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Pflichtverteidigung – rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung auf Untätigkeitsbeschwerde

LG München I –  Az.: 22 Qs 5/14 –  Beschluss vom 21.01.2014

Rechtsanwalt Dr. A wird dem Angeklagten rückwirkend für die Zeit bis zum 30.7.2013 als Pflichtverteidiger beigeordnet.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Staatskasse.

Gründe

I.

Pflichtverteidigung - rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung auf Untätigkeitsbeschwerde
Symbolfoto: Von Billion Photos /Shutterstock.com

Unter dem 30.11.2012 erhob die Staatsanwaltschaft München I Anklage gegen den Angeklagten wegen Betrugs vor dem AG München – Strafrichter –. Der Angeklagte habe sich Naturheilmittel im Wert von 196,70 € betrügerisch erschlichen. Für die Einzelheiten wird auf Bl. 69/70 d. A. verwiesen.

Bereits im Ermittlungsverfahren hatte mit Schriftsatz vom 30.8.2012 Rechtsanwalt Dr. A angezeigt, dass er den Angeklagten anwaltlich vertrete, und die ordnungsgemäße Bevollmächtigung anwaltlich versichert. Insoweit wird auf Bl. 16 d. A. verwiesen.

Der Angeklagte ist einschlägig vorbestraft. Sein Bundeszentralregisterauszug vom 26.3.2013 enthält 8 Eintragungen. Es sind mehrere Strafreste zur Bewährung ausgesetzt. Für die Einzelheiten wird auf den Bundeszentralregisterauszug verwiesen.

Mit Beschluss vom 28.1.2013 verband das AG München, das Verfahren 814 Ds. 247 Js 219354/12 zum hiesigen Verfahren hinzu (vgl. Bl. 72 d. A.). Dem Verfahren lag eine Anklage der Staatsanwaltschaft München I vom 27.12.2012 wegen Betrugs in zwei Fällen zugrunde. Der Angeklagte habe sich Reifendienstleistungen im Wert von 652 € und andere Waren im Wert von 73,70 € betrügerisch erschlichen. Für die Einzelheiten wird auf Bl. 35/36 der hinzuverbundenen Akte verwiesen.

Mit Beschluss vom 21.2.2013 eröffnete das AG München das Hauptverfahren und ließ die beiden Anklagen zur Hauptverhandlung zu. Insoweit wird auf Bl. 73 d. A. verwiesen.

Mit Schriftsatz vom 21.3.2013, am selben Tag bei Gericht eingegangen, beantragte Rechtsanwalt Dr. A die Beiordnung als Pflichtverteidiger. Das AG München übersandte das Gesuch zur Stellungnahme an die Staatsanwaltschaft mit der Bitte um Mitteilung, wie viel Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt sei. Insoweit wird auf Bl. 102 d. A. verwiesen.

Unter dem 10.4.2013 teilte die Staatsanwaltschaft dem AG München mit, dass sie der Beiordnung als Pflichtverteidiger nicht entgegentrete. Die offenen Reststrafen würde sie nach Eingang der angeforderten Bewährungsüberwachungshefte mitteilen. Insoweit wird auf Bl. 107 d. A. verwiesen.

Am 22.4.2013 fand die Hauptverhandlung vor dem AG München statt. Rechtsanwalt Dr. A erschien für den Angeklagten als Verteidiger. Der Angeklagte selbst erschien nicht. Die Staatsanwaltschaft beantragte Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO. Das AG München kündigte eine Entscheidung diesbezüglich im Bürowege an. Die Hauptverhandlung wurde ausgesetzt. Für die Einzelheiten wird auf Bl. 109/110 d. A. verwiesen.

Das AG München holte sodann ein psychiatrisches Gutachten des Landgerichtsarztes zur Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten ein. Insoweit wird auf Bl. 126 ff d. A. verwiesen.

