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Verwertbarkeit der über EncroChat geführten Kommunikation

OLG Karlsruhe – Az.: HEs 2 Ws 311/21

1. Die Fortdauer der Untersuchungshaft des Angeklagten L. wird angeordnet.

2. Die Haftprüfung wird für die nächsten drei Monate dem nach den allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.

3. Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl des Landgerichts Freiburg vom 17.9.2021 ist erledigt.

Gründe

Der Angeklagte L. befindet sich in dieser Sache nach vorläufiger Festnahme am 20.5.2021 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Freiburg vom 20.5.2021, ersetzt durch den an die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Freiburg vom 9.8.2021 angepassten Haftbefehl des Landgerichts Freiburg vom 17.09.2021, eröffnet am 27.09.2021, seit 20.05.2021 ununterbrochen wegen des Vorwurfs mehrfachen Handeltreibens mit Marihuana und Kokain im Kilogrammbereich bzw. der Beihilfe hierzu in Untersuchungshaft.

Ein Urteil ist noch nicht ergangen. Dies macht die Haftprüfung durch das Oberlandesgericht erforderlich.

Sie hat ergeben, dass zu Recht Untersuchungshaft angeordnet ist, eine Haftverschonung nicht in Betracht gezogen werden kann und das Verfahren wegen der besonderen Schwierigkeiten und des Umfangs der Ermittlungen noch nicht durch ein Urteil abgeschlossen werden konnte.

I.

Hinsichtlich des dringenden Tatverdachts und der Beweislage wird zunächst auf die Anklageschrift vom 9.8.2021 verwiesen. Der dringende Tatverdacht gründet sich dabei im Wesentlichen auf die Erkenntnisse aus der zwischen den Tatbeteiligten über EncroChat geführten Kommunikation, die den deutschen Ermittlungsbehörden von den französischen Ermittlungsbehörden zur Verfügung gestellt wurden.

Entgegen der von der Verteidigung insoweit erhobenen Einwendungen sind diese Erkenntnisse nach vorläufiger Bewertung auf der Grundlage des Akteninhalts verwertbar.

1. Dabei ist unter Berücksichtigung der in anderen obergerichtlichen Entscheidungen (KG, Beschluss vom 30.8.2021 – 2 Ws 93/21 – 161 AR 134/21, juris; OLG Brandenburg, Beschluss vom 3.8.2021 – 2 Ws 102/21 [S]; 2 Ws 96/21, juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21.7.2021 – III 2 Ws 96/21; OLG Rostock, Beschluss vom 11.5.2021 – 20 Ws 121/21 – BeckRS 2021, 11981 = NJ 2021, 372-374; OLG Schleswig SchlHA 2021, 197; OLG Rostock, Beschluss vom 23.3.2021 – 20 Ws 70/21, juris; OLG Hamburg, Beschluss vom 29.1.2021 – 1 Ws 2/21 –, juris; OLG Bremen NStZ-RR 2021, 158) mitgeteilten Erkenntnisse von folgendem Verfahrensgang auszugehen:

Den in Frankreich durchgeführten und aufeinander aufbauenden Ermittlungsmaßnahmen lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Im Rahmen von sieben nicht im Zusammenhang stehenden Ermittlungsverfahren – in fünf Fällen handelte es sich ausschließlich um Betäubungsmitteldelikte (436 kg Cannabisharz / 100 kg Cannabisharz / 30 kg Cannabisharz / 30 kg Cannabisharz / 12 kg Cannabiskraut, 6 kg Heroin, 1 kg Crack), in einem Fall um ein Betäubungsmitteldelikt (6 kg Cannabisharz) sowie um eine Diebstahlsserie von Luxuskraftfahrzeugen und in einem weiteren Fall um bandenmäßig organisierten Kraftfahrzeugdiebstahl – der französischen Behörden in den Jahren 2017 und 2018 wurden verschlüsselte Telefone unter „EncroChat-Lizenz“ sichergestellt.

