Skip to content

Urteilsfeststellungen zur Erledigung einer Vorstrafe – Nachholung Gesamtstrafenbildung

Freiheitsstrafe wegen räuberischer Erpressung und Körperverletzung

Das Amtsgericht Neuruppin verurteilte einen Angeklagten wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung und gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten. Aufgrund von Verfahrensverzögerungen wurden zwei Monate der Strafe als bereits verbüßt angesehen. Die Berufung des Angeklagten wurde vom Landgericht Neuruppin abgewiesen.

Die Tat

Der Angeklagte hatte im Oktober 2015 gemeinsam mit zwei anderen Personen das Opfer bedrängt und Tabak gefordert. Um der Forderung Nachdruck zu verleihen, wurde dem Opfer auf den Fuß getreten, was eine schmerzhafte Verletzung verursachte. Das Opfer konnte infolgedessen zwei Wochen lang nicht an Arbeitsmaßnahmen im Vollzug teilnehmen.

Vorstrafen des Angeklagten

Das Landgericht stellte mehrere Vorstrafen des Angeklagten fest, unter anderem wegen Diebstahls, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, Körperverletzung und Beleidigung. Eine Gesamtstrafenbildung mit den Strafen aus diesen Vorverurteilungen wurde jedoch nicht vorgenommen, da der derzeitige Vollstreckungsstand nicht aufklärbar war.

Revision des Angeklagten

Der Angeklagte legte Revision gegen das Urteil ein und rügte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Er argumentierte, dass die Kompensation von zwei Monaten für die Verfahrensverzögerung unzureichend sei und die Strafzumessung seine familiäre Situation nicht hinreichend berücksichtige. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragte jedoch, die Revision als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.


Urteil im Volltext

Oberlandesgericht Brandenburg – Az.: 1 OLG 53 Ss 17/22 – Beschluss vom 14.04.2022

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 4. Strafkammer des Landgerichts Neuruppin vom 25. November 2021 insoweit aufgehoben, als die Kammer keine Entscheidung über die Bildung einer Gesamtstrafe getroffen hat.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Landgericht Neuruppin zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision des Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil wird als offensichtlich unbegründet verworfen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Neuruppin erkannte mit Urteil vom 22. April 2021 wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung auf eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten gegen den Angeklagten. Aufgrund rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen zwischen Anklageerhebung und Eröffnungsbeschluss ließ das Amtsgericht zwei Monate dieser Freiheitsstrafe als bereits vollstreckt gelten.

Die hiergegen gerichtete Berufung des Angeklagten verwarf das Landgericht Neuruppin mit Urteil vom 25. November 2021 als unbegründet.

Den Feststellungen des Landgerichts zufolge hatte der Angeklagte am 23. Oktober 2015 in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg-Nord, Teilanstalt Neuruppin-Wulkow, wo er die einjährige Strafe aus dem Urteil des Landgerichts Potsdam vom 30. Januar 2013 (Az.: 26 Ns 127/13) verbüßte, auf die wegen gefährlicher Körperverletzung gegen ihn erkannt worden war, gemeinsam mit den gesondert Verfolgten „A“ und „B“ auf der Grundlage spontan gemeinsam gefassten Tatplans den Geschädigten S. mit dem Rücken gegen eine Wand gedrückt und eine Lieferung Tabak von ihm gefordert. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, habe „A“ dem Absatz seines Arbeitsschuhs kräftig auf den mit einem Turnschuh bekleideten Fuß des Geschädigten getreten und hin- und hergedreht, verbunden mit den Worten, wenn S. der Forderung nicht nachkäme, werde es nächstes Mal noch schlimmer. „A“ habe dem Geschädigten Schläge angedroht. Der Geschädigte habe durch den Tritt eine schmerzhafte Verletzung an der Großzehe erlitten und habe für zwei Wochen nicht an der Arbeitsmaßnahme im Vollzug teilnehmen können.

Zu den Vorstrafen des Angeklagten traf das Landgericht unter anderem folgende Feststellungen:

„9. Am 18. August 2017, rechtskräftig seit dem 26. August 2017, verurteilte das Amtsgericht Potsdam, Az. 80 Ds 60/17, den Angeklagten wegen Diebstahls, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung sowie Hausfriedensbruchs zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Ein Bewährungshelfer wurde bestellt. Der Verurteilung lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde:

„[…] Am 14. September 2016 gegen 23:30 Uhr „wurde der Angeklagte, stark alkoholisiert (1,85 Promille), zur Vermeidung der Begehung von weiteren Straftaten in Polizeigewahrsam gebracht. Auf der Fahrt in den Gewahrsam hat er sich gewehrt, indem er sich im Fahrzeug abschnallte, mit den Füßen um sich trat und mit seinem Kopf gezielt in Richtung des Kopfes des Polizeibeamten G. stieß. Den Polizeibeamten traf er jedoch nicht. […]“

