BayObLG – Az.: 204 StRR 560/21 – Beschluss vom 13.12.2021
In dem Strafverfahren wegen Verletzung der Unterhaltspflicht erlässt das Bayerische Oberste Landesgericht – 4. Strafsenat – am 13. Dezember 2021 folgenden Beschluss
I. Auf den Antrag des Angeklagten auf Entscheidung des Revisionsgerichts wird der Be-schluss des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 20. Oktober 2021, mit dem die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 24. August 2021 als unzulässig verworfen worden ist, aufgehoben.
II. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 24. August 2021 mit den dazugehörigen Feststellungen aufgehoben.
III. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht Neumarkt i.d. OPf. hat den Angeklagten am 10.10.2019 wegen Verletzung der Unterhaltspflicht zum Nachteil seiner Tochter pp. im Zeitraum von Mai bis November 2018 zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten ohne Bewährung verurteilt.
Gegen dieses in Anwesenheit des Angeklagten verkündete Urteil hat die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth mit Schreiben vom 11.10.2019, bei Gericht eingegangen an diesem Tag, Berufung eingelegt, der Angeklagte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 12.10.2019, bei Gericht eingegangen am 17.10.2019, „Rechtsmittel“. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Berufung von Anfang an auf das Strafmaß beschränkt. Der Angeklagte und sein Verteidiger haben die Berufung in der Berufungshauptverhandlung am 24.8.2021 mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt.
Das Landgericht Nürnberg-Fürth hat mit Urteil vom 24.8.2021 die Berufungen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft als unbegründet verworfen.
Gegen dieses dem Verteidiger am 6.9.2021 zugestellte Urteil hat der Angeklagte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 25.8.2021, bei Gericht eingegangen an diesem Tag, Revision eingelegt, die mit weiterem Schriftsatz vom 4.10.2021, bei Gericht eingegangen an diesem Tag über das besondere elektronische Anwaltspostfach des Verteidigers, begründet worden ist. Es wird die Verletzung formellen Rechts gerügt und die allgemeine Sachrüge erhoben.
Da der Vorsitzenden Richterin der 11. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth die Revisionsbegründung von der Geschäftsstelle nicht vollständig ausgedruckt vorgelegt worden war, sondern nur der 49-seitige Anhang hat das Landgericht Nürnberg-Fürth mit Beschluss vom 20.10.2021 die Revision des Angeklagten mangels Begründung und Stellung von Revisionsanträgen als unzulässig verworfen. Dieser Beschluss ist dem Verteidiger am 25.10.2021 zugestellt worden.
Der Angeklagte hat mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 25.10.2021, bei Gericht eingegangen an diesem Tag, Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts gestellt.
Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragt mit Antragsschrift vom 20.11.2021 die Aufhebung des Beschlusses vom 20.10.2021, die Aufhebung des landgerichtlichen Urteils mit den Feststellungen und die Zurückverweisung der Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth.
Der Angeklagte tritt gemäß Schriftsatz seines Verteidigers vom 25.11.2021 dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft nicht entgegen.
II.
Der gemäß § 346 Abs. 2 S. 1 StPO fristgemäß erhobene Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts gegen den Verwerfungsbeschluss des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 20.10.2021 ist zulässig und begründet.
Die von der Generalstaatsanwaltschaft München veranlasste Nachforschung bei der Geschäftsstelle des Berufungsgerichts hat ergeben, dass der Revisionsbegründungsschriftsatz vom 4.10.2021 an diesem Tag und damit innerhalb der Frist des § 345 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 StPO beim Landgericht Nürnberg-Fürth über das besondere elektronische Anwaltspostfach des Verteidigers eingegangen ist. Jedoch wurden aufgrund eines Fehlers der Geschäftsstelle lediglich die aus Sicht der Vorsitzenden der Strafkammer nicht zuordenbaren Anlagen ausgedruckt und zur Akte genommen, sodass sie fälschlicherweise von einer fehlenden ordnungsgemäßen Revisionsbegründung ausgegangen ist.
Da somit die Voraussetzungen für eine Verwerfung der Revision des Angeklagten gemäß § 346 Abs. 1 StPO nicht vorlagen, führt dies zur Aufhebung des Beschlusses vom 20.10.2021 (Schmitt in: Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, 64. Auflage 2021, § 346 Rn. 10).
III.
Die gemäß §§ 333, 341 Abs. 1, §§ 344, 345 StPO zulässige Revision des Angeklagten hat mit der erhobenen Sachrüge jedenfalls vorläufigen Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils mit den zugrundeliegenden Feststellungen (§ 349 Abs. 2, § 353 Abs. 1 und 2 StPO) und Zurückverweisung der Sache (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO).