Weitere Recherchen ergaben, dass diese Telefone auf einer frei zugänglichen Internetseite mit folgenden Produktmerkmalen beworben wurden: „Garantie der Anonymität, personalisierte Android Plattform, doppeltes Betriebssystem, allerneueste Technik, automatische Löschung von Nachrichten, schnelles Löschen, Unantastbarkeit, Kryptografie-Hardwaremodul“. Folgende Anwendungen waren auf dieser Art von Telefonen verfügbar: „EncroChat (lnstant-Secure Messaging Kunde), EncroTalk (Chiffrierung der Sprachkonversationen auf IP), EncroNotes (Chiffrierung der lokal auf dem Gerät gespeicherten Notizen)“. Ein Erwerb solcher Endgeräte war jedoch nicht über die offizielle Webseite dieses Unternehmens möglich.

Auf der Verkaufsplattform eBay wurden derartige Geräte für 1.610 € angeboten, wobei dieser Preis eine Nutzerlizenz für die Dauer von (nur) sechs Monaten beinhaltete. Personen, die sich nach außen als Verantwortliche der Firma EncroChat präsentierten, existierten nicht. Einen offiziellen Sitz eines Unternehmens EncroChat gab es ebenfalls nicht.

Anhand der Auswertung eines der beschlagnahmten Mobiltelefone konnten die Ermittlungsbehörden aufgrund der aus- und eingehenden Datenströme feststellen, dass eine Datenverbindung zu einem in Roubaix (Frankreich) betriebenen Server bestand. Dieser Server war von der Gesellschaft „Virtue Imports“ mit Sitz in Vancouver/Kanada angemietet.

Nach Einholung eines richterlichen Beschlusses wurden am 21.12.2018 die Daten des vorgenannten Servers kopiert und in der Folgezeit ausgewertet. Die Ermittlungen wurden zu diesem Zeitpunkt wegen des Verdachts der Bildung einer „kriminellen Vereinigung zur Begehung von Straftaten oder Verbrechen, die mit zehn Jahren Haft bestraft werden“, (und insbesondere Verbrechen des Betäubungsmittel-/Drogenhandels laut Artikel 222-37 des französischen Strafgesetzbuches) sowie wegen weiteren Tatbeständen im Zusammenhang mit der Lieferung, dem Transfer und dem Import eines Verschlüsselungsmittels geführt.

Die kopierten Serverdaten förderten unter anderem zutage, dass die verwendeten SIM-Karten von einem niederländischen Betreiber stammten und im System insgesamt 66.134 SIM-Karten eingetragen waren. Es konnten knapp 3.500 Dateien mit Notizen entschlüsselt werden, die nach Lage der Dinge in Verbindung mit illegalen Aktivitäten, insbesondere dem Drogenhandel, standen. So zeigten beispielsweise die Notizen eines Nutzers hochwahrscheinlich dessen Einbindung in den Drogenhandel über Häfen und dessen Möglichkeiten zur Geldwäsche in Paris durch Zahlungsströme in Richtung Marokko.

Aufgrund richterlicher Genehmigungen des Gerichts in Lille vom 30.1.2020 für den Einsatz einer Computerdaten-Abfangeinrichtung erfolgte sowohl auf dem Server als auch auf den mit diesem Server verbundenen Endgeräten die Installation einer „Trojanersoftware“ und schließlich mangels anderweitiger Ermittlungsmöglichkeiten – ebenfalls mit richterlicher Genehmigung desselben Gerichts vom 20.3.2020 – eine Umleitung aller Datenströme (DNS-Umleitung) des vorgenannten Servers in Roubaix ab dem 1.4.2020. Dabei wurde bekannt, dass von der Datenabfangmaßnahme 32.477 Nutzer in 121 Ländern betroffen waren. Hiervon befanden sich 380 Nutzer ganz oder teilweise im französischen Hoheitsgebiet, von denen nach Einschätzung der französischen Behörden mindestens 242 Personen – mithin über 60 % – das verschlüsselte Kommunikationssystem zu kriminellen Zwecken nutzten. Das Nutzungsverhalten der übrigen Personen war zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgewertet oder diese waren inaktiv.

