LG Magdeburg – Az.: 21 Qs 54/22 – Beschluss vom 08.09.2022
In dem Ermittlungsverfahren wegen Gebrauchs einer in § 74 Abs. 2 IfSG bezeichneten nicht richtigen Dokumentation zur Täuschung im Rechtsverkehr hat die 1. Strafkammer — Beschwerdekammer — des Landgerichts Magdeburg am 8. September 2022 beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde der Beschuldigten wird ihr unter Aufhebung des Beschlusses des Amtsgerichts Halberstadt vom 09.06.2022 (Az. 3 Gs 815 Js 76510/22 (346/22)) Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger bestellt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die der Beschuldigten hierbei entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse zur Last.
Gründe:
Die Staatsanwaltschaft Magdeburg — Zweigstelle Halberstadt – ermittelt gegen die Beschuldigte wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz (im Nachfolgenden: IfSG). Konkret soll die Beschuldigte am 18.02.2022 eine unechte Urkunde in Form eines Impfausweises zur Täuschung im Rechtsverkehr gegenüber der Agentur für Arbeit in Halberstadt gebraucht und damit gegen § 75a IfSG verstoßen haben.
Mit Schriftsatz vom 11.05.2022 hat der Verteidiger seine Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragt und für den Fall seiner Beiordnung erklärt, das Wahlmandat niederzulegen. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass bereits für einen Fachjuristen die Materie so unbekannt und schwierig zu handhaben sei, weswegen mit Sicherheit nicht von einem juristischen Laien erwartet werden könne, dass er die entsprechende fachliche Materie im materiellen Strafrecht beherrsche und sich sachgerecht selbst verteidigen könne.
Mit Beschluss vom 09.06.2022 (Az. 3 Gs 815 Js 76510/22 (346/22)), dem Verteidiger zugestellt gegen Empfangsbekenntnis am 14.06.2022, hat das Amtsgericht Halberstadt den Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, dass die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO nicht vorlägen. Die Rechtslage sei nicht besonders kompliziert. Es gehe lediglich um die Frage, ob das von der Beschuldigten am 18.02.2022 vorgelegte Dokument echt sei oder nicht. Auch gebiete die zu erwartende Rechtsfolge nicht die Beiordnung eines Verteidigers.
Hiergegen wendet sich die Beschuldigte mit durch Schriftsatz des Verteidigers vom 14.06.2022, eingegangen bei Gericht per Fax am gleichen Tag, eingelegter sofortiger Beschwerde, zu deren Begründung der Verteidiger auf die Ausführungen in seinem Schriftsatz vom 10.05.2022 verweist.
Das Amtsgericht Halberstadt hat der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen und die Akten daraufhin an das Landgericht Magdeburg weitergeleitet. Die Staatsanwaltschaft Magdeburg —Zweigstelle Halberstadt hat beantragt, die sofortige Beschwerde aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses als unbegründet zu verwerfen.
Die sofortige Beschwerde ist gemäß §§ 142 Abs. 7 Satz 1, 311 StPO zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt.
Sie ist auch begründet. Das Amtsgericht Halberstadt hat es zu Unrecht abgelehnt, der Beschuldigten Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger zu bestellen, denn es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor. Die Schwierigkeit der Rechtslage gebietet die Beiordnung eines Verteidigers.
Der Begriff der schwierigen Rechtslage ist weit auszulegen, da entscheidend ist, ob die Rechtslage für einen Laien schwierig ist. Dies ist sie zumindest dann, wenn eine Rechtsfrage in Rechtsprechung und Literatur streitig ist oder wenn sie Abgrenzungs- oder Subsumtionsprobleme bereitet, so bei ungeklärten Fragen des materiellen oder formellen Rechts (Thomas/Kämpfer, in: MüKoStP0, 1. Aufl. 2014, § 140 Rn. 42).
Die Rechtslage rund um die neuen Strafvorschriften des IfSG ist nach Ansicht der Kammer nicht einfach. Zum 01.06.2021 wurde das IfSG im Eiltempo um mehrere Strafnormen erweitert (vgl. BGBl. 2021 1 1174 v. 31.5.2021), die im Zuge der Covid-19-Pandemie aus Sorge vor der Aushebelung von Corona-Eindämmungsmaßnahmen Strafbarkeitslücken bei der Fälschung von Impf- und Testnachweisen schließen sollten. Am 24.11.2021 (vgl. BGBI. 2021 14906 v. 23.11.2021) und 19.03.2022 (vgl. BGBI. 2022 1466 v. 18.03.2022) traten Änderungen der entsprechenden Strafvorschriften in Kraft. Gefestigte Rechtsprechung, auch hinsichtlich der auslegungsleitenden Rechtsgüter, gibt es demzufolge noch nicht.
Vorliegend genügt entgegen der Auffassung des Amtsgerichts Halberstadt die bloße Prüfung, ob das von der Beschuldigten bei der Agentur für Arbeit vorgelegte Dokument echt ist oder nicht, gerade nicht.
Zunächst ist zu klären, wer die Strafnormen der §§ 74 ff. IfSG täterschaftlich begehen kann. Bei § 74 Abs. 2 i. V. m. § 73 Abs. 1a Nr. 8, § 22 IfSG handelt es sich um ein Sonderdelikt. Täter kann nur eine berechtigte Person sein, wie schon der Verweis auf § 22 IfSG zeigt, der die zur Durchführung von Schutzimpfungen berechtigte Person zur unverzüglichen Dokumentation verpflichtet (vgl. Gaede/Krüger, NJW 2021, 2159). Gleiches gilt für eine Strafbarkeit nach § 75 a Abs. 3 Nr. 1 IfSG, denn die Norm stellt nur das Gebrauchmachen von solchen falschen Dokumentationen unter Strafe, die durch die strafbare Handlung einer berechtigten Person nach §§ 74 Abs. 2, 73 Abs. 1 a Nr. 8, 22 USC erstellt wurden (vgl. LG Osnabrück, Beschl. v. 26.10.2021 — 3 Qs 38/21, BeckRS 2021, 32733). Im Umkehrschluss bedeutet das, dass unrichtige Dokumentationen oder Bescheinigungen, die „privat“ durch nicht i. S. d. § 22 IfSG berechtigte Personen erstellt worden sind, den in Bezug genommenen §§ 74 Abs. 2 und 75 a Abs. 1 IfSG, und damit letztlich auch § 75 a Abs. 3 USC, nicht unterfallen.
Ferner ist die zeitliche Anwendbarkeit der Vorschriften problematisch. Die Strafnorm des § 74 Abs. 2 IfSG ist zum 01.06.2021 in Kraft getreten und hat mit Änderungsgesetz vom 24.11.2021 seinen aktuellen Wortlaut erhalten. Vor dem 01.06.2021 können tatbestandliche Handlungen gem. Art. 103 Abs. 2 GG nicht erfasst werden. Maßgeblicher Zeitpunkt ist der Zeitpunkt der Unrichtigen Dokumentation, nicht der Zeitpunkt der (vermeintlichen) Impfung, die dokumentiert wird.
Die Vorschrift des § 75a IfSG ist sogar zweimal, am 24.11.2021 und 19.03.2022, seit seiner Einführung geändert worden. Bei § 75a Abs. 3 Nr. 1 WSG ist zu beachten, dass das Delikt den Gebrauch unrichtiger Dokumentationen nach § 74 Abs. 2 IfSG erfasst, die auch vor dem Inkrafttreten dieser Norm erstellt worden sein können (vgl. Gaede/Krüger, NJW 2021, 2159). § 75 a Abs. 3 Nr. 1 IfSG verweist auf das entsprechende Dokument, nicht darauf, dass § 74 Abs. 2 IfSG während der Dokumentation bereits anwendbar gewesen sein müsste. Außerdem ist aufgrund der Änderungen der Strafvorschriften des IfSG unmittelbar vor und nach der Tat darauf zu achten, welche Gesetzesversion zur Tatzeit gegolten hat.
Zudem dürfte die Frage zu klären sein, inwiefern es sich bei dem durch die Beschuldigte verwendeten Impfausweis um ein Gesundheitszeugnis im Sinne des § 277 StGB handelt, in welchem Verhältnis die §§ 277 0 279 StGB zu den Vorschriften des IfSG stehen und inwiefern die Urkundendelikte des StGB eine Sperrwirkung entfalten (zur genannten Problematik s. LG Würzburg Beschl. v. 24.1.2022 — 1 Qs 18/22, BeckRS 2022, 540). Die Vorschriften der §§ 277 ff. StGB wurden mit dem Gesetz zur Änderung des IfSG inhaltlich ebenfalls überarbeitet, sodass auch diesbezüglich eine veränderte gesetzliche Grundlage seit dem 24.11.2021 ohne gefestigte Rechtsprechung und komplizierten Rechtsbegriffen besteht.
Gegen eine einfache Rechtslage spricht außerdem, dass die Legitimation der Strafvorschriften des IfSG von der sich stetig verändernden Pandemielage abhängen, dadurch eine gewisse Dynamik, auch in den Strafvorschriften, enthalten ist, die wiederum durch entsprechende Auslegung kompensiert werden muss.
Aus den genannten Gründen kann von einem Laien nicht erwartet werden, dass er diese Rechtsmaterie überblickt, versteht und in der Lage ist, sich angemessen selbst zu verteidigen.
Die Entscheidung zu den Kosten und Auslagen folgt aus der analogen Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.