1. Das Landgericht ist zu Unrecht von der Wirksamkeit der Beschränkung der Berufungen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft auf den Rechtsfolgenausspruch gemäß § 318 StPO ausgegangen und hat deshalb keine eigenen Feststellungen zum Schuldspruch getroffen. Dies hat das Revisionsgericht aufgrund der Sachrüge von Amts wegen zu prüfen, weil im Falle der Unwirksamkeit der Beschränkung die Berufungskammer als Tatsacheninstanz eigene Feststellungen zum Schuldspruch hätte treffen müssen (BayObLG, Beschluss vom 18.3.2021 – 202 StRR 19/21, juris Rn. 3).
a) Zwar ist die Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch grundsätzlich zulässig. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn die dem Schuldspruch im angefochtenen Urteil zugrunde liegenden Feststellungen tatsächlicher oder rechtlicher Art unklar, lückenhaft, widersprüchlich oder so knapp sind, dass sich Art und Umfang der Schuld nicht in dem zur Überprüfung des Strafausspruchs notwendigen Maße bestimmen lassen und die erstinstanzlichen Feststellungen deshalb keine ausreichende Grundlage für die Entscheidung des Berufungsgerichts sein können (BayObLG, Beschluss vom 18.3.2021 – 202 StRR 19/21, juris Rn. 4, m.w.N.).
b) Das erstinstanzliche Urteil weist hinsichtlich des Schuldspruchs wegen Verletzung der Unterhaltspflicht gemäß § 170 Abs. 1 StGB derartige zur Unwirksamkeit der Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch führende Defizite auf.
Nach den Feststellungen des Amtsgerichts Neumarkt bleibt schon der Schuldumfang unklar, sodass diese keine hinreichende Grundlage für die Rechtsfolgenentscheidung durch das Berufungsgericht sein konnten. Die zur Nachvollziehbarkeit von Grund und Höhe der Berechnung erforderlichen Feststellungen zur Bedürftigkeit der Unterhaltsberechtigten und zur Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners sind im Strafurteil zu treffen. Fehlen – wie vorliegend – im amtsgerichtlichen Urteil mit konkreten Zahlenangaben versehene Darlegungen, die den Umfang der Unterhaltspflicht erkennen lassen, so ist die Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenaus-spruch unwirksam (BayObLG, Beschluss vom 18.3.2021 – 202 StRR 19/21, juris Rn. 6, m.w.N.).
Die vorliegend zur Begründung der Unterhaltspflicht des Angeklagten erfolgte Bezugnahme auf das Schreiben des Landratsamtes Neumarkt – Kreisjugendamt – vom 26.1.2018, wonach der Unterhaltsanspruch von pp. im Tatzeitraum durchschnittlich 83 Euro betragen habe, ist, wie generell die Bezugnahme auf Aktenteile, gemäß § 267 Abs. 1 S. 1 StPO – von den Sonderfällen des § 267 Abs. 1 S. 3, Abs. 4 S. 1 StPO abgesehen – nicht statthaft. Soweit gebotene eigene Urteilsfeststellungen durch unzulässige Bezugnahmen ersetzt werden, fehlt es verfahrens-rechtlich an einer Urteilsbegründung und sachlich-rechtlich an der Möglichkeit der Nachprüfung durch das Revisionsgericht (BGH, Urteil vom 20.1.2021 – 2 StR 242/20, juris Rn. 19, m.w.N.; Urteil vom 20.10.2021 – 6 StR 319/21, juris Rn. 10).
Die Feststellungen des Amtsgerichts lassen somit nicht nachvollziehbar erkennen, von welcher Bedarfshöhe es im Einzelfall ausgegangen ist. Das Maß des zu gewährenden Unterhalts bestimmt sich gemäß § 1610 Abs. 1 BGB nach der Lebensstellung des Bedürftigen, wobei für die Unterhaltsberechnung für Kinder Bedarfstabellen (vgl. Unterhaltsrechtliche Leitlinien der Familiensenate in Süddeutschland – SüdL, Stand 1.1.2018, Ziff. 11 – 14) berücksichtigt werden können, die jedoch im Urteil angegeben werden müssen (BayObLG, Beschluss vom 18.3.2021 – 202 StRR 19/21, juris Rn. 7), was nicht geschehen ist.
Im amtsgerichtlichen Urteil sind auch die erforderlichen hinreichenden Feststellungen zur Leistungsfähigkeit des Angeklagten unterblieben (BayObLG, Beschluss vom 18.3.2021 – 202 StRR 19/21, juris Rn. 8). Anhand der Mitteilung des jeweiligen monatlichen Nettoauszahlungsbetrags für die Monate Mai bis November 2018 lässt sich das unterhaltsrelevante Einkommen des Angeklagten und somit dessen Leistungsfähigkeit nicht nachvollziehen, weil insbesondere Feststellungen zu möglichem weiteren Einkommen, Vorsorgeaufwendungen, berufsbedingten Aufwendungen und anzuerkennenden Schulden fehlen (vgl. Ziff. 10.1, 10.2, 10.4 SüdL 2018; BayObLG, Beschluss vom 18.3.2021 – 202 StRR 19/21, juris Rn. 8).