Verwertbarkeit der über EncroChat geführten Kommunikation
(Symbolfoto: Von Jeppe Gustafsson/Shutterstock.com)

Am 7.4.2020 wurden die Ermittlungen auf Transport, Besitz, Erwerb, Anbieten oder Abgabe von Drogen/Betäubungsmitteln und den Besitz und Erwerb von Waffen ohne Genehmigung ausgedehnt, nachdem nähere Informationen zum Netzwerk der Händler der EncroChat-Telefone bekannt geworden waren. In einem an einen australischen Händler versandten „Leitfaden“ zur Vermarktung der chiffrierten Telefone, der den Ablauf der unterschiedlichen Kaufphasen bis hin zum endgültigen Verkauf an die Nutzer schilderte, wurde unter anderem auch erklärt, dass die Zahlung vorzugsweise in Kryptowährung (Bitcoin) erfolgen solle, dass man sich gegenüber der Polizei verdeckt halten und insbesondere vermeiden müsse, durch mengenmäßig zu große Lieferungen aufzufallen. Dem Händler, dessen Hauptaktivität der Kokainhandel gewesen sein soll, wurde auch versichert, dass die Geräte weder „abgehört“ noch unrechtmäßig genutzt werden könnten, wenn sie „in schlechte Hände“ fielen. Insbesondere wurde darauf hingewiesen, dass der Polizei eine Lokalisierung nicht möglich sei, wenn diese an die IMEI und die SIM des Telefons gelange.

Aufgrund dieser Erkenntnisse wurden die aufgrund der richterlichen Anordnung zeitlich begrenzten technischen Maßnahmen zunächst für einen Monat ab 1.5.2020 und darauffolgend für weitere vier Monate ab 1.6.2020 – jeweils mit richterlichem Beschluss – verlängert und die Deliktstatbestände, derentwegen ermittelt wurde, erweitert. Die Maßnahmen endeten in Frankreich jedoch bereits mit der Einstellung des Geschäftsbetriebs des Unternehmens EncroChat nach ihrem Bekanntwerden am 28.6.2020.

Zu einer Unterrichtung der Bundesrepublik Deutschland – als zu unterrichtender Mitgliedstaat – durch die Republik Frankreich – als überwachender Mitgliedsstaat im Sinne von Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3.4.2014 (ABl. L 130/1) – RL-EEA – dahingehend, dass sich die Zielperson der Überwachung auf deutschem Hoheitsgebiet befindet oder befunden hat, kam es zunächst nicht. Ebenso unterblieb auch eine Mitteilung der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 31 Abs. 3 RL-EEA, dass die Überwachung durchzuführen oder zu beenden sei.

In der Folgezeit wurden die EncroChat-Daten dem BKA in der Zeit vom 3.4. bis zum 28.6.2020 übermittelt und dort aufbereitet. Von der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main wurden sodann getrennte Ermittlungsverfahren gegen die ermittelten Nutzer eingeleitet und den örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften über die jeweiligen Landeskriminalämter zugeleitet.

Vorangegangen war eine Mitteilung Frankreichs über die gewonnenen Erkenntnisse nach Art. 7 des Rahmenbeschlusses 2006/960/JI des Rates vom 18.12.2006 über die Vereinfachung des Austausches von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. 386/89). Hiernach stellen nationale Strafverfolgungsbehörden den Strafverfolgungsbehörden anderer Mitgliedstaaten Informationen und Erkenntnissen unaufgefordert zur Verfügung stellen, wenn konkrete Gründe für die Annahme bestehen, dass diese dazu beitragen könnten, Straftaten nach Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten aufzudecken, zu verhüten oder aufzuklären.

