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Schuldfähigkeit bei hoher Blutalkoholkonzentration

OLG Karlsruhe – Az.: 2 (4) Ss 633/16 – AK 226/16 – Beschluss vom 16.11.2016

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts – Strafrichter – Waldshut-Tiengen vom 12. Juli 2016 mit den Feststellungen aufgehoben und zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere strafrichterliche Abteilung des Amtsgerichts Waldshut-Tiengen zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Waldshut-Tiengen verurteilte den Angeklagten am 12.07.2016 wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu der Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 30 Euro, entzog ihm die Fahrerlaubnis und setzte eine Sperrfrist für die Wiedererteilung einer Fahrerlaubnis von weiteren „zwölf Monaten“ fest, nachdem der Führerschein des Angeklagten „bereits seit zwei Monaten sichergestellt beziehungsweise beschlagnahmt“ sei.

Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte am 18.07.2016 Rechtsmittel eingelegt, das er am 08.09.2016 nach zuvor am 12.08.2016 erfolgter Urteilszustellung als Revision bezeichnet und als solche begründet hat; diese stützt er – jeweils unter weiteren Ausführungen – auf die Verletzung formellen und sachlichen Rechts und beantragt die Aufhebung des Urteils sowie die Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht.

Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe hat nach § 349 Abs. 4 StPO ebenso angetragen.

II.

1. Das Rechtsmittel ist als Sprungrevision nach § 335 StPO zulässig und hat (vorläufig) Erfolg.

Die Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge zieht seine Aufhebung nach sich (§ 353 StPO), sodass von der weiteren Erörterung der geltend gemachten Verfahrensrügen abgesehen werden konnte (vgl. aber grundsätzlich unten 3.); die tatrichterliche Beweiswürdigung leidet ebenso an einem Darlegungsmangel wie der Strafausspruch nicht frei von Rechtsfehlern ist.

a. Die Feststellungen des Vordergerichts zum Zeitpunkt der Alkoholaufnahme durch den Angeklagten – vor Fahrtantritt am Morgen des Tattags um 6:00 Uhr – finden in seiner Beweiswürdigung keine hinreichende Stütze

Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierzu Folgendes ausgeführt:

„Dort wird zwar noch nachvollziehbar dargelegt, warum aufgrund der durch Vernehmung des Polizeibeamten D. eingeführten Äußerungen des Angeklagten am Tattag davon ausgegangen werden kann, dass dieser am fraglichen Morgen gegen 6:00 Uhr mit dem Kraftfahrzeug von seiner Wohnanschrift zu seiner Arbeitsstelle gefahren ist. Zu der Frage, ob der Angeklagte bereits zu diesem Zeitpunkt den Alkohol aufgenommen hatte, der bei der Untersuchung der ihm um 13:52 Uhr entnommenen Blutprobe zu Ergebnissen 1,96 Promille führte, verhält sich die Beweiswürdigung jedoch nicht in ausreichendem Maße. Insoweit wird in den Urteilsgründen lediglich Folgendes festgestellt:

„Für einen Nachtrunk gab es keine Anhaltspunkte, insbesondere auch deshalb, weil sich der Angeklagte nach Aufgreifen in seinem Büro in ständiger, polizeilicher Begleitung befand.“

Schuldfähigkeit bei hoher Blutalkoholkonzentration
(Symbolfoto: Saiful52/Shutterstock.com)

Dies ist vor dem Hintergrund, dass sich der Angeklagte nach dem vom Amtsgericht festgestellten Ablauf (Fahrt des Angeklagten zu seiner Arbeitsstelle in E. um 6:00 Uhr, Erscheinen der Polizeibeamten dort [hierzu fehlen jegliche Zeitangaben im Urteil], anschließendes Verbringen in das psychiatrische Behandlungszentrum F., dort Bemerken von Anzeichen für eine Alkoholisierung, Entnahme einer Blutprobe um 13:52 Uhr nach einer entsprechenden Anordnung des Ermittlungsrichters um 13:35 Uhr) naheliegend vor dem Erscheinen der Polizeibeamten bereits mehrere Stunden an seiner Arbeitsstelle aufgehalten hat, nicht nachvollziehbar.“