Ebenso fehlen Feststellungen zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Kindesmutter. Zwar erfüllt gemäß § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB der Elternteil, der ein minderjähriges unverheiratetes Kind betreut, seine Verpflichtung, zum Unterhalt des Kindes beizutragen, in der Regel durch Pflege und Erziehung des Kindes. Allerdings kann im Rahmen einer gegebenenfalls gesteigerten Leistungspflicht nach § 1603 Abs. 2 BGB (auch) die Leistungsfähigkeit des anderen Elternteils von Bedeutung sein. Die erweiterte Unterhaltspflicht tritt nach § 1603 Abs. 2 S. 3 BGB nämlich nicht ein, wenn ein anderer unterhaltspflichtiger Verwandter vorhanden ist. Dies kann auch der andere Elternteil sein, wenn er leistungsfähig i.S.d. § 1603 Abs. 1 BGB ist, d.h. wenn er neben der Betreuung des Kindes (§ 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB) auch dessen Barbedarf ohne Gefährdung seines eigenen angemessenen Unterhalts tragen kann (BayObLG, Beschluss vom 18.3.2021 – 202 StRR 19/21, juris Rn. 8, m.w.N.).
Aufgrund des Bestehens der weiteren Unterhaltspflicht des Angeklagten gegenüber seinem Sohn pp. (seine Tochter pp. dürfte erst nach Ablauf des relevanten Tatzeitraums geboren sein, das genaue Geburtsdatum ist nicht festgestellt worden) kommt zudem ein sogenannter Mangelfall in Betracht, falls das nach Abzug des notwendigen Selbstbehalts verbleibende Einkommen nicht zur Unterhaltsleistung für die Kinder pp. und pp. ausgereicht und deshalb nur eine anteilige Unterhaltsleistung zu erfolgen hätte (Ziff. 24 SüdL 2018). Insoweit fehlen ebenfalls ausreichende Feststellungen. Im Falle einer solchen nur anteiligen Unterhaltspflicht für die genannten Kinder würde jedoch für die Monate Mai bis November 2018 der dem Angeklagten vorgeworfene Unterhaltsausfall für pp. von 83 Euro monatlich erheblich unterschritten werden.
c) Da es sich bei dem Umstand, ob und in welcher Höhe eine Unterhaltspflicht des Angeklagten bestand, um eine doppelrelevante Tatsache handelt, die sowohl für den Schuldspruch als auch als bestimmender Strafzumessungsgrund für den Rechtsfolgenausspruch von Bedeutung ist, haben die dargestellten Feststellungs- und Erörterungsdefizite zur Folge, dass die Berufungen nicht wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt werden konnten (BayObLG, Beschluss vom 18.3.2021 – 202 StRR 19/21, juris Rn. 6).
2. Auch die Strafzumessung in dem angefochtenen Urteil ist nicht frei von Rechtsfehlern.
a) Die Strafkammer hat die dem Angeklagten drohenden Bewährungswiderrufe nicht ausdrücklich als zu seinen Gunsten sprechenden Umstand erörtert. Dies stellt aber einen bestimmenden Strafzumessungsgrund dar, wenn – wie vorliegend – aufgrund der möglichen Bewährungswiderrufe die gesamte Länge der dann insgesamt zu verbüßenden Haft diejenige der neu verhängten Freiheitsstrafe beträchtlich übersteigt. In einem solchen Fall ist das Gesamtstrafenübel bei der Strafzumessung zu berücksichtigen (BGH, Urteil vom 17.2.2021 – 2 StR 294/20, juris Rn. 26, m.w.N.; BayObLG, Beschluss vom 20.8.2021 – 205 StRR 330/21).
b) Die Strafzumessung enthält zudem keine Ausführungen dazu, ob und gegebenenfalls wie sich die lange Verfahrensdauer zugunsten des Angeklagten auswirken muss. Insoweit fehlen jegliche Feststellungen zu dem Verfahrensablauf jedenfalls zwischen dem Eingang der Berufung des An-geklagten am 17.10.2019 und der abschließenden Hauptverhandlung am 24.8.2021. Angesichts dieses über die übliche Verfahrensdauer weit hinausgehenden Zeitraums hätte die Strafkammer erörtern müssen, ob diese Verzögerung auf justizinternen Umständen oder auf Umständen aus dem Verantwortungsbereich des Angeklagten beruht. Im ersteren Fall liegt ein zugunsten des An-geklagten zu wertender Strafzumessungsgesichtspunkt nahe, der nicht ausschließbar zu einer milderen Strafe führen kann.
3. Da das angefochtene Berufungsurteil bereits auf die Sachrüge vollständig aufzuheben ist (vgl. Ziffer IV.), kommt es auf die Zulässigkeit und Begründetheit der erhobenen Verfahrensrüge nicht an.
IV.
Das Berufungsurteil beruht auf den dargestellten sachlich-rechtlichen Mängeln, § 337 Abs. 1 StPO.
Auf die Revision des Angeklagten ist daher das angefochtene Urteil mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben (§§ 349 Abs. 2, 353 Abs. 1 und 2 StPO) und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO).