Der Weg zurück in die Freiheit führt über strenge Hürden – die bedingte Entlassung ist kein Geschenk, sondern eine zweite Chance mit klaren Regeln. Während die Öffentlichkeit oft nur den vermeintlich leichten Ausweg aus der Haft wahrnimmt, steht dahinter ein durchdachtes System, das Resozialisierung fördert und gleichzeitig die Sicherheit der Gesellschaft im Blick behält. Für den Verurteilten bedeutet sie nicht das Ende seiner Strafe, sondern deren Fortsetzung unter anderen Vorzeichen.
Übersicht
- Das Wichtigste: Kurz & knapp
- Zwischen Resozialisierung und Sicherheit: Das deutsche System der Strafrestaussetzung
- Rechtliche Grundlagen der Reststrafenaussetzung
- Voraussetzungen für die Reststrafenaussetzung
- Antragsverfahren
- Statistiken zur Reststrafenaussetzung
- Fallbeispiele
- Folgen der Reststrafenaussetzung
- Besonderheiten bei lebenslanger Freiheitsstrafe
- Fazit

Das Wichtigste: Kurz & knapp
- Zwei-Drittel-Regelung: Nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe kann eine vorzeitige Entlassung erfolgen (mind. 2 Monate Haftzeit)
- Halbstrafenaussetzung: Bei Erstverbüßern oder besonderen Umständen möglich (mind. 6 Monate Haftzeit)
- Bedingungen: Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit muss gewahrt sein, positive Prognose notwendig
- Einwilligung: Der Verurteilte muss der Entlassung zustimmen
- Bewährungsauflagen: Rest der Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt, nicht erlassen
- Zuständigkeit: Entscheidung trifft die Strafvollstreckungskammer, nicht die JVA
- Widerruf: Bei Verstößen gegen Auflagen oder neuen Straftaten droht Rückführung in Haft
- Statistik: Etwa 75% der Freiheitsstrafen bis 2 Jahre werden zur Bewährung ausgesetzt
- Lebenslange Haftstrafen: Vorzeitige Entlassung frühestens nach 15 Jahren möglich
Zwischen Resozialisierung und Sicherheit: Das deutsche System der Strafrestaussetzung
Die Reststrafenaussetzung, auch als vorzeitige Haftentlassung bekannt, ist ein bedeutendes Instrument im deutschen Strafrecht, das die Möglichkeit bietet, Inhaftierte unter bestimmten Voraussetzungen vor dem regulären Ende ihrer Haftstrafe zu entlassen. Dieses Rechtsinstitut ist im Strafgesetzbuch (StGB) verankert und dient primär dem Ziel der Resozialisierung von Straftätern.
Im öffentlichen Meinungsbild hat die Möglichkeit der vorzeitigen Haftentlassung oft einen negativ behafteten Beigeschmack. Dies liegt jedoch häufig an unzureichenden Kenntnissen über die genauen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen. Entgegen der verbreiteten Annahme, dass Inhaftierte einfach wegen „guter Führung“ vorzeitig entlassen werden, handelt es sich um ein komplexes rechtliches Verfahren mit strengen Kriterien und einer sorgfältigen Abwägung zwischen Resozialisierungsinteressen und dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit.
Die vorzeitige Haftentlassung ist nicht für jeden verurteilten Straftäter eine Option. Sie ist viel mehr als eine Möglichkeit anzusehen, auf welche der Inhaftierte im Rahmen seiner Haftstrafe aktiv hinarbeiten kann. Das deutsche Strafrecht kennt verschiedene Varianten der vorzeitigen Haftentlassung, insbesondere die Entlassung nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe (§ 57 Abs. 1 StGB) und die Halbstrafenaussetzung (§ 57 Abs. 2 StGB). Zusätzlich gibt es die Möglichkeit der Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe nach § 57a StGB.
Dieses Dokument bietet einen umfassenden Überblick über die rechtlichen Grundlagen, Voraussetzungen, das Antragsverfahren, statistische Daten und Fallbeispiele zur Reststrafenaussetzung im deutschen Strafrecht.