10. Am 02. Oktober 2017, rechtskräftig seit dem gleichen Tag in Verbindung mit dem Urteil des Amtsgerichts Potsdam vom 08. Dezember 2015, Az. 73 Ds 4136 Js 28030/14 (113/14), verurteilte ihn das Landgericht Potsdam, Az. 27 Ns 10/17, wegen im Zustand verminderter Schuldfähigkeit begangener Körperverletzung in Tatmehrheit mit tateinheitlich begangener Beleidigung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Potsdam zu Ziffer 9) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten, deren Vollstreckung zunächst zur Bewährung bis zum 01. Oktober 2020 ausgesetzt wurde. Die Bewährungszeit wurde um ein Jahr verlängert. Die Strafaussetzung wurde widerrufen.

11. Am 03. April 2018, rechtskräftig seit dem gleichen Tag, verurteilte das Amtsgericht Potsdam, Az. 84 Ds 271/17, den Angeklagten wegen Sachbeschädigung in Tatmehrheit mit  versuchter Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zunächst zur Bewährung ausgesetzt worden war.

12. Am 30. Juni 2020, rechtskräftig seit dem 03. November 2020, verurteilte das Landgericht Potsdam, Az. 29 Ns 11/20, den Angeklagten wegen Beleidigung und tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in zwei Fällen, in beiden Fällen in Tateinheit mit versuchter vorsätzlicher Körperverletzung, unter Einbeziehung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Potsdam zu Ziffer 11) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer gesonderten Freiheitsstrafe von acht Monaten. Seit dem 16. Dezember 2020 verbüßt der Angeklagte die Freiheitsstrafen aus dieser Verurteilung.“

Von einer Gesamtstrafenbildung mit den Strafen aus diesen Vorverurteilungen sah die Kammer ausdrücklich ab mit der Begründung, der derzeitige Vollstreckungsstand sei nicht aufklärbar gewesen, zumal die Strafen teils in andere Urteile einbezogen worden seien. Die Vollstreckungsakten hätten nicht mehr rechtzeitig zum Hauptverhandlungstermin beigezogen werden können.

Gegen dieses Urteil richtet sich die am 29. November 2021 bei Gericht angebrachte Revision des Angeklagten, die nach am 22. Dezember 2021 erfolgter Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe an seinen Verteidiger am Montag, dem 24. Januar 2022 begründet worden ist.

Der Angeklagte rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Er macht mit näheren Ausführungen geltend, eine Kompensation von zwei Monaten für die eingetretene Verfahrensverzögerung sei unzureichend. Das Verfahren bedeute für ihn insbesondere angesichts der schweren Erkrankungen seiner Lebensgefährtin und seines jüngsten Kindes seit mehr als sechs Jahren eine erhebliche Belastung. Die Kammer habe rechtsfehlerhaft den untätig verstrichenen Zeitraum von annähernd viereinhalb Jahren nicht ausdrücklich festgestellt, die Verfahrensdauer von sechs Jahren nicht ausdrücklich benannt und die von ihm erlittenen Belastungen nicht konkretisiert. Zudem sei die Strafzumessung rechtsfehlerhaft, weil sie die überlange Verfahrensdauer, seinen untergeordneten Tatbeitrag und seine familiäre Situation nicht hinreichend berücksichtigt habe.

Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg beantragt mit ihrer Stellungnahme vom 15. Februar 2022, die Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet zu verwerfen. Der Angeklagte hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.

II.

1. Die Revision ist gemäß § 341, 344, 345 StPO form- und fristgerecht bei Gericht angebracht und begründet worden, sonach zulässig.

2. In der Sache hat sie den aus dem Tenor ersichtlichen Teilerfolg.

a) Das Urteil erweist sich insoweit als rechtsfehlerhaft, als das Landgericht mit nicht tragfähiger Begründung von der Bildung einer Gesamtstrafe mit den zu den Ziffern 9) bis 12) genannten Vorstrafen abgesehen hat. Die diesen Vorstrafen zugrunde liegenden tatgerichtlichen Urteile datieren sämtlich aus der Zeit nach dem Tattag des hiesigen Verfahrens, dem 23. Oktober 2015, sodass gemäß § 55 Abs. 1 S. 1 StGB die Bildung einer Gesamtstrafe möglich war, wenn u.a. die zuvor erkannten Strafen nicht bereits vollständig vollstreckt, verjährt oder erlassen waren. Dies aufzuklären, hat das Landgericht rechtsfehlerhaft unterlassen. Zu der Frage, ob die frühere Strafe erledigt und deshalb nicht mehr gesamtstrafenfähig ist, bedarf es  ausdrücklicher  Feststellungen  in  den  Urteilsgründen  (BGH, Beschluss vom 08. Juni 2011, 4 StR 249/11, Rz. 3, Juris; BGH wistra 1995, 307). Daran fehlt es hier. Ebenso wenig teilen die Urteilsgründe mit, wann die den genannten Urteilen zugrunde liegenden Straftaten begangen worden sind. Der Senat kann deshalb nicht überprüfen, ob das angefochtene Urteil und die Strafen zu den Ziffern 9) bis 12) der festgestellten Vorstrafen untereinander gesamtstrafenfähig sind bzw., ob den Urteilen Zäsurwirkung zukommt. Dieser Rechtsfehler kann sich zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt haben, er führt deshalb im Umfang der Tenorierung zur Aufhebung.