Am 2.6.2020 erließ die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main auf der Grundlage der Art. 5 ff. RL-EEA eine Europäische Ermittlungsanordnung, welche nach Art. 1 der Richtlinie auch auf die Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaates befinden, erlassen werden kann. In Anhang A, Abschnitt C (Sonderheft Rechtshilfe, Bl. 1), in welchem die erbetenen Maßnahmen mitgeteilt werden, heißt es: Das BKA sei über Europol informiert worden, dass in Deutschland eine Vielzahl schwerster Straftaten (insbesondere Einfuhr und Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge) unter Nutzung von Mobiltelefonen mit der Verschlüsselungssoftware EncroChat begangen werden. In diesem Zusammenhang wurden die französischen Justizbehörden ersucht, die unbeschränkte Verwendung der betreffenden Daten bezüglich der über EncroChat ausgetauschten Kommunikation in Strafverfahren gegen die Täter zu genehmigen.

Diese Genehmigung ist am 13.6.2020 durch die Ermittlungsrichterin in Lille erteilt und sodann die Fortsetzung der – zuvor ohne Ersuchen erfolgten – Übermittlung der nunmehr ersuchten Daten über Europol angeordnet worden. Die französischen Behörden haben einer Verwendung der Daten im Rahmen eines jeden Ermittlungsverfahrens im Hinblick auf jedwedes Gerichts-, Strafverfolgungs- oder Untersuchungsverfahren zugestimmt.

In Bezug auf die Angeklagten im vorliegenden Verfahren erließ die Staatsanwaltschaft Freiburg am 26.4.2021 und am 31.5.2021 (bezüglich des mutmaßlich vom Mitangeklagten H. genutzten EncroChat-Accounts) sowie am 27.5.2021 (bezüglich des mutmaßlich vom Angeklagten L. genutzten EncroChat-Accounts) Europäische Ermittlungsanordnungen. Die entsprechenden Genehmigungen zur umfassenden Verwertung in deutschen Strafverfahren wurden von der Ermittlungsrichterin in Lille am 4.6./5.7.2021 (bezüglich H.) und am 18.6.2021 (bezüglich L.) erteilt.

2. Die jedenfalls die Grundlage der Verwertung im vorliegenden Verfahren bildenden Europäischen Ermittlungsanordnungen der Staatsanwaltschaft Freiburg sind rechtmäßig erlassen worden.

Außer den in § 91j Abs. 1 IRG enthaltenen formalen Vorgaben genügen diese Ermittlungsanordnungen auch den sich aus Art. 6 Abs. 1 RL-EEA ergebenden materiellen Anforderungen (vgl. Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., § 91j IRG Rn. 3). Danach darf eine Europäische Ermittlungsanordnung nur erlassen werden, wenn die im Ausland durchzuführende Maßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen hätte angeordnet werden können (Art. 6 Abs. 1 lit. b RL-EEA). Zudem muss der Erlass der EEA auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, d.h. für die Zwecke des ihr zugrunde liegenden Strafverfahrens unter Berücksichtigung der Rechte der betroffenen Person notwendig und verhältnismäßig sein (Art. 6 Abs. 1 lit. a RL-EEA).

Ob sich die Prüfung dabei bloß auf die Frage der Genehmigung der Verwertung der bereits erhobenen Beweismittel beschränkt oder sich weitergehend auch auf die Rechtmäßigkeit der Erhebung der Beweise erstreckt, kann letztlich dahinstehen, nachdem bereits die Beweiserhebung auch nach deutschem Recht zulässig gewesen wäre.

a) Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit des Zugriffs auf die Endgeräte ist dabei im Blick zu behalten, dass sich die Ermittlungen jedenfalls auch gegen die Vertreiber der Endgeräte richteten. Danach findet der Zugriff auf die von den Angeklagten genutzten Endgeräte und die darauf gespeicherten Daten seine Grundlage jedenfalls in § 100b StPO. Auf der Grundlage der zu Vertrieb und Nutzung der mit der EncroChat-Software versehenen Endgeräte bekannt gewordenen Besonderheiten – konspirativer Vertrieb hochpreisiger mit Verschlüsselungstechnik versehener Endgeräte, die für eine konventionelle Nutzung nicht eingesetzt werden können – bestand der Anfangsverdacht gegen die Vertreiber der Geräte, damit bewusst die Begehung schwerer Straftaten der organisierten Kriminalität, die zum Katalog der in § 100b Abs. 2 StPO aufgeführten Taten gehören, zu unterstützen (vgl. KG a.a.O., Rn. 48 bei juris). Der Zugriff auf die Endgeräte war dabei gemäß § 100b Abs. 3 Nr. 2 StPO zulässig, weil direkte Ermittlungsmaßnahmen gegen die namentlich nicht bekannten Vertreiber nicht möglich waren und deshalb nur der Zugriff auf die mit den vertriebenen Endgeräten geführte Kommunikation weiteren Aufschluss über die Verwendung für die Begehung strafbarer, dem Katalog des § 100b Abs. 2 StPO unterfallender Handlungen erwarten ließ. Allein der Zugriff auf den Server, über den die Kommunikation geleitet wurde, erlaubte wegen der vorherigen Verschlüsselung bereits auf dem Endgerät keinen Zugriff auf die Kommunikationsinhalte.

b) Die Auswertung der auf den Endgeräten gespeicherten Kommunikationsinhalte, die die Beteiligung der Angeklagten an Betäubungsmittelstraftaten gemäß § 29a Nr. 2 BtMG und damit einer Katalogtat gemäß § 100a Abs. 2 Nr. 7 lit. b StPO belegten, hätten sodann auch nach deutschem Recht die Überwachung der laufenden Kommunikation gemäß § 100a Abs. 1 StPO gerechtfertigt, nachdem wegen des im Übrigen konspirativen Vorgehens der Beteiligten andere Ermittlungsmaßnahmen keinen Erfolg versprachen.

3. Soweit bei der Erhebung der Beweise durch die französischen Behörden nicht alle dafür maßgeblichen Rechtsvorschriften beachtet worden sind, führt dies im Ergebnis nicht zu einer Unverwertbarkeit der gewonnenen Beweismittel.

a) Ob das Vorgehen der französischen Behörden innerhalb des französischen Staatsgebiets den Vorgaben des französischen Rechts entsprach, ist grundsätzlich der Prüfung durch den Senat entzogen (BGHSt 58, 32); Verstöße gegen den ordre public sind insoweit nicht ersichtlich.

b) Der Zugriff auf die Endgeräte der Angeklagten in Deutschland ist aber an den rechtlichen Vorgaben der Art. 30, 31 RL-EEA zu messen (vgl. auch §§ 59 Abs. 3, 91c Abs. 2 Nr. 2 lit. c dd IRG). Die Unterrichtung der deutschen Behörden, zu der die französischen Behörden nach Art. 31 Abs. 1 RL-EEA jedenfalls ab dem Zeitpunkt verpflichtet waren, ab dem sie Kenntnis davon hatten, dass die von der Überwachung betroffenen Personen sich auf deutschem Staatsgebiet aufhielten, ist vorliegend jedoch nicht erfolgt, so dass eine – gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. b RL-EEA zwingend durchzuführende – Prüfung der Zulässigkeit der Maßnahme nach deutschem Recht durch die zuständige Behörde nicht erfolgen konnte.

c) Dieser Verstoß führt jedoch nicht zu einem Beweisverwertungsverbot.