Rechtliche Grundlagen der Reststrafenaussetzung
§ 57 StGB – Aussetzung des Strafrestes bei zeitiger Freiheitsstrafe
Die Reststrafenaussetzung im deutschen Strafrecht ist primär in § 57 des Strafgesetzbuchs (StGB) geregelt. Diese Vorschrift definiert die Voraussetzungen, unter denen eine zeitige Freiheitsstrafe vorzeitig zur Bewährung ausgesetzt werden kann.
Der Gesetzestext des § 57 StGB lautet in seinen wesentlichen Teilen:
(1) Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn
- zwei Drittel der verhängten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate, verbüßt sind,
- dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann, und
- die verurteilte Person einwilligt.
Bei der Entscheidung sind insbesondere die Persönlichkeit der verurteilten Person, ihr Vorleben, die Umstände ihrer Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten der verurteilten Person im Vollzug, ihre Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind.
Diese Regelung bildet die Grundlage für die sogenannte Zwei-Drittel-Regelung, die den Standardfall der Reststrafenaussetzung darstellt.
Zwei-Drittel-Regelung
Die Zwei-Drittel-Regelung nach § 57 Abs. 1 StGB ist die häufigste Form der Reststrafenaussetzung im deutschen Strafrecht. Sie ermöglicht eine vorzeitige Entlassung, nachdem der Verurteilte zwei Drittel seiner Freiheitsstrafe verbüßt hat, sofern die weiteren gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind.
Die Strafrestaussetzung ist ein bedeutendes Instrument im deutschen Strafrecht, das die Haftentlassung von Strafgefangenen unter bestimmten Voraussetzungen regelt. Die Zwei-Drittel-Regelung spielt dabei eine zentrale Rolle: Nach Verbüßung von zwei Dritteln der Freiheitsstrafe haben Gefangene unter bestimmten Umständen die Möglichkeit, vorzeitig aus dem Strafvollzug entlassen zu werden. Diese Regelung zielt darauf ab, eine effektive Resozialisierung zu fördern und den Betroffenen den Einstieg in eine strukturierte und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen.
Bei der Zwei-Drittel-Regelung handelt es sich um eine gebundene Entscheidung des Gerichts. Das bedeutet, dass das Gericht die Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung aussetzen muss, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Es besteht kein Ermessensspielraum , sofern die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:
1. Zwei Drittel der verhängten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate, sind verbüßt.
2. Die vorzeitige Entlassung ist unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit zu verantworten.
3. Die verurteilte Person willigt ein.
Bei der Entscheidung berücksichtigt das Gericht insbesondere die Persönlichkeit der verurteilten Person, ihr Vorleben, die Umstände ihrer Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten der verurteilten Person im Vollzug, ihre Lebensverhältnisse und die Wirkungen, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind.
Halbstrafenaussetzung
Unter den Voraussetzungen des § 57 Abs. 2 StGB kann das Gericht den Strafrest bereits nach der Hälfte der Strafe zur Bewährung aussetzen. Im Gegensatz zu Abs. 1 ist die bedingte Entlassung hier nicht zwingend, sondern es besteht ein erheblicher Ermessensspielraum des Gerichts.
Die Anforderungen sind gegenüber Abs. 1 erweitert:
- Es müssen mindestens sechs Monate vollstreckt sein (statt zwei Monate bei der Zwei-Drittel-Regelung)
- Der Verurteilte muss entweder:
- erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßen, die zwei Jahre nicht übersteigt (§ 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB), oder
- eine Gesamtwürdigung der Tat, der Persönlichkeit des Verurteilten und seiner Entwicklung während des Strafvollzugs muss ergeben, dass besondere Umstände vorliegen (§ 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB)
Hinzu müssen noch die übrigen Voraussetzungen des Abs. 1 erfüllt sein; liegen diese nicht vor, kommt es auf das Vorliegen besonderer Umstände nicht an.
