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Verurteilung Unionsbürger wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis trotz EU-Fahrerlaubnis?

OLG Oldenburg – Az.: 1 Ss 100/20 – Beschluss vom 10.07.2020

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Delmenhorst vom 3. März 2020 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zur Fahrereigenschaft des Angeklagten aufrechterhalten.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Delmenhorst zurückverwiesen, die auch über die Kosten der Revision zu entscheiden hat.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Delmenhorst hat den Angeklagten mit Urteil vom 3. März 2020 wegen fahrlässigen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 30 Euro verurteilt.

Hiergegen richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt und beantragt, das Urteil in vollem Umfang aufzuheben.

Das Rechtsmittel hat mit der allein erhobenen Sachrüge – zumindest vorläufig – Erfolg.

II.

1. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts befuhr der Angeklagte am TT.MM.2019 gegen 14:45 Uhr mit dem Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen (…) unter anderem die Straße1 in Ort1 ohne im Besitz der hierfür erforderlichen Fahrerlaubnis zu sein, was er bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt auch hätte erkennen können. Nachdem gegen ihn mit Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 22. September 2014 eine Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis bis zum 21. Juli 2015 verhängt worden war, war ihm in Deutschland keine neue Fahrerlaubnis erteilt worden. Der Angeklagte hatte sich in Rumänien seine alte Fahrerlaubnis neu ausstellen lassen, ohne diese jedoch in Deutschland anerkennen zu lassen.

2. Das Amtsgericht ist der Auffassung, dass die rumänische Fahrerlaubnis den Angeklagten nicht zum Führen von Kraftfahrzeugen in der Bundesrepublik Deutschland berechtigt habe. Dies habe der Angeklagte bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt auch erkennen können, da er ausweislich des beigezogenen Verfahrens bereits am 18. September 2018 von der Polizei kontrolliert und auf die fehlende Fahrerlaubnis in Deutschland hingewiesen worden sei. Zwar dürfe gem. § 28 Abs. 1 FeV der Inhaber einer gültigen EU-Fahrerlaubnis, der seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland habe, was bei dem Angeklagte ausweislich des verlesenen Bundeszentralregisterauszuges und der Ladung der Fall sei, vorbehaltlich der Einschränkungen des § 28 Abs. 2 bis 4 FeV im Inland Fahrzeuge führen. Allerdings sehe § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 FeV vor, dass diese Berechtigung nicht für Inhaber einer EU-Fahrerlaubnis gelte, denen die Fahrerlaubnis im Inland rechtskräftig von einem Gericht entzogen worden sei. Gemäß § 28 Abs. 4 Satz 3 FeV gelte § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 FeV nur dann, wenn die dort genannten Maßnahmen im Fahreignungsregister eingetragen und noch nicht getilgt worden seien. Vorliegend sei die Sperre im Fahrerlaubnisregister eingetragen und noch nicht gelöscht gewesen, weshalb der Angeklagte gemäß § 28 Abs. 4 FEV von seiner rumänischen Fahrerlaubnis ohne antragsgemäße Anerkennung nicht habe Gebrauch machen dürfen.

3. Dies hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Insbesondere die Feststellung, dass sich der Angeklagte in Rumänien seine alte Fahrerlaubnis hat „neu ausstellen lassen“, trägt nicht die Verurteilung wegen eines Fahrens ohne im Besitz der hierfür erforderlichen Fahrerlaubnis zu sein.

a) Zwar legt das Amtsgericht insoweit die in Bezug genommenen Vorschriften der Fahrerlaubnisverordnung zutreffend aus. Es übersieht jedoch, dass das deutsche Fahrerlaubnisrecht aufgrund des europarechtlichen Anwendungsvorrangs unionsrechtlich überlagert und maßgeblich durch die EU-Richtlinie 2006/126/EG (sog. 3. EU-Führerscheinrichtlinie; im Folgenden: „Richtlinie“) und die hierzu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bestimmt wird (vgl. grundlegend Kenntner, NJW 2020, 1556 ff.). Dementsprechend sind nationale Regelungen, die Führerscheine betreffen, die in anderen Mitgliedstaaten ausgestellt worden sind, nur soweit anwendbar, als diese mit der vorgenannten Richtlinie vereinbar sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 06.09.2018 – 3 C 31.16, BVerwGE 163, 79 = NJW 2019, 100 ff.).

