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Verwertbarkeit der Feststellungen eines früheren Urteils

OLG Zweibrücken, Az.: 1 Ss 209/91, Beschluss vom 16.12.1991

Gründe

Das Amtsgericht Ludwigshafen am Rhein hat den Angeklagten am 19. März 1991 wegen zweier tateinheitlicher Vergehen des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr und der Nötigung, tatmehrheitlich begangen mit einem Vergehen der vorsätzlichen Körperverletzung, zu einer Gesamtgeldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 90,– DM verurteilt und gegen ihn ein Fahrverbot von 3 Monaten verhängt. Die Berufung des Angeklagten hat die 1. Kleine Strafkammer durch das angefochtene Urteil vom 20. August 1991 mit der Ma gabe verworfen, da die Höhe des einzelnen Tagessatzes auf 70,– DM herabgesetzt worden ist. Die Revision des Angeklagten gegen das Berufungsurteil ist zulässig und führt mit der Sachrüge zu einem vorläufigen Erfolg.

Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils war der Angeklagte am 6. Oktober 1990 gegen 23.15 Uhr mit seinem Pkw BMW auf der Landstraße von Rehhütte nach Limburgerhof unterwegs. Dabei überholte er den Opel Manta des Nebenklägers… und scherte dann unter starkem Bremsen unmittelbar vor diesem ein, so da … zu einer Vollbremsung gezwungen wurde. Weil … – wie sich später herausstellte zu Unrecht – vermutete, hierdurch könnten die Reifen seines Fahrzeugs beschädigt worden sein, fuhr er dem Angeklagten hinterher und versuchte, ihn durch Betätigen von Lichthupe und Blinker zum Anhalten zu veranlassen. Der Angeklagte reagierte hierauf, indem er erneut unvermutet und abrupt auf die Bremse trat, so da … erneut zur Vermeidung eines Auffahrunfalles eine Vollbremsung vornahm. Dieser zweite Vorfall war allerdings „wesentlich weniger gefährlich“ als das erste „Ausbremsen“.

Nach weiterer Verfolgungsfahrt wurden beide Fahrzeuge schließlich im Ortsbereich Limburgerhof angehalten. Es kam sodann zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen den beiden stark erregten Fahrern. Dabei schlug der Angeklagte seinen Kontrahenten … mehrmals mit der Faust ins Gesicht, wodurch dieser Verletzungen davontrug.

Der Angeklagte hat in der Berufungshauptverhandlung diese Vorwürfe bestritten. Sowohl bei den Verkehrsvorgängen als auch während der anschließenden tätlichen Auseinandersetzung sei es vielmehr … gewesen, der sich aggressiv verhalten habe. Er – der Angeklagte – habe zwar möglicherweise seinen Gegner durch eine Abwehrbewegung versehentlich mit der flachen Hand an Hals oder Kiefer berührt, habe diesen aber keinesfalls geschlagen.

Demgegenüber folgt das Berufungsgericht mit seinen Feststellungen der Zeugenaussage …. Diese erachtet es, was den zweiten Tatkomplex (Körperverletzung) angeht, als gestützt durch die Angaben der Anwohnerin …, die die Auseinandersetzung zunächst mitangehört und in ihrer letzten Phase auch beobachtet hatte. Weiterhin wird das verlesene ärztliche Attest über die bei … eingetretenen Verletzungen als Bestätigung seiner Darstellung angesehen. Die Zeugen … und B. – Bekannte des Angeklagten – hätten sich darauf berufen, nichts gesehen zu haben, aber immerhin bestätigt, von … als Zeugen für die Körperverletzung angerufen worden zu sein.