Besondere Umstände
Besondere Umstände im Sinne des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB liegen nur vor, wenn über gewöhnliche Milderungsgründe deutlich hinausreichende Umstände von besonderem Gewicht gegeben sind, die eine Strafaussetzung trotz des erheblichen Unrechts- und Schuldgehalts, der sich in der Strafhöhe widerspiegelt, nicht als unangebracht und den vom Strafrecht geschützten Interessen zuwiderlaufend erscheinen lassen. Dies ist nur ausnahmsweise der Fall, und bei der Prüfung eines Ausnahmefalls sind strenge Maßstäbe anzulegen. Dies gilt umso mehr, je weiter die zu verbüßende Freiheitsstrafe über der Zweijahresgrenze des § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB liegt.
Es kann allerdings genügen, dass mehrere gewöhnliche Milderungsgründe zusammentreffen und erst in ihrer Gesamtheit das erforderliche besondere Gewicht erlangen. Erforderlich ist eine Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit des Verurteilten und seiner Entwicklung während des Strafvollzugs, in die auch Umstände einbezogen werden können, die bereits Eingang in die Strafzumessung des erkennenden Gerichts gefunden haben.
Besondere Umstände kommen etwa in Betracht, wenn:
- sich die Persönlichkeit des Verurteilten während des Strafvollzugs nachhaltig positiv verändert (was freilich regelmäßig erst nach einer längeren Vollzugsdauer der Fall sein dürfte)
- er den Strafverfolgungsbehörden überobligatorisch bei der Aufklärung weiterer Straftaten hilft
- besondere familiäre Härten vorliegen
- hohes Alter und ein beeinträchtigter Gesundheitszustand vorliegen
- die Taten sehr lange zurückliegen
Zu beachten ist, dass die Rechtsprechung teilweise unterschiedliche Auffassungen vertritt. So hat das KG Berlin (Beschl. v. 30.7.2014 – 2 Ws 270/14) entschieden, dass hohes Alter kein besonderer Umstand im Sinne des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB sei.
Voraussetzungen für die Reststrafenaussetzung
Zeitliche Voraussetzungen
Die zeitlichen Voraussetzungen für eine Reststrafenaussetzung variieren je nach angewandter Regelung:
- Zwei-Drittel-Regelung (§ 57 Abs. 1 StGB):
- Zwei Drittel der verhängten Strafe müssen verbüßt sein
- Mindestens zwei Monate müssen verbüßt sein
- Die vorzeitige Haftentlassung zum Zweidrittelzeitpunkt kann frühestens zwei Monate nach dem Haftantritt geprüft werden, in der Praxis erfolgt die Überprüfung jedoch meist zu einem erheblich späteren Zeitpunkt
- Halbstrafenaussetzung (§ 57 Abs. 2 StGB):
- Die Hälfte der verhängten Strafe muss verbüßt sein
- Mindestens sechs Monate müssen verbüßt sein
- In der Praxis kommt die vorzeitige Haftentlassung zum Halbstrafenzeitraum lediglich für sogenannte Erstverbüßer mit einer Freiheitsstrafe von maximal zwei Jahren oder für andere verurteilte Inhaftierte, bei denen nach einer Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit und ihrer Entwicklung während des Strafvollzugs besondere Umstände vorliegen, in Betracht
Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit
Eine zentrale Voraussetzung für die Reststrafenaussetzung ist, dass dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann.
Bei dieser Prüfung spielen folgende Faktoren eine Rolle:
- Die Gefährlichkeit des Täters
- Sein Verhalten während der Haft
- Seine Rückfallgefahr
- Das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts
Die gesetzlichen Regelungen zur Strafrestaussetzung setzen klare Entlassungsvoraussetzungen, die in jedem Einzelfall geprüft werden müssen. Die Justizvollzugsanstalt bewertet, ob der Gefangene die nötigen Schritte zur Resozialisierung unternommen hat und ob er von entsprechenden Wiedereingliederungshilfen in der Gesellschaft profitieren kann.
Einwilligung des Verurteilten
Gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB setzt eine Aussetzung des Strafrests die Einwilligung des Verurteilten voraus. Obgleich der Gedankengang naheliegt, dass jeder Inhaftierte dieser vorzeitigen Haftentlassung blind zustimmen würde, ist dieser Gedankengang falsch. Einige Inhaftierte entscheiden sich gegen diese Form der vorzeitigen Haftentlassung, da sie mit weiteren Auflagen verbunden ist.
