verläuft. Im Kurvenbereich, in dem ein Überholverbot durch einen durchgezogenen Mittelstreifen und ein entsprechendes Verkehrszeichen ausgewiesen und der durch Busch- und Baumbewuchs sowie durch den ansteigenden Straßenverlauf völlig unübersichtlich war, überholte der Angeklagte “ mehrere Fahrzeuge“, indem er die Mitte der Fahrbahn benutzte und die von ihm überholten Fahrzeuge zwang, auf den Fahrbahnrand auszuweichen. So tauchte er auch, nachdem er das diesem nachfahrende Fahrzeug überholt hatte, „plötzlich und überraschend“ neben dem Zeugen K. auf, der „in höchstem Maße“ erschrak. In der Annahme, es käme nun zu einem Zusammenstoß zwischen dem Fahrzeug des Angeklagten und dem entgegenkommenden Fahrzeug, zog K. sein Fahrzeug nach rechts an den äußersten Straßenrand und bremste sofort leicht ab, um dem Angeklagten ein Passieren des Gegenverkehrs zu ermöglichen. Der Angeklagte hatte dies von vornherein in sein Kalkül einbezogen, weshalb es ihm auch gelang, das Fahrzeug des Zeugen zu überholen, ohne mit dem Gegenverkehr zu kollidieren. Im Anschluß daran überholte der Angeklagte trotz des starken Verkehrs auf beiden Fahrstreifen der B 3 weitere Fahrzeuge, wobei er wieder in der Mitte fuhr.
2. Die Verurteilung des Angeklagten wegen Nötigung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
Nötigung setzt als Tathandlung gem. § 240 Abs. 1 StGB die Anwendung von Gewalt oder die Drohung mit einem empfindlichen Übel voraus, um eine Handlung, Duldung oder Unterlassung zu erzwingen. Gewalt ist der physisch vermittelte Zwang zur Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands (Tröndle StGB 48. Aufl. § 240 Rdnr. 5 m.w.N.). Sie kann nicht nur beim Einsatz körperlicher Kraft, sondern auch bei einer im Wesentlichen bloß psychischen Zwangseinwirkung (vis compulsiva) gegeben sein, sofern der Täter mit nur geringem Kraftaufwand einen psychisch determinierten Prozeß in Lauf setzt und dadurch einen unwiderstehlichen, der körperlichen Einwirkung vergleichbaren Zwang auf das Opfer auswirkt (BGH NJW 1995, 2643; Buchst 19, 263= NJW 1964, 1426). An diesem, im wesentlichen auf die psychische Zwangseinwirkung bei dem Opfer abstellenden Gewaltbegriff ist für den Bereich des fließenden Straßenverkehrs auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.01.1995 (NStZ 1995, 275 ff = NJW 1995,1141), wonach eine erweiternde Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs.1 StGB im Zusammenhang mit Sitzdemonstrationen gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstößt, festzuhalten (BGH NJW 1995, 2643 ff; OLG Köln NZV 1995, 405; OLG Düsseldorf NJW 1996, 2245; OLG Stuttgart DAR 1995, 261 f.; OLG Karlsruhe Justiz 1998, 35 ff = NStZ -RR 1998, 58 f). Dem Einsatz eines Kraftfahrzeugs im Straßenverkehr kann das Moment der Kraftentfaltung nicht abgesprochen werden. Körperliche Kraftentfaltung besteht nicht nur in der Anwendung von Muskelkraft. Die von einem in Bewegung befindlichen Kraftfahrzeug ausgehende Kraft ist körperliche Kraftentfaltung, auch wenn das Gaspedal nur mit leichtem Druck bedient wird. Diese Kraft entfaltet sich hier zwar nicht unmittelbar am Opfer, sondern wirkt auf dieses nur über eine psychisch determinierte Kausalkette, sie hat aber – eine Reaktion beim Opfer im Bereich der menschlichen Norm vorausgesetzt – die der unmittelbaren Krafteinwirkung entsprechende Zwangswirkung. Eine Reduktion des Gewaltbegriffs in § 240 Abs.1 StGB auf Fälle bereits körperlich fühlbarer Gewalttätigkeit oder der vis absoluta ist weder vom Bundesverfassungsgericht gefordert noch mit der Rechtstradition und den anerkannten Auslegungsmethoden vereinbar.