Die Bewertung der beiderseitigen Angaben zur Körperverletzung hat nach Auffassung der Strafkammer auch Auswirkungen auf die Beweiswürdigung zu den Verkehrsvorgängen. Zu diesem ersten Teilkomplex bezieht sich das Berufungsgericht auch auf ein früheres Strafverfahren gegen den Angeklagten, zu dem – im Rahmen der Feststellung der persönlichen Verhältnisse – folgendes ausgeführt ist:

„Allerdings war bereits zuvor ein Verfahren anhängig …, weil er (der Angeklagte) am 25. Februar 1988 auf der B 9 einen anderen Pkw rechts überholt, geschnitten und zu einer scharfen Bremsung gezwungen haben soll. Danach habe er die Fahrertür des fremden Wagens geöffnet, den Fahrer am Kragen gepackt und ihn als Wichser bezeichnet. Er war deswegen am 9. September 1988 vom Amtsgericht Ludwigshafen am Rhein wegen Nötigung und Beleidigung zu einer Gesamtgeldstrafe von 20 Tagessätzen verurteilt worden. Das Verfahren ist in der Berufungsinstanz gegen Zahlung einer Geldbuße von 800,– DM eingestellt worden“.

Im Rahmen der Beweiswürdigung kommt die Strafkammer wie folgt auf dieses Verfahren zurück:

„Da der Angeklagte … zu ungewöhnlichem Verkehrsverhalten neigt, wird durch das Verfahren 134 Js 4471/88 belegt.“

Diese Ausführungen zur Beweiswürdigung halten rechtlicher Überprüfung nicht stand und bringen letztlich auch den Schuldspruch hinsichtlich des zweiten Teilkomplexes (Körperverletzung) zu Fall. Das Berufungsgericht hat hier gegen das Gebot umfassender und vollständiger Beweiswürdigung verstoßen (vgl. dazu Kleinknecht/Meyer, StPO 40. Aufl., § 267 Rdn. 11 ff). Seine Überlegungen überschreiten die Grenzen der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO) und lassen eine hinreichende Tatsachengrundlage vermissen.

Entgegen der mit der Revision vertretenen Auffassung war allerdings die Verlesung des in dem früheren Verfahren ergangenen Urteils des Amtsgerichts Ludwigshafen am Rhein prozessual zulässig. § 249 StPO gestattet in weitestem Umfang die urkundenbeweisliche Verwertung früher ergangener Strafurteile. Dies gilt unabhängig davon, ob die Urteile rechtskräftig (geworden) oder etwa auch später weggefallen sind (vgl. Kleinknecht/Meyer aaO, § 249 Rdn. 9; Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß 5. Aufl. S. 252).

Ein so verlesenes Urteil kann auch zum Beweis der darin festgestellten Tatsachen herangezogen werden (vgl. OLG Düsseldorf NStZ 1982, 512; Löwe/Rosenberg/Gollwitzer, StPO 24. Aufl. § 249 Rdn. 17). Dabei kann der Tatrichter des neuen Verfahrens in freier Würdigung aus den Feststellungen des früheren Urteils Schlußfolgerungen ziehen und so etwa auch die Überzeugung gewinnen, da die dort abgeurteilte Tat begangen worden sei (RGSt 60, 297; Alsberg/Nüse/Meyer aaO, S. 254 ff). Dabei darf jedoch der Inhalt des früheren Urteils nicht ungeprüft für die neue Entscheidung übernommen werden und ihr allein deshalb zugrunde gelegt werden, weil er dort festgestellt worden ist (RG und OLG Düsseldorf, jeweils aaO).

Gegen diese Grundsätze hat das Berufungsgericht hier verstoßen. So ergeben die Urteilsgründe nach ihrer sprachlichen Fassung noch nicht einmal die Feststellung, da sich der Angeklagte tatsächlich so wie in dem früheren Urteil dargestellt verhalten gehabt habe, denn der damalige Tatverlauf wird durch indirekte Rede und in sonstiger Weise als blo e Behauptung wiedergegeben. Es mag zwar dem Zusammenhang der Gründe des Berufungsurteils entnommen werden, das Landgericht erachte diesen früheren Tathergang als nach dem Ergebnis der nunmehrigen Berufungshauptverhandlung festgestellt. Für eine solche Feststellung würde es aber an einer hinreichenden Grundlage fehlen.