Sollte die vorzeitige Haftentlassung seitens der Strafvollstreckungskammer genehmigt werden, so stellt sich natürlich die Frage, was mit der Reststrafe aus der Verurteilung des Inhaftierten geschieht. Hierbei muss betont werden, dass diese Reststrafe nicht etwa einfach verfällt oder gar erlassen wird. Vielmehr wird die verbleibende Reststrafe in eine Bewährungsstrafe umgewandelt.
Diese Bewährungsstrafe ist dann mit weitergehenden Auflagen sowie auch bestimmten Weisungen verbunden. Dies kann ein Grund dafür sein, warum sich manche Inhaftierte in Deutschland gegen die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung entscheiden und ihre Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt bis zum Enddatum „absitzen“.
Prognoseentscheidung
Bei der Entscheidung über eine vorzeitige Haftentlassung werden folgende Faktoren berücksichtigt:
- Die Persönlichkeit des Inhaftierten
- Sein Vorleben
- Die genauen Umstände der Tat
- Das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts
- Das genaue Verhalten des Inhaftierten während der Haftzeit
- Die genauen Lebensverhältnisse des Inhaftierten
- Die Auswirkungen der vorzeitigen Haftentlassung auf den Inhaftierten
Das Gericht muss eine Prognose darüber treffen, ob der Verurteilte in Freiheit keine weiteren Straftaten mehr begehen wird. Dabei ist keine absolute Gewissheit erforderlich, sondern eine verantwortbare Abwägung zwischen Resozialisierungschancen und öffentlicher Sicherheit.
Antragsverfahren
Formale Anforderungen
Die vorzeitige Haftentlassung sollte von dem Inhaftierten in schriftlicher Form beantragt werden. Ein formloser Antrag ist grundsätzlich ausreichend, sollte jedoch folgende Elemente enthalten:
- Persönliche Daten des Antragstellers
- Aktenzeichen des Verfahrens
- Ersuchen um Aussetzung der Haftstrafe zur Bewährung ab einem bestimmten Zeitpunkt (an dem die erforderlichen zwei Drittel oder die Hälfte der Strafe verbüßt sind)
- Schlüssige Begründung unter Berücksichtigung der gesetzlichen Voraussetzungen
Sämtliche positiven Argumente wie beispielsweise:
- Die beanstandungsfreie und kooperative Führung während der Haftdauer
- Die Wahrnehmung von Lockerungen (Freigänge etc.) ohne Beanstandungen
- Das Vorliegen eines Arbeitsplatzes nach der Haftentlassung (Vorlage eines Arbeitsvertrages)
- Der feste Wohnsitz (Vorlage eines Mietvertrages oder Nachweis über Eigentum)
sollten diesem Antrag beigefügt werden, um die Erfolgsaussichten für den Antrag zu steigern. Eine zwingende Beifügung ist jedoch nicht gesetzlich vorgeschrieben, da das Gericht diese Informationen auch im Rahmen seiner Ermittlungspflicht einholen kann.
Zuständige Stellen
Der Antrag wird bei der zuständigen Strafvollstreckungskammer gestellt. Die Strafvollstreckungskammer ist ein spezieller Spruchkörper des Landgerichts, der für Entscheidungen im Bereich der Strafvollstreckung zuständig ist.
Die Prüfung des Antrags erfolgt seitens der zuständigen Strafvollstreckungskammer auf der Basis „von Amts wegen“. Dies bedeutet, dass im Grunde genommen überhaupt kein Antrag für die vorzeitige Haftentlassung erforderlich wäre, da die Prüfung ohnehin erfolgt. Der schriftliche Antrag des Inhaftierten bietet jedoch für den Inhaftierten die Möglichkeit, positiv auf die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer einzuwirken und Argumente zu liefern, welche die Strafvollstreckungskammer im Zuge der Prüfung von Amts wegen etwaig nicht im Fokus hat.