Die Möglichkeit des § 354 Abs. 1 b) S. 1 StPO, die Entscheidung über den Gesamtstrafenausspruch dem Nachverfahren gemäß §§ 460, 462 StPO zuzuweisen, besteht nicht, weil sowohl die den Vorverurteilungen zugrunde liegenden Tatzeitpunkte als auch der jeweilige Vollstreckungsstand aufklärungsbedürftig sind. Da infolge unzureichender Sachaufklärung nicht sicher ist, ob und in welcher Weise die Gesamtstrafenbildung möglich ist, kommt eine Verweisung in das Beschlussverfahren nach §§ 460, 462 StPO nicht in Betracht (vgl. OLG Schleswig SchlHA 2012, 299).

b) Im Übrigen ist die Revision offensichtlich unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

3. Für das neue Berufungsverfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

Eine unter Verletzung von § 55 StGB unterbliebene Gesamtstrafenbildung ist auch dann nachzuholen, wenn die früher verhängte Strafe inzwischen erledigt ist (BGHSt 43, 195, 212; NStZ 1998, 353; 2001, 645; BayObLG NStZ-RR 2001, 331; Rissing-van Saan/Scholze, Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Auflage, zu § 55, Rz. 25; Fischer, StGB, 69. Auflage, zu § 55, Rz. 6 b). Dabei wird gegebenenfalls die Zäsurwirkung einer Vorverurteilung zu beachten sein (vgl. hierzu Fischer a. a. O., Rz. 9, 11 m. w. N.). Sind die früheren Strafen oder ein Teil ihrer bereits erledigt  und  deshalb nicht mehr in die Gesamtstrafe einzubeziehen, sind nach dem Prinzip des § 55 StGB die sich durch die getrennte Aburteilung ergebenden Nachteile bei der Strafzumessung auszugleichen (sog. Härteausgleich, vgl. hierzu BGH NStZ-RR 2008, 370; 2009, 43; NStZ 1990, 436; Rissing-van Saan/Scholze, a. a. O., Rz. 27 m. w. N.; Fischer, a. a. O., Rz. 21 ff.). Auch eine möglicherweise zu treffende Entscheidung über einen Härteausgleich fällt nicht in die Regelung des § 354 Abs. 1 b) StPO.

 

Hinweis: Informationen in unserem Internetangebot dienen lediglich Informationszwecken. Sie stellen keine Rechtsberatung dar und können eine individuelle rechtliche Beratung auch nicht ersetzen, welche die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles berücksichtigt. Ebenso kann sich die aktuelle Rechtslage durch aktuelle Urteile und Gesetze zwischenzeitlich geändert haben. Benötigen Sie eine rechtssichere Auskunft oder eine persönliche Rechtsberatung, kontaktieren Sie uns bitte.

Unsere Hilfe im Strafrecht

Wir sind Ihr Ansprechpartner in Sachen Strafrecht und Verkehrsstrafrecht. Nehmen Sie noch heute Kontakt zu uns auf.

Rechtsanwälte Kotz - Kreuztal

Rechtstipps aus dem Strafrecht

Unsere Kontaktinformationen

Rechtsanwälte Kotz GbR

Siegener Str. 104 – 106
D-57223 Kreuztal – Buschhütten
(Kreis Siegen – Wittgenstein)

Telefon: 02732 791079
(Tel. Auskünfte sind unverbindlich!)
Telefax: 02732 791078

E-Mail Anfragen:
info@ra-kotz.de
ra-kotz@web.de

Rechtsanwalt Hans Jürgen Kotz
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Rechtsanwalt und Notar Dr. Christian Kotz
Fachanwalt für Verkehrsrecht
Fachanwalt für Versicherungsrecht
Notar mit Amtssitz in Kreuztal

Bürozeiten:
MO-FR: 8:00-18:00 Uhr
SA & außerhalb der Bürozeiten:
nach Vereinbarung

Für Besprechungen bitten wir Sie um eine Terminvereinbarung!