Dem tritt der Senat bei. Die Überzeugungsbildung des Tatgerichts erfordert eine ausreichende objektive Grundlage; die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer nachvollziehbaren Beweisgrundlage beruht und die vom Tatgericht gezogenen Schlussfolgerungen sich nicht lediglich als bloße Vermutungen erweisen (BGH, Urteil vom 07.09.2016 – 1 StR 154/16 -, juris Rn. 43 mwN). Die auf Rechtsfehler beschränkte Prüfungskompetenz des Revisionsgerichts enthebt das Tatgericht daher nicht vom Erfordernis, die Tatsachenfeststellungen für das Revisionsgericht insgesamt nachvollziehbar – plausibel – zu machen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 337, Rn. 26 mwN).

b. Auch die Begründung der Ablehnung einer alkoholbedingten erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zum Tatzeitpunkt nach § 21 StGB, die gegebenenfalls eine Strafrahmenverschiebung nach § 49 Abs. 1 StGB nach sich zöge, vermag nicht zu tragen.

a. Bereits im Ansatz legt das Vordergericht seinen Erwägungen zur Schuldfähigkeit des Angeklagten ein nicht zutreffend berechnete – hier maximal gebotene – Blutalkoholkonzentration von 2,46 Promille zur Tatzeit zu Grunde.

Nach ständiger Rechtsprechung ist zur Ermittlung der maximalen Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit im Hinblick auf die Feststellung der Schuldfähigkeit anhand einer nach der Tat entnommenen Blutprobe zu Gunsten des Angeklagten für den gesamten Rückrechnungszeitraum ein stündlicher Abbauwert von 0,2 Promille und zusätzlich ein einmaliger Sicherheitszuschlag von 0,2 Promille anzusetzen (BGHSt 37, 231, juris Rn. 11; OLG Köln, DAR 2013, 35 f. juris Rn. 18; Fischer, StGB, 63. Auflage, § 20, Rn. 13). Auf den vorliegenden Sachverhalt angewendet, wäre von einer Blutalkoholkonzentration von 3,76 Promille zur Tatzeit auszugehen (Zeitdifferenz zwischen der Tatzeit um 6:00 Uhr und der Blutentnahme um 13:52 Uhr: 7 Stunden und 52 Minuten; mittlere BAK der Blutprobe: 1,96 Promille; Berechnung: 1,96 + 0,2 + 8×0,2 = 3,76 [Promille]).

b. Die Erwägungen des Vordergerichts tragen vorliegend zudem dem Begründungserfordernis an die Ablehnung des Vorliegens einer zumindest erheblich verminderten Schuldfähigkeit nicht in ausreichendem Maße Rechnung.

Angesichts der wie dargestellt bestimmten Blutalkoholkonzentration von mehr als drei Promille liegt die Annahme einer erheblichen Herabsetzung des Hemmungsvermögens zur Tatzeit nahe. Auch wenn davon auszugehen ist, dass es keinen gesicherten medizinisch-statistischen Erfahrungssatz darüber gibt, dass ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit in aller Regel vom Vorliegen einer alkoholbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden muss, ist der im Einzelfall festzustellende Wert doch zumindest ein gewichtiges Beweisanzeichen für eine erhebliche alkoholische Beeinflussung. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass die Wirkungen einer Alkoholaufnahme individuell verschieden sind. Der Blutalkoholgehalt zeigt nämlich immerhin die wirksam aufgenommene Alkoholmenge an. Je höher dieser Wert ist, umso näher liegt die Annahme einer zumindest erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit. Bei einer starken Alkoholisierung lässt sich eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit nur ausschließen, wenn gewichtige Anzeichen dafür sprechen, dass das Hemmungsvermögen des Täters zur Tatzeit erhalten geblieben war (st. Rspr.; BGH NStZ-RR 2016, 103 ff., juris Rn. 13 mwN).

