Oberlandesgericht Schleswig-Holstein – Az.: 2 OLG 4 Ss 13/21 – Urteil vom 19.03.2021
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird das Urteil des Amtsgerichts Kiel vom 17. November 2020 einschließlich der zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Kiel zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Kiel hat den Angeklagten vom Vorwurf des sexuellen Übergriffs im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB freigesprochen. Hiergegen wenden sich Staatsanwaltschaft und Nebenklägerin mit ihren Revisionen.
Die zugelassene Anklage vom 30. April 2019 legt dem Angeklagten zur Last, er habe am 5. März 2018 gegen 17.30 Uhr die Wohnung der Nebenklägerin aufgesucht. Dort sei es zunächst zum einvernehmlichen Geschlechtsverkehr unter Verwendung eines Kondoms gekommen, nachdem die Nebenklägerin den Angeklagten wie schon in der Vergangenheit auch an diesem Tag ausdrücklich mehrfach darauf hingewiesen gehabt habe, dass sie nur zum Geschlechtsverkehr bereit sei, wenn der Angeklagte ein Kondom benutze. Obwohl der Angeklagte dies gewusst habe, habe er nach dem Beginn des Geschlechtsverkehrs während einer Unterbrechung das Kondom von seinem Penis entfernt, ohne dass die Nebenklägerin dies bemerkt habe. Anschließend habe er den Geschlechtsverkehr – nunmehr ungeschützt – fortgesetzt. Die Nebenklägerin habe erst im Anschluss bemerkt, dass der Angeklagte den Geschlechtsverkehr ungeschützt ausgeführt habe.
Das Amtsgericht hat festgestellt, der Angeklagte habe den ihm vorgeworfenen Sachverhalt in objektiver Hinsicht eingeräumt. In subjektiver Hinsicht habe er sich dahingehend eingelassen, dass er davon ausgegangen sei, die Zeugin habe bemerkt, dass er den Geschlechtsverkehr ohne Kondom fortgesetzt habe und mangels Widerspruchs nunmehr damit einverstanden gewesen sei, zumal sie ihn nach der Unterbrechung durch ihr Verhalten zur Fortsetzung des Geschlechtsverkehrs animiert habe.
Auf dieser Grundlage hat das Amtsgericht den Angeklagten schon aus rechtlichen Gründen freigesprochen, weil der Geschlechtsverkehr einvernehmlich stattgefunden habe.
Maßgeblich abzustellen sei nicht auf das Einvernehmen hinsichtlich des durch Kondom geschützten Geschlechtsverkehrs, sondern hinsichtlich des Geschlechtsverkehrs an sich. Das Einvernehmen müsse sich nach dem Wortlaut des § 177 StGB auf die sexuelle Handlung beziehen, das sei der Geschlechtsverkehr – unabhängig von der Benutzung eines Kondoms. Auch zeige die gesetzliche Überschrift des § 177 StGB, dass es in der Vorschrift um einen Willensbruch gehe, nicht um eine Täuschung des Sexualpartners. Einer anderen Auslegung stehe das strafrechtliche Analogieverbot entgegen.
Hiergegen richten sich die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin, beide halten das dem Angeklagten vorgeworfene Verhalten für strafbar im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB.
II.
Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin sind als Sprungrevisionen jeweils statthaft und zulässig. Sie haben mit der ausgeführten Sachrüge auch Erfolg.
Der Freispruch aus Rechtsgründen hält der Überprüfung durch den Senat nicht stand.
Allerdings reichen die Feststellungen des Amtsgerichts, das zwar den Angeklagten, nicht aber die Nebenklägerin gehört hat, für eine abschließende Prüfung nicht aus. Die Sache war deshalb zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen.
Ob das „Stealthing“ – also das heimliche Abziehen des Kondoms während des Geschlechtsverkehrs – nach § 177 Abs. 1 StGB strafbar ist, ist nach dessen Neuregelung in Rechtsprechung und Wissenschaft unterschiedlich betrachtet worden. Die Vorschrift wurde umfassend durch das 50. StÄG v. 4. November 2016 (BGBl. I, 2460) modifiziert, mit welchem der sogenannte „Nein-heißt-nein“-Ansatz implementiert wurde. Jegliche sexuellen Handlungen im Sinne des § 184h StGB gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sollen nun strafbar sein, unabhängig davon, ob diese hierzu genötigt wird; zur Strafbarkeit bedarf es nicht mehr zwingend eines Nötigungselementes in Form von Gewalt, Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben oder der Ausnutzung einer schutzlosen Lage. Dem Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung soll damit umfassend Rechnung getragen werden (Lederer in: Leipold/Tsambikakis/Zöller, Anwaltkommentar StGB, 3. Aufl. 2020, § 177 Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung Rn.1).