Im Straßenverkehr kann Gewalt hiernach durch die Verursachung einer Gefahrenlage herbeigeführt werden, die einen anderen, durchschnittlich empfindenden Verkehrsteilnehmer in Furcht und Schrecken versetzt und damit geeignet ist, ihn durch die Herbeiführung eines gefährlichen Zustandes zu ungewollten Reaktionen, möglicherweise zu einem gefährlichen Ausweichen nach rechts oder zur Herbeiführung anderer unfallträchtiger Situationen zu veranlassen (OLG Karlsruhe NJW 1972, 962 und VRS 57, 21 f.; OLG Hamm DAR 1990, 392 und NJW 1991, 3230 = NStE Nr. 33 zu § 240 StGB; OLG Köln VRS 61, 425 ff und VRS 67, 224 ff; OLG Düsseldorf ZfS 1984, 127-, BayObLGSt 1990, 1 ff.; BayObLG NJW 1993, 2882 f.). Maßstab ist hierbei die Intensität der Einwirkung, die zu bestimmen nur unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles möglich ist (OLG Köln NStE StGB § 240 Nr. 25; OLG Hamm DAR 1990, 392 ff: BayObLG NJW 1993, 2882 f.; OLG Köln VRS 67, 224 ff.). Hierzu gehören namentlich die örtlichen Verhältnisse, die Annäherungsgeschwindigkeit, ein etwaiger Gebrauch der Lichthupe oder des Signalhorns zur Bekräftigung des bedrängenden Verhaltens und der eingehaltene Abstand. Die Mehrzahl der obergerichtlichen Entscheidungen sieht als Voraussetzung für die Annahme von Gewalt i.S.d. § 240 StGB aber auch eine gewisse Dauer der gefährlichen Fahrweise an, die je länger sie sich fortsetzt, als um so unausweichlicher empfunden wird (Buchst 19, 263 = NJW 1964, 1426; OLG Hamm NStE Nr. 33 zu § 240 StGB-, OLG Karlsruhe NJW 1972, 962, VRS 57, 21 ff, Justiz 1998, 35 ff?; KG VRS 63, 120 f.). Der Tatbestand der Gewalteinwirkung ist hingegen nicht mehr erfüllt, wenn die Dauer der bedrängenden Fahrweise unerheblich ist und diese sich lediglich in einem einmaligen, kurzzeitigen Näherkommen an den Vorausfahrenden erschöpft (OLG Hamm NStE Nr. 33 zu § 240 StGB = NJW 1991, 3230-, OLG Stuttgart Justiz 1991, 63-, Tröndle StGB 48. Aufl. § 240 Rdnr. 28).
Letzteres ist nach den durch das Landgericht getroffenen Feststellungen anzunehmen. Die Fahrweise des Angeklagten erschöpfte sich danach in einem – wenn auch grob verkehrswidrigen – Überholmanöver im Kurvenbereich, so daß die Zeitspanne der Bedrängnis für den Zeugen K. – allenfalls – nur Sekunden gedauert hat. Zwar hat die Rechtsprechung bei nur nicht ganz unerheblicher Dauer der bedrängenden Fahrweise auch dann Gewalt angenommen, wenn für den anderen Verkehrsteilnehmer eine konkrete, nicht unerhebliche Gefahr bestanden hat (OLG Karlsruhe VRS 57, 415 ff, NJW 1972, 962 ff – KG VRS 35, 437; OLG Hamm VRS 27, 276). Nach den landgerichtlichen Feststellungen ist durch das Fahrmanöver des Angeklagten ein konkret gefährlicher Zustand für den Zeugen K. aber nicht herbeigeführt worden. Um der Situation zu begegnen, war es ausreichend, daß der Zeuge sein Fahrzeug „leicht“ abbremste und nach rechts an den äußersten Straßenrand zog. Am Ort des Geschehens war die Höchstgeschwindigkeit auf 70 km/h beschränkt. Daß der Angeklagte diese überschritten hätte, ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen, zumal auch die Geschwindigkeit des von dem Zeugen K. geführten Kraftfahrzeug nicht mitgeteilt wird. Soweit im Zusammenhang mit vergleichbaren Verkehrsvorgängen in der Rechtsprechung die