Zur konkreten Feststellung der Schuldfähigkeit ist dabei stets eine tatgerichtliche Gesamtwürdigung der feststellbaren Alkoholaufnahme einerseits und der psychodiagnostischen Kriterien andererseits erforderlich, wobei allerdings nur solche Umstände zu berücksichtigen sind, die aussagekräftige Hinweise darauf geben können, ob das Hemmungsvermögen des Täters bei der Begehung der Tat erhalten geblieben ist oder nicht (BGH aaO, juris Rn. 18 mwN).

Dem genügen die tatgerichtlichen Erwägungen nicht. Neben der in die Beweiswürdigung zu niedrig eingestellten möglichen maximalen Blutalkoholkonzentration lassen sie zum einen nicht erkennen, dass es sich bei den vom Vordergericht dargestellten, aus der Würdigung der Angaben zweier Zeugen gewonnenen und dargestellten kognitiven und physischen Leistungsverhalten des Angeklagten nicht dessen Tatzeitverfassung betreffen. Beide Zeugen waren mit dem Angeklagten nämlich nicht zum Tatzeitpunkt, sondern im Falle des polizeilichen Zeugen erst seit der – vom Vordergericht zeitlich nicht eingeordneten – Festnahme des Angeklagten, im Falle des die Blutentnahme durchführenden Arztes noch später befasst. Zum anderen bestand angesichts der amtsgerichtlichen Feststellung, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt seiner Festnahme seit einem Tag aus dem Zentrum für Psychiatrie G. flüchtig war, Veranlassung zu überprüfen, ob und inwiefern eine dem Aufenthalt in der Psychiatrie zu Grunde liegende psychische Verfassung in Verbindung mit dem Alkoholkonsum gegebenenfalls Einfluss auf die Schuldfähigkeit des Angeklagten gehabt haben könnte (BGH NStZ-RR 2004, 306, juris Rn. 7); bei gleichzeitigem Vorliegen von hoher Alkoholisierung und einer sonstigen psychischen Störung wird jedenfalls eine Einschränkung der Schuldfähigkeit häufiger bejaht (Fischer, aaO, § 20, Rn. 26).

3. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

a. Die Bejahung von Schuldfähigkeit bei hohen BAK-Werten bedarf jedenfalls näherer Begründung und setzt meist die Anhörung eines Sachverständigen voraus (Fischer, aaO, § 20, Rn. 20). Bei der Prüfung der Schuldfähigkeit im Falle eines zum Tatzeitpunkt stattgehabten erheblichen Alkoholkonsums kann im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung neben der Prüfung des Indizwerts des für den Tatzeitpunkt festzustellenden Leistungsverhaltens einer gegebenenfalls bestehenden Alkoholgewöhnung des Angeklagten, dem Vorhandensein von psychischen Störungen und einer bestehenden Wechselwirkung mit gegebenenfalls – vorliegend im Rahmen der psychiatrischen Behandlung – eingenommenen Medikamenten indizielle Bedeutung zukommen (Fischer, aaO, § 20, Rn. 23a, 26, 26b). Zur ergänzenden Aufklärung dürften überdies die den Angeklagten betreffenden Akten des Betreuungsgerichts beizuziehen sein; hierdurch können Art und Bedeutung jener Prognose Berücksichtigung finden.

b. Ob die Angaben des Vernehmungsbeamten des Angeklagten gegebenenfalls aufgrund eines alkoholbedingten Verständnisdefizits im Hinblick auf dessen Belehrung als Beschuldigter über sein Schweigerecht einem aus den §§ 163 Abs. 4 S. 2, 136 Abs. 1 S. 2 StPO abgeleiteten Verwertungsverbot (hierzu BGH NStZ 1994, 95, juris Rn. 8) oder aufgrund alkoholbedingter Vernehmungsunfähigkeit einem Verwertungsverbot aus § 136a StPO unterliegen (Diemer in: KK-StPO, 7. Auflage, § 136a, Rn. 13, 16 mwN), obliegt der tatgerichtlichen Würdigung. In der Regel dürfte ein Beschuldigter dann, wenn er infolge seiner geistigen oder seelischen Verfassung die Belehrung über die Aussagefreiheit nicht versteht, auch nicht vernehmungsfähig sein (Gleß in: Löwe-Rosenberg, 26. Auflage, § 136, Rn. 86). Ob derartige Defizite beim Angeklagten vorlagen, ist eine Frage, die der Tatrichter im Wege des Freibeweises zu prüfen hat. Dabei gilt der Grundsatz „in dubio pro reo” nicht (BGH NStZ 1993, 393; OLG Stuttgart, B. v. 28.04.2009, 2 Ss 747/08, juris Rn. 16; OLG Köln StV 1989, 520, 521).

