Die Unwiderrufbarkeit der StPO-Zustellungsvollmacht in der Praxis
Ein beschuldigter Mann findet sich in der scharfen Realität des Strafrechts wieder. Der Fall, der sich um den Vorwurf der Körperverletzung dreht, hebt eine wichtige rechtliche Frage hervor, nämlich die Unwiderrufbarkeit einer Zustellungsvollmacht im Rahmen der Strafprozessordnung (StPO). Unfähig, eine feste Wohnadresse im Inland vorzuweisen, gab der Beschuldigte eine Zustellungsvollmacht an einen Polizeibeamten, um sämtliche gerichtlichen Mitteilungen, Zustellungen und Ladungen entgegenzunehmen. Später versuchte er, diese Vollmacht einseitig zu widerrufen, was zu einer juristischen Kontroverse und schließlich zu einer gerichtlichen Entscheidung führte.
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Verleihung und Widerruf der Zustellungsvollmacht
Die Ereignisse begannen, als der Beschuldigte ein Formular unterschrieb, in dem er dem Polizeibeamten POM S von der Polizeiinspektion F unwiderruflich Vollmacht erteilte. Später versuchte der Beschuldigte, diese Zustellungsvollmacht mit einem per Fax übermittelten Schreiben zu widerrufen. Dieser einseitige Widerrufsversuch stellt den Kern der juristischen Kontroverse dar.
Der Strafbefehl und die Frage der wirksamen Zustellung
In der Zwischenzeit erließ das Amtsgericht Fürth aufgrund des Vorfalls einen Strafbefehl gegen den Beschuldigten. Die Frage der wirksamen Zustellung wird relevant, als der Strafbefehl in der Polizeiinspektion F übergeben wurde. Die Anbringung des Rechtskraftvermerks und die Einleitung der Vollstreckung durch die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth folgten.
Die rechtlichen Folgen und der Einspruch gegen den Strafbefehl
Die Situation eskalierte, als der Beschuldigte bei der Ausreise am Flughafen Berlin aufgrund eines erlassenen Vollstreckungshaftbefehls kontrolliert und angehalten wurde. Seine Verteidigerin legte beim Amtsgericht Fürth Einspruch gegen den Strafbefehl und einen Wiedereinsetzungsantrag ein. Die Begründung lautete, dass der Beschuldigte von dem gegen ihn erlassenen Strafbefehl keine Kenntnis gehabt habe, da dieser nicht wirksam zugestellt worden sei.
Die gerichtliche Beurteilung und der Beschluss des LG Nürnberg-Fürth
Das LG Nürnberg-Fürth wies die sofortige Beschwerde des Beschuldigten gegen die Entscheidung des Amtsgerichts Fürth zurück. Die Begründung lautete, dass der Strafbefehl wirksam an den Zustellungsbevollmächtigten zugestellt wurde, sodass die Einspruchsfrist ablief und eine Wiedereinsetzung nicht gewährt wurde. Dieses Urteil unterstreicht die Bedeutung der Unwiderrufbarkeit einer StPO-Zustellungsvollmacht und die rechtlichen Konsequenzen, die eine solche Vollmacht mit sich bringen kann.
Das vorliegende Urteil
LG Nürnberg-Fürth – Az.: 12 Qs 38/23 – Beschluss vom 24.05.2023
1. Die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Fürth vom 28. April 2023 wird als unbegründet verworfen.
2. Der Beschuldigte trägt die Kosten der Beschwerde.
Gründe
I.
Der einer Körperverletzung verdächtige Beschuldigte wurde am 1. Februar 2022 von der Polizei zur Sache vernommen. Weil er keine feste Wohnadresse im Inland angeben konnte, ordnete der zuständige Staatsanwalt an, der Beschuldigte solle einen Zustellungsbevollmächtigten benennen. Daraufhin unterschrieb der Beschuldigte ein Formular, in dem er dem Polizeibeamten POM S von der Polizeiinspektion F „unwiderruflich … Vollmacht zum Empfang sämtlicher gerichtlicher Mitteilungen, Zustellungen und Ladungen“ erteilte. Auf dem Formular finden sich oberhalb der Unterschrift des Beschuldigten die von ihm handgeschriebenen, durchgestrichenen Worte „unter Vorbehalt“. Am 2. Februar 2022 ging ein Fax des Beschuldigten bei der Polizeiinspektion F ein. Dieses bestand aus seiner Kopie des Formulars, auf das er – mit seiner Unterschrift versehen – geschrieben hatte: „Hiermit widerrufe ich die Zustellvollmacht“.
Am 1. September 2022 erließ das Amtsgericht Fürth wegen des Vorfalls vom 1. Februar 2022 einen Strafbefehl gegen den Beschuldigten. Dieser wurde vom Postboten am 6. September 2022 in der Polizeiinspektion F übergeben. Nach Anbringung des Rechtskraftvermerks leitete die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth die Vollstreckung ein.
Am 22. Februar 2023 wurde der Beschuldigte am Flughafen Berlin bei der Ausreise kontrolliert und aufgrund des zwischenzeitlich erlassenen Vollstreckungshaftbefehls angehalten. Nach Zahlung der Geldstrafe konnte er seinen Flug antreten. Am 1. März 2023 ging beim Amtsgericht Fürth der Einspruch seiner Verteidigerin gegen den Strafbefehl samt Wiedereinsetzungsantrag ein. Der Beschuldigte habe, so die Begründung, von dem gegen ihn erlassenen Strafbefehl keine Kenntnis gehabt dieser sei nicht wirksam zugestellt worden. Das Amtsgericht Fürth verwarf Einspruch und Wiedereinsetzungsantrag. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Beschuldigten.
II.
Die zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg, weil der Einspruch zu Recht verworfen wurde und Wiedereinsetzung nicht zu gewähren war.
1. Der Strafbefehl wurde am 6. September 2022 wirksam an den Zustellungsbevollmächtigten zugestellt, sodass die Einspruchsfrist zwei Wochen später ablief. Demgemäß hat das Amtsgericht den Einspruch zutreffend als verfristet verworfen.
a) Der Beschuldigte hat – nach entsprechender Anordnung (§ 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 StPO) – POM S wirksam zur Entgegennahme von Zustellungen bevollmächtigt. Unschädlich ist, dass er dabei auf dem Vollmachtformular die Worte „unter Vorbehalt“ angebracht hat. Selbst wenn man der Verteidigung darin folgt, dass diese Bemerkung vom Beschuldigten nicht durchgestrichen, sondern unterstrichen worden sei, entfaltet sie keine Rechtswirkungen, weil Aussage und Gehalt des Vorbehalts unklar blieben und der Vorbehalt angesichts der Unterzeichnung der Vollmacht nach Lage der Dinge ohnehin eine unbeachtliche protestatio facto contraria darstellte.
b) Die Zustellungsvollmacht wurde nicht wirksam widerrufen. Vor Abschluss des Verfahrens kann diese vom Vollmachtgeber nämlich nicht einseitig zum Erlöschen gebracht werden (KG, Beschluss vom 19. September 2011 -1 Ss 361/11, juris Rn. 7; OLG Koblenz, Beschluss vom 1. Juni 2004 – 1 Ss 311/03, NStZ-RR 2004, 373, 375; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18. Juli 1986 – 5 Ss [OWi] 237/86-197/86 I, VRS 71, 369, 370; Claus in SSW-StPO, 5. Aufl., § 37 Rn. 43; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 116a Rn. 6; Lind in LR-StPO, 27. Aufl., § 116a Rn. 29; Graf in KK-StPO, 9. Aufl., § 116a Rn. 9). Der abweichenden Auffassung, die Zustellungsvollmacht bleibe gegenüber dem Gericht (nur) so lange wirksam, bis ihm deren Erlöschen angezeigt worden ist (Graalmann-Scheerer in LR-StPO, 27. Aufl., § 37 Rn. 6), folgt die Kammer nicht. Zwar hat diese Auffassung die Wertung des § 170 BGB für sich, allerdings wird diese dadurch überlagert, dass die Erteilung der Zustellungsvollmacht der Durchführung eines hoheitlichen Verfahrens dient, was leerliefe, wäre die Vollmacht widerruflich.
c) Die Zustellung konnte wirksam in der Dienststelle des Bevollmächtigten ausgeführt werden, denn bei dieser handelt es sich um dessen Geschäftsraum i.S.d. § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO i.V.m. § 37 Abs. 1 StPO (vgl. Graalmann-Scheerer in LR-StPO, 27. Aufl., § 37 Rn. 71; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 37 Rn. 13). Daher konnte ein an ihn gerichtetes Schriftstück bei Nichtantreffen des Bevollmächtigten an eine dort beschäftigte Person übergeben werden. So war das hier, als der Postbote den Strafbefehl an D aushändigte. Zu Unrecht beruft sich die Verteidigung in dem Zusammenhang auf den Beschluss der Kammer vom 23. August 2021 (12 Qs 57/21, juris). Dort scheiterte die Zustellung daran, dass der benannte Bevollmächtigte bei Zugang des Schriftstücks bereits aus dem Polizeidienst ausgeschieden und sein Nachfolger nicht bevollmächtigt war. Hier geht es dagegen lediglich darum, dass der Bevollmächtigte bei Eintreffen des Postboten gerade nicht auf der Wache anwesend war und deshalb eine Ersatzzustellung vorgenommen wurde.
d) Nach allem wahrte der Einspruch vom 1. März 2023 die zweiwöchige Einlegungsfrist (§ 410 Abs. 1 Satz 1 StPO) nicht, sodass er zu verwerfen war (§ 411 Abs. 1 Satz 1 StPO).
2. Zu Recht hat das Amtsgericht dem Beschuldigten keine Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist gewährt, denn er hat die Frist nicht ohne Verschulden versäumt.
a) Dem Angeklagten obliegt nach der Erteilung der Zustellungsvollmacht, selbst dafür zu sorgen, dass der Bevollmächtigte ihn zuverlässig unterrichten kann. Gegebenenfalls muss er sich beim Bevollmächtigten über den etwaigen Eingang von Schriftstücken informieren (Kammer, Beschluss vom 23. August 2021 – 12 Qs 57/21, juris Rn. 10 m.w.N.). Das hat der Beschuldigte unterlassen. Auf fehlendes Verschulden (§ 44 Satz 1 StPO) kann er sich dabei nicht berufen. Am 1. Februar 2022 hat nämlich eine körperliche Auseinandersetzung des Beschuldigten mit dem Zeugen K stattgefunden, die bei letzterem nicht unerhebliche Verletzungen zur Folge hatte. Der Beschuldigte wurde daraufhin von der Polizei als Beschuldigter belehrt und vernommen, wobei er behauptete, selbst angegriffen worden zu sein. Damit war ihm jedenfalls klar, dass ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eröffnet worden ist. In dieser Situation oblag es ihm, sich nach dessen Fortgang zu erkundigen. Er konnte nicht darauf vertrauen, dass seine – auch von der Verteidigerin vorgetragene – Sichtweise, er habe in Notwehr gehandelt und sei deshalb unschuldig, sich im Verfahrensfortgang durchsetzt, weshalb er auch keinen amtlichen Schriftverkehr zu erwarten hätte. Im Gegenteil, Staatsanwaltschaft und Amtsgericht haben den Akteninhalt gegen den Beschuldigten gewertet, weshalb der hier angegriffene Strafbefehl erging.
b) Schuldhaft, weil durch schutzwürdiges Vertrauen nicht gedeckt, meinte der Beschuldigte, es werde deshalb keine Post für ihn beim Bevollmächtigten eingehen, weil er die Zustellungsvollmacht widerrufen habe. Gegen das Vertrauen auf die Wirksamkeit seines Widerrufs spricht allerdings schon, dass er die Vollmacht ausdrücklich unwiderruflich erteilt hat und dies auch aus der ihm mitgegebenen Kopie des Formulars, die er für den Widerruf nutzte, ersichtlich war.
c) Schließlich durfte der Beschuldigte nicht darauf vertrauen, er müsse deshalb mit keiner Zustellung rechnen, weil er die Zustellungsvollmacht „unter Vorbehalt“ unterschrieben habe. Unbeschadet der rechtlichen Unbestimmtheit dessen wurde der Beschuldigte nach dem glaubhaften und unwidersprochen gebliebenen Vermerk der polizeilichen Sachbearbeiterin POM´in B ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein solcher Zusatz „nicht geht“, woraufhin der Beschuldigte ihn selbst durchgestrichen habe. Das ist in sich schlüssig. Demgegenüber ist die Behauptung des Beschuldigten, bei dem Strich handele es sich um eine (bekräftigende) Unterstreichung, schon deshalb unplausibel, weil der Strich die Buchstaben augenscheinlich nicht unter-, sondern durchstreicht.
d) Darauf, dass die Ausführungen der Verteidigerin keinerlei Glaubhaftmachung (§ 45 Abs. 2 Satz 1 StPO) zur Stützung des Wiedereinsetzungsantrags enthielten, kam es nach alldem nicht mehr an.
III.
Die Kostenfolge beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.