Allein die Tatsache, da der Angeklagte wegen dieses früheren Vorwurfes zunächst verurteilt worden war und da das Verfahren sodann in der Berufungsinstanz gegen Zahlung einer Geldbuße – also mit Zustimmung des Angeklagten (§ 153 a StPO) – eingestellt worden ist, genügt für eine solche Schlußfolgerung nicht. Darüber hinaus setzt sich das Berufungsgericht in keiner Weise mit der hinsichtlich des früheren Tatvorwurfes bestehenden Beweislage auseinander. Es wird nicht mitgeteilt, welche Stellungnahme der Angeklagte damals oder auch heute zu diesen Vorwürfen abgegeben hat und welche sonstigen Beweismittel von dem Amtsgericht Ludwigshafen zu seiner Überzeugungsbildung herangezogen worden waren.

Auf diesem Fehler kann das Urteil auch beruhen. Es handelt sich hier zwar um eine im Rahmen der Beweiswürdigung zum ersten Tatkomplex (Verkehrsvorgänge) eher nachrangige Überlegung. Andererseits standen für diesen Teil des Geschehens im wesentlichen nur die Angaben des Angeklagten und die ihnen widersprechende Schilderung des Geschädigten und Nebenklägers zur Verfügung. Es stand also im Kern Aussage gegen Aussage. Der Tatrichter mu te deshalb besonders sorgfältig und eingehend Überlegungen dazu anstellen, ob gerade den Angaben des Nebenklägers und nicht denjenigen des Angeklagten gefolgt werden konnte (vgl. OLG Düsseldorf VRS 66, 36). Es kam deshalb jedem einzelnen Indiz besondere Bedeutung zu. Nach alledem kann nicht ausgeschlossen werden, da gerade das in fehlerhafter Weise herangezogene frühere Verfahren den Ausschlag für das Ergebnis der tatrichterlichen Überzeugungsbildung gegeben hat.

Der vorliegende Rechtsfehler wirkt sich auch auf den Bestand des Urteils hinsichtlich des zweiten Tatkomplexes (Körperverletzung) aus. Hierzu standen zwar, wie geschildert, eine größere Anzahl von Beweismitteln und Indizien zur Verfügung. Auch diese betrafen allerdings sämtlich eher am Rande liegende Gesichtspunkte oder bezogen sich nur auf Teile des Geschehens, während es unmittelbar dazu wiederum überwiegend auf die direkte Konfrontation der Angaben des Angeklagten und des Hauptbelastungszeugen … ankam. Dabei hat zwar das Berufungsgericht zutreffenderweise aus der Widerlegung von Angaben des Angeklagten zu der tätlichen Auseinandersetzung auf eine Erschütterung seiner Glaubwürdigkeit auch hinsichtlich des Verkehrsgeschehens geschlossen. Dennoch kann es bei der hier vorliegenden Beweislage auch umgekehrt nicht ausgeschlossen werden, da die Abwertung der Position des Angeklagten durch das in unzulässigerweise berücksichtigte frühere Strafverfahren auch auf die Beweiswürdigung hinsichtlich der tätlichen Auseinandersetzung durchgeschlagen hat. Das frühere Verfahren betraf nämlich einen hinsichtlich beider Tatkomplexe sehr ähnlichen Vorwurf, denn auch dort ging es um erhebliche Verkehrsverstöße mit anschließenden tätlichen Angriffen auf den davon betroffenen anderen Kraftfahrer. Möglicherweise wäre das Berufungsgericht also bei rechtsfehlerfreier Würdigung auch hinsichtlich der Körperverletzung zu einem anderen Ergebnis gekommen.