Im Einzelnen:

aa) Art. 11 Abs. 4 UAbs. 1 der Richtlinie sieht vor, dass es der zuständige Mitgliedstaat ablehnt, einem Bewerber, dessen Führerschein in einem anderen Mitgliedstaat eingeschränkt, ausgesetzt oder entzogen wurde, einen Führerschein auszustellen. Art. 11 Abs. 4 UAbs. 2 der Richtlinie gestattet es daher dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Maßnahme angewendet wurde, die Anerkennung der Gültigkeit eines gleichwohl erteilten Führerscheins abzulehnen. Dies gilt auch dann, wenn der Betroffene bei der Zuwiderhandlung keinen deutschen Führerschein mehr besaß, der ihm hätte entzogen werden können. Maßgeblicher zeitlicher Bezugspunkt für diese Befugnis ist die Sperrfrist für die (Neu-)Erteilung einer Fahrerlaubnis. Einem später – nach Ablauf dieser Sperrfrist – von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein kann die Anerkennung der Gültigkeit dagegen grundsätzlich nicht versagt werden (vgl. EuGH, Urteil vom 26.04.2012 – C-419/10, NJW 2012, 1935 <1940 Rn. 89>). In diesen Fällen ist die geahndete Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen durch die von einem anderen Mitgliedstaat bei der späteren Neuerteilung eines Führerscheins durchgeführte Eignungsprüfung behoben (vgl. EuGH, Urteil vom 19.02.2009 – C-321/07, BeckRS 2009, 70211 Rn. 92), so dass insoweit § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 FeV mit Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie nicht vereinbar ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 06.09.2018 – 3 C 31.16, BVerwGE 163, 79 = NJW 2019, 100 <101 Rn. 13>). Dies gilt auch in dem Fall, in welchem die Fahreignung nicht bereits bei der Ausstellung des Führerscheins, sondern infolge einer vom Inhaber des Führerscheins nach dessen Ausstellung begangenen Zuwiderhandlung infrage gestellt wurde, deren Ahndung ihre Wirkungen nur in dem Mitgliedstaat entfaltet, in dem die Zuwiderhandlung begangen wurde (vgl. EuGH, Urteil vom 26.04.2012 – C-419/10, NJW 2012, 1935 <1939 Rn. 74 f.>). Denn auch in diesem Kontext bestätigt der Ausstellungsmitgliedstaat mit der Ausstellung eines Führerscheins und der hierfür erforderlichen Überprüfung der Fahreignung, dass die Gründe für den Entzug nicht mehr vorliegen (vgl. EuGH, Urteil vom 19.02.2009 – C-321/07, BeckRS 2009, 70211 Rn. 92).

bb) Anders liegen die Dinge, wenn der nachträglich in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellte Führerschein nur auf einen Umtausch (vgl. Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie) beruht (vgl. Kenntner, NJW 2020, 1556 <1560 f.>). Die Bestimmungen zum Umtausch eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins sind eigenständig und unterscheiden sich in Zweckstellung und Prüfprogramm von der eigenständigen Ausstellung eines Führerscheins. Denn der Umtausch durch den Ausstellungsmitgliedstaat enthält keinen Nachweis über die Wiedererlangung der Fahreignung, da Letztere in diesem Verfahren nicht zu prüfen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.2018 – 3 C 9.17, BVerwGE 162, 308 = NJW 2018, 3661 <3664 Rn. 39 f.>).

cc) Davon wiederum zu unterscheiden ist die Erneuerung eines Führerscheins (vgl. Art. 7 der Richtlinie). Ob allerdings die nachträgliche Erneuerung eines Führerscheins in der Lage ist, Mängel des der Erneuerung zugrundeliegenden Führerscheins zu „heilen“, ist noch nicht abschließend geklärt. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Frage dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt (vgl. BVerwG, Vorlagebeschluss vom 10.10.2019 – 3 C 20/17, BeckRS 2020, 23797, NJW 2020, 1616 [Ls.]).Zweifel hieran ergeben sich daraus, dass nach Art. 7 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie eine Eignungsprüfung zwingend nur für die Erneuerung eines Führerscheins der Klassen C und aufwärts vorgeschrieben ist. Wenn der Ausstellungsmitgliedschaft die Eignung nicht prüfen muss, ist mit der Ausstellung eines erneuerten Führerscheins aber auch kein Nachweis über das Vorliegen dieser Voraussetzungen verbunden. Nimmt man – wie dies in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs häufig anzutreffen ist (vgl. EuGH, Urteil vom 26.10.2017 – C-195/16, NZV 2018, 573 <575 Rn. 46>) – lediglich auf die Mindestvoraussetzungen der Richtlinie Bezug, ist mit der Erneuerung eines Führerscheins daher keine Aussage über die aktuelle Fahreignung verbunden. Folgerichtig könnte auch einem solchen erneuerten Führerschein die Anerkennung unter den weiteren Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 4 UAbs. 2 der Richtlinie versagt werden.

Allerdings lässt es Art. 7 Abs. 3 UAbs. 2 der Richtlinie zu, dass Mitgliedstaaten auch die Erneuerung von Führerscheinen der Klasse A und B von einer Eignungsprüfung abhängig machen. Ausweislich des Erwägungsgrunds Nummer 9 der Richtlinie „sollte“ ein entsprechender Nachweis auch nach der Ausstellung des Führerscheins in regelmäßigen Abständen erbracht werden. Wird in einem Mitgliedstaat von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, bescheinigt die Ausstellung auch das Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen. Da diese Möglichkeit unionsrechtlich für den für die Erneuerung zuständigen Mitgliedstaat vorgesehen ist, könnte einem anderen Mitgliedstaat die eigenständige Nachprüfung derselben Fragen verwehrt sein.