Somit ist mit der Reform des Sexualstrafrechts der Wille des Opfers in das Zentrum des Tatbestands gerückt, gleichwohl bleiben die Begriffe „sexuelle Handlung“ und Handeln gegen den „erkennbaren Willen“ im Rahmen der konkreten Rechtsanwendung auslegungsbedürftig.
Obergerichtlich hat bisher allein das Kammergericht Berlin (Urteil vom 27. Juli 2020 – (4) 161 Ss 48/20 (58/20)) im Grundsatz eine Strafbarkeit angenommen, wenn auch entschieden allein für den – hier bisher nicht festgestellten – Fall, dass es auch zu einer Ejakulation gekommen ist. In der Literatur wird eine Strafbarkeit aus Schutzzweckerwägungen zum Teil angenommen (etwa Herzog, FS Fischer (2018), 351 ff; Hoffmann, NStZ 2019, 16 f.; Linoh, juris PR-StrafR 2019, Anm. 5 unter C 1; jetzt auch Fischer, 68. Aufl., Rn. 2 c zu § 177 StGB; Hoven, NStZ 2020, 578, 581 und Makepeace, KriPoZ 2021, 10 ff.). Soweit „Stealthing“ für straffrei gehalten wird, wird – wenn auch im Einzelnen mit unterschiedlicher Begründung – wegen des manipulativen Verhaltens des Täters überwiegend eine hinreichende Bildung eines vor dem Recht beachtlichen Gegenwillens des Opfers in Zweifel gezogen. Es handele sich um ein durch den Täter erschlichenes Einverständnis, dem ein generelles oder bedingtes – durch das Opfer zuvor erklärtes – Einverständnis aufgrund dessen aktueller Willensbetätigung nicht entgegen gehalten werden könne; mangels Verfügungscharakters des Opferverhaltens sei das fehlende Bewusstsein über das entfernte Kondom unbeachtlich, denn es gehe allein um den tatsächlich vorhandenen aktuellen Willen (so etwa Franzke, BRJ 2019, 114 ff.; El-Ghazi, ZIS 2017, 157 ff.; Schumann/Schefer, FS Kindhäuser, 811 ff.).
Der Senat folgt diesen Stimmen nicht, sondern geht – in Fortführung der Rechtsprechung des Kammergerichts – zumindest für den vorliegend angeklagten Fall von einer grundsätzlichen Strafbarkeit des „Stealthing“ gemäß § 177 Abs. 1 StGB aus.
Das Einverständnis eines möglichen Tatopfers bezieht sich auf konkrete und von seinem unveränderten Willen getragene sexuelle Handlungen (1.). Mit der konkreten Handlung – also dem Geschlechtsverkehr ohne Kondom – war die Nebenklägerin nicht einverstanden, was die Strafbarkeit nach § 177 Abs. 1 StGB begründet (2.).
1. Entgegen dem Ansatzpunkt des Amtsgerichts bestimmt sich zunächst die sexuelle Handlung im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB nicht abstrakt oder in Kategorien (etwa Vaginalverkehr, Analverkehr, Oralverkehr). Vielmehr bezieht sich § 177 Abs. 1 StGB auf die konkret vorgenommene Handlung. Diese Handlung stellt eine sexuelle Handlung dar, wenn sie objektiv, also allein gemessen an ihrem äußeren Erscheinungsbild, einen eindeutigen Sexualbezug aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 15. Juli 2020 – 6 StR 7/20 –, Rn. 10). Nach § 184h Nr. 1 StGB muss die sexuelle Handlung außerdem von einiger Erheblichkeit sein. Dass es sich bei der mit der Anklageschrift vorgeworfenen Handlung um eine sexuelle Handlung in diesem Sinne gehandelt hat, steht außer Frage.
Auch – und dies überzeugt in der Argumentation des Amtsgerichts deshalb schon im Ansatz nicht – kann sich das Einvernehmen des Sexualpartners konkret sehr wohl nur auf bestimmte sexuelle Handlungen beziehen, während gleichzeitig anderen sexuellen Handlungen ein erkennbarer Wille entgegenstehen kann(Lederer a.a.O. Rn.10f). In der Möglichkeit der freien Willensbildung im Rahmen der sexuellen Selbstbestimmung liegt nämlich das Schutzgut des § 177 StGB. Dies folgt auch aus Artikel 36 des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, mit welchem die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sich verpflichtet haben, sexuelle Handlungen ohne Einverständnis unter Strafe zu stellen, wobei nach Artikel 36 Absatz 2 des Übereinkommens das Einverständnis „freiwillig als Ergebnis des freien Willens der Person, der im Zusammenhang der jeweiligen Begleitumstände beurteilt wird, erteilt werden“ muss.
Gemessen hieran hat der Angeklagte unter Zugrundelegung des Anklagevorwurfs nach der Unterbrechung des Geschlechtsverkehrs mit dem erneuten Eindringen ohne Kondom nicht den vorherigen einvernehmlichen Geschlechtsverkehr bloß fortgesetzt, sondern im Rahmen eines einheitlichen Tatgeschehens eine andere sexuelle Handlung an der Nebenklägerin vorgenommen, die von ihr innerlich abgelehnt worden war und deren erklärter und unveränderter Widerwille – sollte sich der Anklagevorwurf bestätigen – für ihn erkennbar war. Anders als das Amtsgericht meint, hat nämlich Geschlechtsverkehr ohne Kondom gegenüber Geschlechtsverkehr mit Kondom eine eigene und andere Qualität. Dies wird schon daran deutlich, dass zum einen mit dem Fortfall des Kondoms auch eine weitere Barriere gegenüber Intimität entfällt und zum anderen das Risiko der Infektion mit einer übertragbaren Krankheit (insbesondere mit dem HI-Virus) oder einer ungewollten Schwangerschaft vergrößert wird (Herzog FS Fischer (2018), 351, 354; KG Berlin, Urteil vom 27. Juli 2020 – (4) 161 Ss 48/20 (58/20) -, bei juris Rn. 25 ff für den Fall – jedenfalls – einer Ejakulation). Nicht ohne Grund wird geschützter Geschlechtsverkehr mit Kondom in der Öffentlichkeit als „Safer Sex“ beworben. Insbesondere durch die Aufklärungskampagnen der 1980er Jahre im Zusammenhang mit zunehmenden und tödlich verlaufenden AIDS-Erkrankungen hat sich in der Gesellschaft ein breites und dies befürwortendes Bewusstsein für die Verwendung von Kondomen – gerade bei Sexualkontakten außerhalb einer Partnerschaft – gebildet. Die Möglichkeit, Risiken für sich selbst und den Sexualpartner zu minimieren, hat die sexuelle Selbstbestimmung in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich mitgeprägt.
2. Von einer Vornahme dieser sexuellen Handlung im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB gegen den erkennbaren Willen der Nebenklägerin ist jedenfalls auf der Grundlage des Anklagevorwurfs auszugehen.
Ein derart erkennbarer Wille ist danach aufgrund des engen raum-zeitlichen Zusammenhangs zwischen der Äußerung der Nebenklägerin, zum Geschlechtsverkehr nur bei Verwendung eines Kondoms bereit zu sein, und dem tatsächlich ohne Kondom ausgeübten Geschlechtsverkehr anzunehmen (a). Dem steht nicht entgegen, dass beim sexuellen Übergriff nach § 177 Abs. 1 StGB auf den natürlichen Willen abzustellen ist, bei dem Willensmängel regelmäßig keine Rolle spielen (b). Unterläuft nämlich der Täter durch Manipulation des Sachverhalts den schon gebildeten und ihm gegenüber artikulierten Willen des Opfers, ohne dass Anhaltspunkte für eine Willensänderung bestehen, kommt es allein auf die vor Beginn des Geschlechtsverkehrs geäußerte Ablehnung ungeschützten Geschlechtsverkehrs an (c). Ob es hierbei zum Samenerguss gekommen ist, ist unerheblich (d). Was das Vorstellungsbild des Angeklagten und die subjektive Tatseite anbelangt, kann der Senat allerdings beides auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen nicht überprüfen (e).
a)Ausgehend von dem Anklagevorwurf ist – wie ausgeführt – davon auszugehen, dass die Nebenklägerin sehr zeitnah vor dem Geschlechtsverkehr gegenüber dem Angeklagten zum Ausdruck gebracht hat, dass sie mit dem Geschlechtsverkehr im Sinne einer conditio sine qua non nur bei Benutzung eines Kondoms einverstanden war. Dies ist eine hinreichende Willensbekundung, die grundsätzlich jede Zuwiderhandlung als Verstoß gegen § 177 Abs. 1 StGB erscheinen lässt, weil mit dieser die „Nein-heißt-nein“-Konzeption des Gesetzgebers vereitelt würde.