Anders als im öffentlichen Meinungsbild etabliert entscheidet nicht die Justizvollzugsanstalt, in welcher der Inhaftierte seine Haftstrafe verbüßt, über die vorzeitige Haftentlassung. Die Entscheidung über die vorzeitige Haftentlassung obliegt dem jeweils zuständigen Gericht.
Rolle der Justizvollzugsanstalt
Die Justizvollzugsanstalt (JVA) spielt eine wichtige Rolle im Antragsverfahren:
- Stellungnahme der Anstalt: Die JVA nimmt zu Anträgen von Gefangenen auf Reststrafenaussetzung Stellung. Dabei werden folgende Aspekte berücksichtigt:
- Der Eindruck von der Persönlichkeit des Gefangenen
- Das Verhalten im Vollzug
- Die Notwendigkeit weiterer Strafvollstreckung aus Sicht des Vollzuges
- Die Lebensverhältnisse des Gefangenen
- Die zu erwartenden Wirkungen der Strafaussetzung
- Verlauf und Ergebnis etwaiger Aus- und Fortbildungs- sowie Lockerungsmaßnahmen während des Vollzuges
- Empfehlung zu Auflagen und Weisungen: Wird der Antrag befürwortet, gibt die Anstalt eine Empfehlung ab, ob und welche Auflagen und Weisungen im Falle einer Strafaussetzung erteilt werden sollten.
- Informationen zur Entlassungsvorbereitung: Die Anstalt teilt mit, ob und wo der Gefangene nach der Entlassung Unterkunft und Arbeit finden wird, ob eine Entlassungsvorbereitung erfolgt und welche Zeit dafür voraussichtlich benötigt wird.
- Transparenz gegenüber dem Gefangenen: Eine Durchschrift der Stellungnahme wird dem Gefangenen ausgehändigt, und ihm wird Gelegenheit gegeben, sich dazu zu äußern. Diese Erklärung wird in einer Niederschrift festgehalten.
- Weiterleitung der Unterlagen: Der Antrag auf Strafaussetzung, die Stellungnahme und die gegebenenfalls gefertigte Niederschrift werden an die Vollstreckungsbehörde bzw. bei ersuchten Staatsanwaltschaften an diese übersandt.
Wenn ein Inhaftierter den Wunsch der vorzeitigen Haftentlassung verspürt, so sollte direkt mit dem ersten Tag der Verbüßung in der Justizvollzugsanstalt das Gespräch mit dem Abteilungsleiter gesucht werden. Die vorzeitige Haftentlassung ist ein Ziel, auf welches der Inhaftierte jeden Tag hinarbeiten muss.
Fristen
Gemäß § 57 Abs. 7 StGB kann das Gericht Fristen von höchstens sechs Monaten festsetzen, vor deren Ablauf ein Antrag des Verurteilten auf Aussetzung des Strafrestes unzulässig ist. Dies soll eine übermäßige Belastung der Gerichte durch wiederholte Anträge verhindern.
Die Unterlagen sollen bei der Vollstreckungsbehörde spätestens zu folgenden Zeitpunkten eingehen:
- Bei zeitigen Freiheitsstrafen:
- Von mehr als zwei bis zu sechs Monaten: drei Wochen
- Von mehr als sechs Monaten: sechs Wochen
vor dem Zeitpunkt, zu dem zwei Drittel der Strafe (mindestens jedoch zwei Monate) oder – unter den Voraussetzungen des § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB – die Hälfte der Strafe (mindestens jedoch 6 Monate) verbüßt sind.
- Bei lebenslangen Freiheitsstrafen: fünf Monate vor dem Zeitpunkt, zu dem 15 Jahre der Strafe verbüßt sind.
Entscheidungsprozess
Die Strafvollstreckungskammer entscheidet über den Antrag auf Grundlage:
- Der gesetzlichen Voraussetzungen nach § 57 StGB
- Der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt
- Gegebenenfalls eines Gutachtens (insbesondere bei schweren Straftaten)
- Der persönlichen Anhörung des Verurteilten
In bestimmten Fällen prüft die Strafvollstreckungskammer die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung auch ohne Antrag des Verurteilten:
- Bei zeitigen Freiheitsstrafen von über 2 Monaten (§ 57 Abs. 1 StGB)
- Im Falle der Erstverbüßung bei einer zeitigen Freiheitsstrafe von über 6 Monaten bis 2 Jahren (§ 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB)
- Bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe (§ 57a Abs. 1 StGB)
In diesen Fällen werden die Gefangenen rechtzeitig gefragt, ob sie in eine Strafaussetzung zur Bewährung einwilligen würden. Das Ergebnis wird in einer Niederschrift festgehalten.