Ginge man hiervon aus, wäre die Bedeutung und Rechtsfolge der Erneuerung eines Führerscheins von der in dem jeweiligen Mitgliedstaat geltenden Rechtslage abhängig. Zur Ermittlung der Frage, ob und inwieweit der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung einer Geltendmachung der Rechte aus Art. 11 Abs. 4 UAbs. 2 der Richtlinie entgegensteht, wäre im Einzelfall zu prüfen, was genau Inhalt und Reichweite der Überprüfung im Rahmen der Erneuerung in dem betreffenden Mitgliedstaat ist. Eine derartige Verfahrensweise fügt sich nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts nicht in das System der auf die harmonisierten Mindestanforderungen aus Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie Bezug nehmenden Systematik. Da die Frage nicht „klar“ beantwortet werden kann, bleibt insoweit die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vorbehalten (vgl. Kenntner, NJW 2020, 1556 <1561 f.>).

b) In Ansehung dieser Maßstäbe erweisen sich die Feststellungen des Amtsgerichts in der Weise als unzureichend, als keine genauen bzw. differenzierten Feststellungen dazu getroffen wurden, ob es sich bei der hier in Rede stehenden rumänischen Fahrerlaubnis vom 8. Juli 2016 – insoweit wird der neue Tatrichter ebenfalls das Datum der wie auch immer gearteten „Neuausstellung“ in seine Feststellungen mitaufzunehmen haben, um kenntlich zu machen, dass diese nach Ablauf der Sperrfrist erfolgt ist – um einen nach Ableistung einer erneuten Fahreignungsprüfung neu ausgestellten, um einen bloß umgetauschten (etwa altes Führerscheindokument gegen EU-Kartenführerschein) oder um einen erneuerten Führerschein handelt. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass es in den Urteilsgründen im Rahmen der Beweiswürdigung heißt, dass es ausweislich des verlesenen polizeilichen Abschlussberichts bei dem nämlichen Führerschein um eine „bloße Neuausfertigung des alten rumänischen Führerscheins“ handeln soll. Denn abgesehen davon, dass auch der Begriff der „Neuausfertigung“ keine eindeutige rechtliche Einordnung erlaubt, erweist sich die Beweiswürdigung insoweit auch als lückenhaft, indem das Amtsgericht die in dem Abschlussbericht zum Ausdruck kommende rechtliche Einschätzung des Ermittlungsbeamten schlichtweg übernommen hat, ohne hierzu eigene Feststellungen, insbesondere durch Einholung von Informationen des Ausstellungsmitgliedstaates (vgl. auch OLG Hamm, Beschluss v. 10.09.2013, III-2 RVs 47/13, juris Rn. 20), zu treffen.

Die auf § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 FeV gestützte Verurteilung des Angeklagten wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis gemäß § 21 StVG kann daher keinen Bestand haben. Auf die Revision des Angeklagten war deshalb das Urteil des Amtsgerichts Delmenhorst vom 3. März 2020 aufzuheben. Die Feststellungen des Amtsgerichts zur Fahrereigenschaft des Angeklagten sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen. Sie können daher bestehen bleiben.

III.

Eine Entscheidung des Senats in der Sache kam nicht in Betracht. Denn es bedarf nicht nur der Prüfung der Hintergründe der Ausstellung der Fahrerlaubnis am 8. Juli 2016, sondern auch der Frage, ob der rumänischen Fahrerlaubnis des Angeklagten aus anderen Gründen – etwa wegen Verstoßes gegen das Wohnsitzerfordernis (vgl. hierzu Kenntner, NJW 2020, 1556 <1557 f.>) – die Anerkennung in der Bundesrepublik Deutschland zu versagen ist. In diesem Zusammenhang weist der Senat darauf hin, dass es – worauf jedoch das Amtsgericht abgestellt hat – für den Nachweis der Wohnsitzvoraussetzung nicht ausreicht, sich auf die im Bundeszentralregisterauszug mitgeteilte Wohnanschrift oder die Ladungsadresse zu beziehen, da diese nur den jeweils aktuellen Wohnsitz wiedergeben, ohne jedoch näheren Aufschluss darüber zu geben, wo der Angeklagte zum Zeitpunkt der Ausstellung der Fahrerlaubnis tatsächlich seit mindestens 185 Tage gewohnt hat (vgl. Art. 12 der Richtlinie).

Im Umfang der Aufhebung war deshalb die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen, die auch über die Kosten dieses Rechtsmittels zu entscheiden haben wird.

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