Ob ein Zeuge oder ein Beschuldigter in der Lage war, die ihm erteilte Belehrung zu verstehen, richtet sich nach den Grundsätzen, die für die Beurteilung gelten, ob der Erklärende verhandlungsfähig war. Diese Fähigkeit wird in der Regel nur durch schwere körperliche oder seelische Mängel oder Krankheiten ausgeschlossen (BGH NStZ 1993, 393). Dass der Beschuldigte zum Zeitpunkt seiner Vernehmung unter vorläufiger Betreuung stand, ist für die Wahrnehmung seiner prozessualen Rechte als Beschuldigter unerheblich. Nicht der gesetzliche Vertreter, sondern der Beschuldigte ist höchstpersönlich zu belehren (Diemer, aaO, § 136, Rn. 11; Rogall in: SK-StPO, 41. Aufbaulieferung, § 136, Rn 33; Gleß, aaO, § 136, Rn. 32; Meyer-Goßner/Schmitt, § 136, Rn. 8); unabhängig vom Aufgabenbereichs eines vorläufig bestellten Betreuers ist ein Beteiligungsrecht des gesetzlichen Vertreters – wie im Fall des Bestehens eines Aussageverweigerungsrechts eines Zeugen nach § 52 Abs. 2 S. 1 StPO – bei der Ausübung des Schweigerechts durch den Beschuldigten gesetzlich nicht vorgesehen.

Im Hinblick auf die Prüfung eines Verstoßes gegen § 136a StPO ist dabei darauf hinzuweisen, dass ein Verwertungsverbot grundsätzlich unabhängig davon besteht, ob der Beschuldigte die zur Vernehmungsunfähigkeit aufgrund Alkoholkonsums führende Trunkenheit selbst verursacht hat. Insoweit ist allein der objektive Zustand maßgebend (OLG Stuttgart aaO, Rn. 16; OLG Köln aaO, 521). Unerheblich ist ebenfalls, ob die Vernehmungsperson die dadurch bewirkte Beeinträchtigung der Willensfreiheit erkannt hat oder nicht (OLG Köln aaO, 521; Diemer, aaO, § 136a, Rn. 13, 16 mwN).

Vorliegend dürfte für die Feststellung der kognitiven Fähigkeiten des Angeklagten zum Zeitpunkt seiner Belehrung und Vernehmung als Beschuldigter neben der konkret zu berechnenden Blutalkoholkonzentration und seinem Leistungsvermögen einer gegebenenfalls bestehenden Alkoholgewöhnung (bei einer BAK von immerhin 1,96 Promille zum Zeitpunkt der Blutentnahme scheint der Angeklagte nach Darstellung der Zeugenangaben im Ur teil kaum beeinträchtigt gewesen zu sein), einer gegebenenfalls bestehenden psychiatrischen Erkrankung oder einer Wechselwirkung mit eventuell eingenommenen Medikamenten indizielle Bedeutung beizumessen sein; bei einem trinkgewöhnten Angeklagten ließe sich jedenfalls eine Beeinträchtigung der Willensfreiheit nicht allein auf einen Blutalkoholgehalt von zwei Promille stützen (hierzu BGH bei Dallinger MDR 1970, 14). Hierzu wird das Vordergericht – gegebenenfalls sachverständig beraten – weitergehende Feststellungen zu treffen haben.

 

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