Statistiken zur Reststrafenaussetzung
Allgemeine Strafaussetzungszahlen
Gemäß der Broschüre „Strafrechtspflege in Deutschland – Fakten und Zahlen„, verfasst von Professor Dr. Dr. h. c. Jörg-Martin Jehle und herausgegeben vom Bundesministerium der Justiz (Dezember 2023), lassen sich folgende statistische Erkenntnisse zur Strafaussetzung in Deutschland festhalten:
- Im Bundeszentralregister-Datensatz finden sich 97.477 Personen mit Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren
- Von diesen Freiheitsstrafen wurden 73.519, das heißt 75,4% zur Bewährung ausgesetzt
- Die Quote der Strafaussetzung variiert je nach Dauer der Freiheitsstrafe:
- Bei Freiheitsstrafen von 1-2 Jahren: 72%
- Bei Freiheitsstrafen von 6-9 Monaten und von 9 Monaten bis ein Jahr: 79%
Daten zur Reststrafenaussetzung
- Neben den Bewährungsprobanden, die mit einer Strafaussetzung unter Bewährung gestellt wurden (etwa 75%), wurde gegenüber 15% (n=8.332) der unter Bewährungsaufsicht gestellten Personen eine Bewährungsaufsicht im Zusammenhang mit einer Strafrestaussetzung nach allgemeinem Strafrecht angeordnet
- Strafaussetzungen wurden durchschnittlich zu 43,5% mit einer Unterstellung unter die Bewährungsaufsicht verknüpft
- Die Bewährungsprobanden waren ganz überwiegend Männer (zu 85,8%) und Deutsche (zu 81,6%)
Die Daten basieren auf der bundesweiten Untersuchung „Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen“, welche auf Daten des Bundeszentralregisters beruht. Die jüngste Erhebungswelle betrifft Personen, gegen die im Bezugsjahr 2010 eine Strafaussetzung oder Strafrestaussetzung nach Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht oder die Unterstellung unter Führungsaufsicht angeordnet wurde.
Reststrafenaussetzung im Jugendstrafrecht
- Im Jugendstrafrecht waren es 25% (n=1.893) der Bewährungsprobanden, gegen die eine Bewährungsaufsicht im Zusammenhang mit einer Strafrestaussetzung nach Jugendstrafrecht angeordnet wurde
- Zusätzlich waren 15% von der Sonderform eines Schuldspruchs in Verbindung mit der Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe gemäß § 27 JGG betroffen
- Im Hinblick auf die Jugendstrafen finden sich im Bundeszentralregister-Datensatz 8.792 Personen mit Jugendstrafen bis zu 2 Jahren, von welchen 5.982 Jugendstrafen, das heißt 68% zur Bewährung ausgesetzt wurden
- Je länger die Jugendstrafe, desto geringer die Quote der Strafaussetzung:
- Für eine Jugenstrafe von bis zu sechs Monaten lag die Aussetzungsquote bei 90%
- Bei Jugendstrafen von 1-2 Jahren hingegen bei 54%
- Die Bewährungsprobanden waren ganz überwiegend Männer (zu 90,8%) und Deutsche (zu 71,9%)
Fallbeispiele
OLG Brandenburg – Vorzeitige Haftentlassung trotz Vorstrafen
Sachverhalt:
Eine Frau wurde wegen wiederholter Ladendiebstähle, Hausfriedensbruchs und Erschleichens von Leistungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 26 Monaten verurteilt. Trotz mehrfacher Vorstrafen und einer problematischen Vorgeschichte entschied das Landgericht Cottbus, die Reststrafe zur Bewährung auszusetzen, nachdem die Verurteilte zwei Drittel ihrer Haftzeit verbüßt hatte. Die Staatsanwaltschaft Berlin legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein, die jedoch vom Oberlandesgericht Brandenburg als unbegründet zurückgewiesen wurde.
Entscheidungsgründe:
- Die Verurteilte befand sich erstmalig in Strafhaft und hatte zwei Drittel ihrer Freiheitsstrafen verbüßt
- Das Gericht begründete die Entscheidung damit, dass die Verbüßung des Strafvollzugs künftiger Straffälligkeit entgegenwirken kann
- Das Gericht hob hervor, dass eine erstmalige Haft einen starken spezialpräventiven Eindruck hinterlässt
- Die bisherige Führung der Verurteilten während der Haft war einwandfrei und ohne Beanstandungen
- Die Straftaten der Verurteilten wurden als nicht gravierend genug angesehen, um die Bewährungsaussetzung zu verweigern
- Die soziale und wirtschaftliche Stabilität der Verurteilten wurde als positiv für die Zukunftsperspektive bewertet wobei zu beachten ist, dass gemäß § 57 Abs. 1 StGB die Entlassung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden können muss
Dieses Fallbeispiel verdeutlicht, dass selbst bei Vorstrafen und ungünstigen Faktoren eine Bewährungsentlassung möglich ist, wenn positive Entwicklungen erkennbar sind. Das Gericht betont die Notwendigkeit einer verantwortbaren Abwägung zwischen Resozialisierungschancen und öffentlicher Sicherheit, wobei keine absolute Gewissheit künftiger Straffreiheit erforderlich ist und Zweifel an der Verantwortbarkeit der Aussetzung zu Lasten des Verurteilten gehen .
Folgen der Reststrafenaussetzung
Bewährungsauflagen
Sollte die vorzeitige Haftentlassung seitens der Strafvollstreckungskammer genehmigt werden, so stellt sich natürlich die Frage, was mit der Reststrafe aus der Verurteilung des Inhaftierten geschieht. Hierbei muss betont werden, dass diese Reststrafe nicht etwa einfach verfällt oder gar erlassen wird. Vielmehr wird die verbleibende Reststrafe in eine Bewährungsstrafe umgewandelt. Diese Bewährungsstrafe ist dann mit weitergehenden Auflagen sowie auch bestimmten Weisungen verbunden.
Gemäß § 57 Abs. 3 StGB gelten die §§ 56a bis 56e entsprechend; die Bewährungszeit darf, auch wenn sie nachträglich verkürzt wird, die Dauer des Strafrestes nicht unterschreiten. Hat die verurteilte Person mindestens ein Jahr ihrer Strafe verbüßt, bevor deren Rest zur Bewährung ausgesetzt wird, unterstellt sie das Gericht in der Regel für die Dauer oder einen Teil der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung einer Bewährungshelferin oder eines Bewährungshelfers.
Typische Bewährungsauflagen können sein:
- Regelmäßige Meldepflichten
- Wohnortbeschränkungen
- Kontaktverbote
- Teilnahme an Therapien oder Beratungen
- Gemeinnützige Arbeit
- Geldauflagen
Bewährungswiderruf
Sollte ein Straftäter, der im Rahmen einer vorzeitigen Entlassung aus der Haft entlassen wurde, gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen, so erfolgt ein sogenannter Bewährungswiderruf. Dies führt dann nicht zwingend zu einer Inhaftierung, in der die restliche Strafzeit verbüßt werden muss.
Gemäß § 57 Abs. 5 StGB gelten die §§ 56f und 56g entsprechend. Das Gericht widerruft die Strafaussetzung auch dann, wenn die verurteilte Person in der Zeit zwischen der Verurteilung und der Entscheidung über die Strafaussetzung eine Straftat begangen hat, die von dem Gericht bei der Entscheidung über die Strafaussetzung aus tatsächlichen Gründen nicht berücksichtigt werden konnte und die im Fall ihrer Berücksichtigung zur Versagung der Strafaussetzung geführt hätte.