Unter dem 11.7.2013 erließ das AG München Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO gegen den Angeklagten. Insoweit wird auf Bl. 136 d. A. verwiesen.

Unter dem 30.7.2013 wurde der Haftbefehl dem Angeklagten eröffnet. Zur Eröffnung erschien er in Begleitung von Rechtsanwalt Stephens aus der Kanzlei S /P. Das AG München setzte den Haftbefehl außer Vollzug. Für die Einzelheiten wird auf Bl. 151 ff und 155 ff d. A. verwiesen.

Mit Schriftsatz vom 16.8.2013 beantragte Rechtsanwalt P seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. Für die Einzelheiten wird auf Bl. 164/165 d. A. verwiesen.

In der Sitzung vom 19.8.2013 ordnete das Amtsgericht München dem Angeklagten Rechtsanwalt P als Pflichtverteidiger bei, nachdem der Angeklagte ausdrücklich erklärt hatte, er wünsche eine Verteidigung durch diesen und nicht durch Rechtsanwalt Dr. A. Mit Beschluss vom gleichen Tag setzte das Gericht zudem die Hauptverhandlung erneut aus und gab eine ein psychiatrisches Gutachten zu den Voraussetzungen des §§ 20, 21 StGB in Auftrag. Für die Einzelheiten wird auf das Protokoll der Sitzung, Bl. 166 ff d. A., verwiesen.

Mit Schriftsatz ebenfalls vom 19.8.2013 begehrte Rechtsanwalt Dr. A, dass das AG München jedenfalls per Verfügung eine stillschweigende Beiordnung festzustellen habe. Er wies darauf hin, dass er zur Verhandlung ebenfalls erschienen sei. Er sei mit der Bestellung von Rechtsanwalt P als Pflichtverteidiger im Hinblick auf den ausdrücklich geäußerten Wunsch des Angeklagten einverstanden gewesen und habe auch auf die Kostenerstattung wegen des Termins verzichtet. Das Gericht habe aber mit Schreiben vom 10.1.2013 bereits mitgeteilt, dass es beabsichtige, einen Pflichtverteidiger zu bestellen, er habe auch schon unter dem 21.3.2013 die Pflichtverteidigerbestellung beantragt und sei dann tätig geworden, unter anderem zur Hauptverhandlung am 22.4.2013 erschienen. Die Bestellung sei auch notwendig gewesen. Es habe deshalb jedenfalls eine stillschweigende Beiordnung vorgelegen. Für die Einzelheiten wird auf Bl. 172 ff d. A. verwiesen.

Das AG München hat mehrere Vermerke zu den Ausführungen des Rechtsanwalt Dr. A angefertigt und unter anderem darauf hingewiesen, dass es den Pflichtverteidigerantrag vom März nicht übersehen habe, sondern wegen des Nichterscheinens des Angeklagten zurückgestellt habe. Soweit die Ausführungen aus dem Schriftsatz hier wiedergegeben sind, hat das Gericht der Richtigkeit der Angaben im Übrigen nicht widersprochen. Für die Einzelheiten wird auch insoweit auf die Bl. 172 ff d. A. verwiesen.

Mit Schriftsatz vom 6.1.2014, eingegangen bei Gericht am selben Tag, hat RA Dr. A im Hinblick auf die Schriftsätze vom 19.8.2013 und 7.10.2013 Untätigkeitsbeschwerde erhoben. Für die Einzelheiten wird auf Bl. 186 d. A. verwiesen.

Auf Nachfrage des Amtsgericht, worauf sich die Beschwerde beziehe, hat er mitgeteilt: „… es geht zuvorderst um die Schreiben vom 7.10.2013 und 19.8.2013 iVm. Dem Schreiben vom 23.1.2013, worin die Pflichtverteidigung beantragt wurde. Auf die Ausführungen zur stillschweigenden Beiordnung mit Schriftsatz vom 19.8.2013 wird hingewiesen.“ Für die Einzelheiten wird auf Bl. 187 d. A. verwiesen.