Das Urteil mu te nach alledem samt den Feststellungen (§ 353 StPO) aufgehoben und die Sache in die Berufungsinstanz zurückverwiesen werden (§ 354 Abs. 2 StPO). Es besteht dabei für den Fall erneuter Verurteilung Anla zu verschiedenen Hinweisen:

Das angefochtene Urteil trifft hinsichtlich des ersten Tatkomplexes (Verkehrsvorgänge) keine näheren Feststellungen zu den einzelnen Merkmalen der angewandten Strafvorschriften. Der Schuldspruch mag dabei zwar aus dem Zusammenhang der Urteilsgründe weitgehend gedeckt sein. Bedenken bestehen aber jedenfalls dahingehend, ob bei dem ersten „Ausbremsen“ des Manta durch den BMW des Angeklagten tatsächlich – wie es § 315 b StGB voraussetzt – ein von au en kommender, verkehrsfremder und verkehrsfeindlicher Eingriff (vgl. nur Dreher/Tröndle, StGB 45. Aufl. § 315 b Rdn. 2, 5) angenommen werden kann. Ein Anla für eine dahingehende Motivation des Angeklagten ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht ohne weiteres ersichtlich. Er hatte, auch nach den Feststellungen des Landgerichts, bis dahin kaum einen Grund, sich über das Fahrverhalten … zu ärgern und diesen deshalb durch das „Ausbremsen“ zu „disziplinieren“ und zurechtzuweisen. Es läge daher nicht ganz fern, da er – wie er es in der Berufungshauptverhandlung offenbar angedeutet hat – so stark gebremst hat, um im Anschluß an einen verspäteten und möglicherweise nicht nur deshalb verkehrswidrigen Überholvorgang seine Geschwindigkeit an die mit Erreichen des Ortsbereiches eintretende Geschwindigkeitsbegrenzung anzupassen. Es würde dann ein vorschriftswidriges Verkehrsverhalten vorliegen, auf das nicht § 315 b StGB (Dreher/Tröndle aaO), möglicherweise aber § 315 c Abs. 1 Nr. 2 b StGB (vgl. etwa OLG Düsseldorf NZV 1988, 149) angewendet werden könnte.

Den weiteren, im Verhältnis zum ersten tateinheitlich begangenen Fall von Nötigung und gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr sieht das Berufungsgericht offenbar in dem weiteren „Ausbremsen“, nachdem … die „Verfolgung“ des BMW aufgenommen hatte. Allein aus der gleichzeitigen Gefährdung beider Insassen beim ersten Vorgang könnte nämlich nicht die Erfüllung des § 315 b StGB (und noch weniger des § 240 StGB) in gleichartiger Tateinheit abgeleitet werden (vgl. BGH NJW 1989, 2550). Bei diesem zweiten Bremsen liegt aber die Erfüllung der einzelnen gesetzlichen Merkmale nicht so nahe, nachdem dieser Vorgang, offenbar gestützt auf die Angaben …, als „wesentlich weniger gefährlich“ (UA S. 6) gekennzeichnet wird.

Hinsichtlich der Strafzumessung erscheint es jedenfalls in dieser Pauschalität bedenklich, wenn dem Angeklagten vorgehalten wird, „da er über blo es Bestreiten hinaus dem Nebenkläger das anzulasten versucht, was er selbst getan hat“. Es wird dabei nicht näher überprüft, ob der Angeklagte überhaupt über zulässiges Verteidigungsverhalten hinausgegangen ist (vgl. dazu Dreher/Tröndle aaO § 46 Rdn. 29 c). Anlastungen an den Nebenkläger können sich hier nämlich zwangsläufig daraus ergeben haben, da der Angeklagte dessen Vorwürfen mit einer eigenen geschlossenen Sachdarstellung entgegengetreten ist. Dies allein könnte noch nicht strafschärfend berücksichtigt werden.

Zu beanstanden ist zuletzt auch, da das Berufungsgericht im Rahmen der Strafzumessung nicht auf die vom Angeklagten offenbar unwiderlegt behauptete erhöhte Aggressionsbereitschaft als Folge seines früheren schweren Verkehrsunfalles vom Dezember 1989 eingegangen ist. Dieser Umstand mag nicht unbedingt Zweifel an der vollen strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten begründen. Er hätte aber zumindest als Strafmilderungsgrund in Betracht gezogen werden müssen.

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