Der Senat übersieht hierbei nicht, dass der Geschlechtsverkehr zwischen zwei Menschen ein durchaus dynamisches Geschehen sein kann und sich das Erleben und Wollen der Beteiligten auf der Zeitachse entwickeln und verändern kann. Allerdings besteht bei engem raum-zeitlichen Zusammenhang zwischen der Willensbekundung und dem sich hieran anschließenden Geschlechtsverkehr zumindest eine tatsächliche Vermutung dahingehend, dass geäußerter und später noch vorhandener innerer Willen identisch sind und – sofern keine anderweitigen Anhaltspunkte vorliegen – nicht auseinander fallen. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass in einer derartigen Situation „keine ständige weitere Kommunikation und Vergewisserung stattfinden“ muss, sondern man sich auf „die Gültigkeit der anfänglichen Verständigung“ auch im weiteren Verlauf des Geschehens verlassen können muss (Herzog, FS Fischer (2018), 351, 356; KG a.a.O.; Hoffmann NStZ 2019, 16, 17). Eine Aufspaltung in kleinere Teilakte mutet nicht nur künstlich an, sondern führt – wie sogleich noch zu zeigen sein wird – zu Ergebnissen, die am Schutzzweck der Verbotsnorm vorbeiführen.
b)Der Senat sieht dabei, dass sich § 177 Abs. 1 StGB auch nach seiner Neukonzeption nicht auf einen rechtsgeschäftlichen, sondern nur auf den natürlichen Willen der in ihrer sexuellen Selbstbestimmung geschützten Person bezieht. Willensmängel spielen für die Beachtlichkeit eines derartigen Willens grundsätzlich keine Rolle; anders wäre zudem die Regelung von § 177 Abs. 2 StGB nicht zu erklären, die gerade – wenn auch selektiv – Situationen thematisiert, in denen die geschützte Person einen natürlichen Willen nicht oder nur schwer bilden kann (vgl. BT-Drs. 18/9097, S. 23; Heger in Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, 29. Auflage 2018, § 177 StGB, Rn. 5).
Und auch bei ähnlich konstruierten Delikten wird auf der Ebene des tatbestandsausschließenden Einverständnisses dessen Erlangung durch Täuschung nur ausnahmsweise für bedeutsam gehalten. Beispiele sind etwa das Einverständnis des Geldinstituts mit dem Gewahrsamsübergang am Geldautomaten nur bei ordnungsgemäßer Bedienung (vgl. BGH, Beschluss vom 21. März 2019 – 3 StR 333/18 –, Rn. 16–18) oder die Strafbarkeit des Hausfriedensbruchs bei Identitätstäuschung (Sternberg-Lieben/Schittenhelm in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Auflage 2019, § 123 StGB, Rn. 22). Der Grund für diese Ausnahmen besteht in den Besonderheiten dieser Situationen, in denen anderenfalls der gewünschte Rechtsgüterschutz erschwert würde.
An eine vergleichbare Situation könnte auch beim „Stealthing“ gedacht werden, weil und soweit das Opfer zwar nicht wie beim Hausfriedensbruch durch Abwesenheit, wohl aber durch eine vom Täter verursachte Täuschung an der Bildung und Kundgabe eines aktuellen und möglicherweise andersartigen natürlichen Willens gehindert wird. Insoweit wäre auch der vorsätzlich handelnde Täter weder schutzbedürftig noch schutzwürdig. Ob und in welchen Fällen einer solchen Argumentation tatsächlich zu folgen wäre (hierfür jetzt tendenziell Fischer, 68. Aufl., Rn. 2 c zu § 177 StGB), kann offenbleiben. Denn zumindest der hier zu entscheidende Sachverhalt betrifft schon nicht eine Konstellation, in welcher der Täter durch Einwirkung auf das Vorstellungsvermögen des Opfers – also durch Täuschung – eine Fehlvorstellung des Opfers verursacht hätte.
Die Fehlvorstellung der Nebenklägerin ist dem Anklagevorwurf zufolge vielmehr allein dadurch entstanden, dass der Angeklagte bei deren gleichbleibender Vorstellung ohne ihr Wissen den Sachverhalt verändert hat. In der Manipulation der für die Nebenklägerin wesentlichen Umstände, mithin einem rein faktischen Handeln durch Abstreifen des Kondoms, liegt keine Täuschung, denn aufgrund der Heimlichkeit mangelt es gerade an einer Einwirkung auf ihr Vorstellungsbild, weshalb ein hierauf beruhender, einen beachtlichen Willensmangel begründender Irrtum bei der Geschädigten nicht entstehen konnte. Mit der faktischen Handlung des Angeklagten wäre auch eine (konkludente) Erklärung, er setze gerade den Geschlechtsverkehr weiter geschützt fort, nicht verbunden. Eine solche Annahme ist im Rahmen eines intimen Verkehrs lebensfremd, und ebenso, wie die Nebenklägerin – wie bereits erwähnt – ihren Willen nicht fortlaufend kundgeben musste, hatte auch das Verhalten des Angeklagten keinen solchen andauernden Erklärungsgehalt.
In der Manipulation des Sachverhaltes läge somit die Rechtsgutverletzung bei der Nebenklägerin durch die darin zum Ausdruck kommende gewollte Missachtung ihres frei von Willensmängeln gebildeten, artikulierten und auch mit dem Angeklagten ausgeübten Willens und ist daher grundsätzlich geeignet, unter § 177 Abs. 1 StGB subsumiert zu werden (so und im Ergebnis auch gegen die Annahme einer Täuschung Makepeace, KriPoZ 2021, 10 f, 13).
c)Soweit dieser Betrachtungsweise entgegengehalten würde, der ursprüngliche, vor der erneuten Penetration ohne Kondom gebildete Wille der Nebenklägerin sei durch einen jüngeren natürlichen Willen abgelöst worden, weil die Nebenklägerin – in Unkenntnis der wahren Sachlage – gleichwohl in den konkreten Geschlechtsverkehr eingewilligt habe, überzeugt dies den Senat aus mehreren Gründen nicht.
So trifft es zwar zu, dass angesichts der Dynamik des Geschehens eine Willensbildung sich geändert und jedenfalls ein Angeklagter dies auch angenommen haben könnte. Allerdings spricht nach dem Anklagevorwurf in diesem Verfahren mangels anderweitiger Feststellungen hierfür bisher nichts; so könnte es allenfalls liegen, wenn das Fehlen eines Kondoms für die Nebenklägerin eindeutig erkennbar gewesen wäre.
Insbesondere überzeugt es nicht, wenn ein – angenommener – jüngerer natürlicher Wille ohne Weiteres gegen einen älteren, aber bereits kommunizierten Willen gewendet würde. Zum einen würde auf diese Weise ein einheitliches Geschehen in unnatürlicher Weise in Teilakte aufgespalten, was einer vorliegend tateinheitlich zu beurteilenden Bewertung des Unrechtsvorwurfs zuwiderläuft. So wie das Opfer nicht immer wieder neu seinen Gegenwillen bekunden muss (ebenso Herzog a.a.O; anders aber Schumann/Schefer, FS Kindhäuser (2019), 811, 821), ist für die Rechtsgutverletzung auch nicht erforderlich, dass das Opfer den Übergriff immer wieder neu bemerkt. Zum anderen kann jedenfalls aus Sicht des Täters – aber auch jedes anderen objektiven Dritten – nicht auf die Ablösung des bereits geäußerten Willens durch einen neu gebildeten Willen geschlossen werden, wenn evident ist, dass für das Opfer gerade dieser bereits geäußerte Wille noch aktuell ist (ebenso Herzog a.a.O., 357). Dies ist keineswegs nur eine Frage der „innerlichen“ Einstellung des Opfers (so aber Schumann/Schefer a.a.O., 819), sondern auch der Kundgabe des bereits erklärten Widerwillens.
Mag auch bei einem Geschlechtsverkehr häufig von einem dynamischen Geschehen auszugehen sein, so setzt eine Dynamisierung auch der Willensbildung doch Möglichkeit und Anlass zur Dynamisierung voraus; schon hieran dürfte es aus Sicht der Nebenklägerin gerade gefehlt haben und nichts spricht dafür, dass der Angeklagte einen anderen Eindruck gewonnen haben könnte. Ungeachtet der Frage von Täuschungen fehlt es in einer solchen Situation gerade aus Sicht des Angeklagten und auch eines objektiven Dritten schlicht an einem entsprechenden, den früher geäußerten Willen derogierenden Erklärungsinhalt. Und keinesfalls fallen in einer solchen Situation Wille und Erklärung auseinander, so dass es auch auf die Frage eines Willensmangels nicht ankommt.
Zu einem anderen Ergebnis kann es auch nicht führen, dass man den für § 177 Abs. 1 StGB maßgeblichen natürlichen Wille weniger weit reichen lässt als den von der Nebenklägerin bereits zuvor geäußerten Willen. Für eine derartige Reduktion besteht weder Anlass noch Grund. Soll der Schutzzweck des § 177 Abs. 1 StGB ernst genommen werden, muss nämlich stets entscheidend sein, dass kein Einverständnis mit der konkreten sexuellen Handlung besteht (BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2018 – 1 StR 546/18 – bei juris, Rn. 7). Diese war aber gerade der Geschlechtsverkehr ohne Kondom und nicht nur der Geschlechtsverkehr selbst.
Hätte also der Angeklagte das Entfernen des Kondoms bewusst vor der Nebenklägerin verheimlicht, um dann von dieser unbemerkt den Geschlechtsverkehr ungeschützt fortsetzen zu können, wäre der – weiterhin – entgegenstehende Wille für ihn auch im Sinne von § 177 Abs. 1 StGB erkennbar gewesen. Denn ihm wäre dann klar gewesen, dass die Nebenklägerin keinen Anlass gehabt hätte, ihren bisherigen Willen zu überdenken; aus der freiwilligen Fortsetzung des Geschlechtsverkehrs hätte er dann jedenfalls keine Schlüsse auf ein Einverständnis ziehen können (ebenso auch Hoven, NStZ 2020, 578, 581; anders im Ergebnis noch Schumann/Schefer, Festschrift für Kindhäuser (2019), 811, 820–822).
d) Hinsichtlich der dargelegten Ausführungen weiß sich der Senat in Übereinstimmung mit den Grundpositionen der schon erwähnten Entscheidung des Kammergerichts und einer Entscheidung des AG Freiburg (Urteil vom 22. Juli 2020 – 25 Ds 230 Js 23725/18 -, bei juris).
Anders als es das Kammergericht einschränkend entschieden hat (KG Berlin Urteil vom 27. Juli 2020 – (4) 161 Ss 48/20 (58/20) -, bei juris Rn. 25 ff.), kommt es für den Senat allerdings nicht darauf an, ob es tatsächlich nicht nur zum Geschlechtsverkehr ohne Kondom, sondern – wie in dem vom Kammergericht entschiedenen Fall – auch zur Ejakulation gekommen ist. Dass es zu dieser vorliegend gekommen wäre, ist bisher nicht festgestellt worden. Allerdings ist dies auch rechtlich irrelevant. Denn mag eine Ejakulation auch das Risikopotential für das Opfer noch vergrößern und den Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung noch intensivieren, ist doch die strafbare sexuelle Handlung bereits das Eindringen in das Opfer ohne Kondom selbst. Allein das Abstellen auf die Ejakulation als die von dem Einverständnis nicht mehr getragene sexuelle Handlung erscheint auch deshalb zweifelhaft, weil es sich hierbei vor allem um eine biologisch begründete, konkret nicht mehr gewillkürte Körperreaktion handelt.
Für eine Divergenzvorlage im Sinne des § 121 Abs. 2 GVG an den Bundesgerichtshof bestand allerdings keine Veranlassung, da die Behandlung der vom Senat zu entscheidenden Konstellation vom Kammergericht offengelassen worden ist.
e) Das Amtsgericht hat bisher nicht festgestellt, ob die Nebenklägerin das Entfernen des Kondoms bemerkt hat – so die Einlassung des Angeklagten – oder nicht – wie die Anklage annimmt –. Daher kann der Senat nicht abschließend prüfen, ob eine Verurteilung erfolgen muss oder der Freispruch im Ergebnis zu Recht erfolgt ist. Das Amtsgericht wird nach Zurückverweisung an eine andere Abteilung daher Feststellungen zum Tatgeschehen und besonders zum Vorstellungsbild der Nebenklägerin und des Angeklagten zu treffen haben.