Mit Beschluss vom 9.1.2013 hat das AG München der Beschwerde nicht abgeholfen. Für die Einzelheiten wird auf Bl. 189 d. A. verwiesen.

Die Staatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde kostenpflichtig als unbegründet zu verwerfen.

II.

Auf die Beschwerde hin war Rechtsanwalt Dr. A dem Angeklagten rückwirkend für die Zeit bis zum 30.7.2013 als Pflichtverteidiger beizuordnen.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Dabei mag offen bleiben, ob man von einer stillschweigenden Beiordnung ausgeht, so dass der Ausspruch nur deklaratorischer Natur wäre, oder von einer konstitutiven rückwirkenden Beiordnung. Jedenfalls letztere ist hier nach Auffassung der Kammer möglich und geboten.

Die Kammer neigt dazu, eine stillschweigende Beiordnung von Rechtsanwalt Dr A nicht als gegeben anzusehen. Zwar erscheint es nach dem Gesetz nicht zwingend erforderlich, dass die Beiordnung ausdrücklich erfolgt, so dass die grundsätzliche Möglichkeit einer stillschweigenden Beiordnung zu bejahen ist. Es bedarf aber zumindest einer konkludenten Willensäußerung des Gerichts in diese Richtung, bloßes Nichts-Tun hat grundsätzlich keinen Erklärungsgehalt. Deshalb hat die Kammer Schwierigkeiten, in dem Umstand, dass das AG München die Teilnahme von RA Dr. A als Verteidiger in der Sitzung vom 22.4.2013 in Kenntnis des Beiordnungsantrags hingenommen hat, ohne sich weiter dazu zu äußern, eine schlüssige Bestellung zu sehen. Ein Erklärungsgehalt ist nicht erkennbar. Auch eine Vermutung richtigen Verhaltens gibt es nicht. Allerdings ist dem Beschwerdeführerin zuzubilligen, dass in der Rechtsprechung teilweise deutlich in diese Richtung argumentiert wird (sehr weitreichend z. B. OLG Jena, Beschluss vom 26.7.2006, 1 Ws 257/06).

Im Ergebnis kann die Entscheidung hier aber dahinstehen.

Die Voraussetzungen für eine rückwirkende Bestellung liegen vor. Zwar ist eine solche grundsätzlich unzulässig. Von diesem Grundsatz ist aber richtigerweise jedenfalls eine Ausnahme zu machen, wenn das Gericht einen Antrag (versehentlich oder bewusst) nicht beschieden hat, obwohl die Voraussetzungen dafür vorlagen (vgl. Fischer, StPO, 55. Aufl., § 141 Rn. 8 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung). Der Gegenmeinung (vgl. die bei Fischer, aaO, insoweit Zitierten) ist zuzubilligen, dass die §§ 140 StPO primär die Sicherung eines ordnungsgemäßen Verfahrens bezwecken. Dies kann aber nach Auffassung der Kammer nicht dazu führen, dass es zu Lasten eines Betroffenen geht, wenn das Gericht über einen entscheidungsreifen Antrag nicht entscheidet. Das verstieße letztlich gegen das verfassungsrechtliche Willkürverbot (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.10.1996, 1 BvR 1777/95, dort zur Frage der rückwirkenden Gewährung von Prozesskostenhilfe für einen Nebenkläger).

Wie das AG München durch seinen Beschluss vom 19.8.2014 gezeigt hat, sind für das Gericht im Hinblick auf die von ihm zu entscheidenden Vorwürfe die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO gegeben. Diese Entscheidung hätte es auch schon deutlich früher treffen können.

Die rückwirkende Bestellung ist dabei vorliegend nach dem Gedanken des § 143 StPO auf die Zeit bis zum Einschalten des neuen Verteidigers des Angeklagten zu begrenzen. Danach bestand kein Bedarf mehr.

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