Gründe für einen Bewährungswiderruf können sein:
- Begehung neuer Straftaten während der Bewährungszeit
- Wiederholte oder schwerwiegende Verstöße gegen Bewährungsauflagen
- Entzug aus der Bewährungsaufsicht
- Rückfall in alte Verhaltensmuster (z.B. Drogenkonsum)
Gemäß § 56f Abs. 2 StGB sieht das Gericht jedoch von einem Widerruf ab, wenn es ausreicht, weitere Auflagen oder Weisungen zu erteilen oder die Bewährungs- oder Unterstellungszeit zu verlängern. Die Bewährungszeit darf dabei nicht um mehr als die Hälfte der zunächst bestimmten Bewährungszeit verlängert werden.
Besonderheiten bei lebenslanger Freiheitsstrafe
Sollte ein Inhaftierter zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden sein, so gelten natürlich andere Voraussetzungen für eine vorzeitige Haftentlassung. Diese Voraussetzungen finden sich in dem § 57a StGB (Strafgesetzbuch). Die wichtigsten Voraussetzungen für die vorzeitige Haftentlassung sind, dass der Inhaftierte eine Haftstrafe von mindestens 15 Jahren bereits in der Justizvollzugsanstalt verbüßt hat und dass dem Inhaftierten nicht im Zuge der Verurteilung die besondere Schuldschwere festgestellt wurde
Gemäß § 57a StGB kann das Gericht die Vollstreckung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung aussetzen, wenn
- fünfzehn Jahre der Strafe verbüßt sind,
- nicht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet und
- die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 vorliegen.
Die übrigen Voraussetzungen sind den Voraussetzungen für eine vorzeitige Haftentlassung bei anderen Inhaftierten gleichgestellt.
Fazit
Die Reststrafenaussetzung ist ein wichtiges Instrument im deutschen Strafrecht, das die Möglichkeit bietet, Inhaftierte unter bestimmten Voraussetzungen vorzeitig aus der Haft zu entlassen. Sie dient primär dem Ziel der Resozialisierung und ermöglicht es Straftätern, unter kontrollierten Bedingungen wieder in die Gesellschaft zurückzukehren.
Die rechtlichen Grundlagen und Voraussetzungen für eine Reststrafenaussetzung sind komplex und erfordern eine sorgfältige Prüfung im Einzelfall. Sowohl die Zwei-Drittel-Regelung als auch die Halbstrafenaussetzung bieten unter unterschiedlichen Voraussetzungen die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung.
Das Antragsverfahren ist formalisiert und beinhaltet die Beteiligung verschiedener Akteure, insbesondere der Justizvollzugsanstalt und der Strafvollstreckungskammer. Die Entscheidung über eine Reststrafenaussetzung basiert auf einer umfassenden Prognose über das künftige Verhalten des Verurteilten und einer Abwägung zwischen Resozialisierungsinteressen und dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit.
Die statistischen Daten zeigen, dass die Reststrafenaussetzung in der Praxis eine bedeutende Rolle spielt, wobei die Aussetzungsquoten je nach Strafdauer und Strafart variieren. Entgegen der verbreiteten Annahme werden nach § 57 Abs. 1 StGB (Zwei-Drittel-Regelung) lediglich 14,6% der Fälle zur Bewährung ausgesetzt; bei der Halbstrafenaussetzung nach § 57 Abs. 2 StGB sind es sogar nur 2%. Das Fallbeispiel des OLG Brandenburg verdeutlicht, dass selbst bei Vorstrafen und ungünstigen Faktoren eine Bewährungsentlassung möglich ist, wenn positive Entwicklungen erkennbar sind.
Die Folgen einer Reststrafenaussetzung, insbesondere die Umwandlung der Reststrafe in eine Bewährungsstrafe mit entsprechenden Auflagen, sowie die Möglichkeit eines Bewährungswiderrufs bei Verstößen, unterstreichen den kontrollierten Charakter dieser Maßnahme.
Insgesamt stellt die Reststrafenaussetzung ein differenziertes und ausgewogenes Rechtsinstitut dar, das sowohl den Interessen der Straftäter als auch dem Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft Rechnung trägt.