Annahme des Nötigungstatbestandes durch Gewalt bejaht worden ist, liegen diesen Entscheidungen deutlich höhere Geschwindigkeiten als 70 km/h, zumeist Fahrtstrecken von mehreren 100 m sowie sonstige weitere Umstände (Betätigung von Licht- und Tonhupe sowie Fahrtrichtungsanzeiger, Vorbeizwängen am überholten Fahrzeug im Abstand von wenigen Zentimetern) zugrunde, die in ihrem Zusammenwirken und in der Gesamtbetrachtung den Gewaltbegriff i.S.d. Nötigungstatbestandes erfüllen (Buchst 19, 264 f.; OLG Köln VRS 57, 196 f; 61, 425 <426>, VRS 67, 224 <225>, OLG Hamm VRS 27, 276). Vorliegend kommt hinzu, daß der Vorgang sich auf einer Brückenauffahrt abspielte, auf der das Beschleunigungsvermögen eines Fahrzeuges sich vermindert und die Bremswege sich verkürzen. Ausweislich der in Bezug genommenen Lichtbilder vom Vorfallort war die Straße im Bereich des Überholvorganges auch nicht so schmal, daß sich eine konkrete Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer schon aus den örtlichen Verhältnissen ergibt.
Nach den Urteilsfeststellungen liegt mithin eine schwerwiegende, körperliche Gewaltanwendung vergleichbare psychische Zwangseinwirkung auf dem Zeugen K. durch den Angeklagten nicht vor. Dem steht nicht entgegen, daß der Zeuge „in höchstem Maße“ erschrak. Denn die Gefahrenlage muß geeignet sein, einen durchschnittlichen anderen Verkehrsteilnehmer in Sorge oder Furcht geraten zu lassen und damit einer schwerwiegenden Zwangseinwirkung auszusetzen. Dies ist nicht festgestellt.
3. Wegen des festgestellten sachlich-rechtlichen Mangels kann der Schuldspruch keinen Bestand haben. Daß in einer neuen Verhandlung weitere Feststellungen getroffen werden könnten, die ein strafbares Verhalten des Angeklagten belegen könnten, schließt der Senat aus. Eine Freisprechung des Angeklagten (§ 354 Abs. 1 StPO) kommt gleichwohl nicht in Betracht, da die bisherigen Feststellungen, die aufrechterhalten werden können, den Tatbestand einer Verkehrsordnungswidrigkeit gern. §§ 5 Abs. 3 Nr. 2, 41 Abs. 3 Nr. 3, 49 Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 3 Nr. 4 StVO, 24 StVG erfüllen und diese noch nicht verjährt ist. Gem. § 26 Abs. 3 1. Alt. StVG verjähren Verkehrsordnungswidrigkeiten nach § 24 StVG bis zum Erlaß des Bußgeldbescheides oder – wie hier – zur Erhebung der öffentlichen Klage in drei Monaten. Dies folgt aus der gesetzlichen Regelung in § 33 Abs. 4 Satz 2 OWiG. Danach tritt eine Unterbrechung in den Fällen des § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1-7, 11 und 1315 OWiG auch dann ein, wenn die Handlung auf die Verfolgung der Tat als Straftat gerichtet ist, Vorliegend ist die Verjährung erstmals am 07.04.1997 durch Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG) und sodann am 02.07.1997 durch Erlaß des Strafbefehls (§ 33 Satz 1 Nr. 15 OWiG) unterbrochen worden. Am 21.08.1997 erging gegen den Angeklagten das Urteil im ersten Rechtszug, daß das Ruhen der Verjährung gern. § 32 Abs. 2 OWIG zur Folge hat. Die Änderung des Schuldspruchs nötigt zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs. Im übrigen war das Rechtsmittel des Angeklagten auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft unbegründet.
Die Entscheidung ergeht nach § 349 Abs. 2 bis 4 StPO.