Ein allgemein geltender Grundsatz, demzufolge jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich zieht, ist dem Strafverfahrensrecht fremd und auch weder von Verfassungs wegen noch durch die Europäische Menschenrechtskonvention oder das Recht der Europäischen Union geboten (BVerfG NJW 2008, 3053; 2011, 2417; BVerfGE 130, 1; KG a.a.O., jew. m.w.N.). Auch wenn die Strafprozessordnung nicht auf Wahrheitserforschung „um jeden Preis“ gerichtet ist, schränkt die Annahme eines Verwertungsverbotes eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts ein, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Das Rechtsstaatsprinzip gestattet und verlangt die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann. Der Rechtsstaat kann sich nur verwirklichen, wenn ausreichende Vorkehrungen dafür getroffen sind, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden. Daran gemessen bedeutet ein Beweisverwertungsverbot eine begründungsbedürftige Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist (BVerfGE 33, 367, 383; 46, 214, 222; 122, 248, 272 f.; BGHSt 40, 211, 217; 44, 243, 249; 51, 285, 290; st. Rspr.). Ein Beweisverwertungsverbot ist aber zumindest bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen, bei denen die grundrechtlichen Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind, geboten (vgl. BVerfGE 113, 29, 61; NJW 1999, 273; NJW 2006, 2684). Ein absolutes Beweisverwertungsverbot unmittelbar aus den Grundrechten hat das Bundesverfassungsgericht nur in den Fällen anerkannt, in denen der absolute Kernbereich privater Lebensgestaltung berührt ist (vgl. BVerfGE 34, 238, 245 f.; 80, 367, 374 f.; 109, 279, 320). Im Übrigen bedarf es einer Abwägung der für und gegen die Verwertung sprechenden Gesichtspunkte im Einzelfall. Für die Verwertbarkeit spricht stets das staatliche Aufklärungsinteresse, dessen Gewicht im konkreten Fall vor allem unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit weiterer Beweismittel, der Intensität des Tatverdachts und der Schwere der Straftat bestimmt wird. Auf der anderen Seite muss berücksichtigt werden, welches Gewicht der Rechtsverstoß hat. Dieses wird im konkreten Fall vor allem dadurch bestimmt, ob der Rechtsverstoß gutgläubig, fahrlässig oder vorsätzlich begangen wurde, welchen Schutzzweck die verletzte Vorschrift hat, ob der Beweiswert beeinträchtigt wird, ob die Beweiserhebung hätte rechtmäßig durchgeführt werden können und wie schutzbedürftig der Betroffene ist (BVerfGE 130, 1 m.w.N.).

Im vorliegenden Fall ist dabei in die Abwägung einzustellen, dass bei Beachtung der rechtlichen Vorgaben der Überwachung aller Voraussicht nach von der zuständigen Behörde nicht widersprochen worden wäre (vgl. dazu Art. 31 Abs. 3 RL-EEA), nachdem die Beweiserhebung – wie gezeigt – auch nach deutschem Recht zulässig gewesen wäre. Zudem dienen die gewonnenen Beweise der Aufklärung und Verfolgung schwerer Straftaten der organisierten Kriminalität, die auf andere Weise nicht zu bewerkstelligen wäre. Weder sind mit der Beweisgewinnung durch die französischen Behörden Zuständigkeitsvorgaben umgangen worden (sog. Befugnis-Shopping) noch ist eine gezielte Missachtung der komplexen rechtshilferechtlichen Vorschriften erkennbar. Umgekehrt ist zwar zu berücksichtigen, dass mit den Ermittlungsmaßnahmen in die besonders sensiblen Bereiche des Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 GG) bzw. des Schutzes der Integrität informationstechnischer Systeme als Teil des ebenfalls grundrechtlich geschützten Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 GG, vgl. dazu BVerfGE 120, 274) eingegriffen wurde. Dies wird allerdings dadurch relativiert, dass die Angeklagten diesen Schutz bewusst zur Begehung schwerer Straftaten missbraucht haben und nach den gesamten Umständen, insbesondere der fehlenden Möglichkeit, die überwachten Geräte für konventionelle Kommunikation zu verwenden, von vornherein nicht zu erwarten war, dass mit der Überwachung schutzbedürftige sensible Daten gesammelt werden würden. In der Zusammenschau wiegt der Rechtsverstoß danach vorliegend nicht so schwer, dass deswegen ein Beweisverwertungsverbot geboten wäre (ebenso OLG Hamburg a.a.O.; OLG Brandenburg a.a.O.; KG a.a.O.).

II.

Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO), die nicht durch die Erteilung von Auflagen und Weisungen nach § 116 StPO in ausreichendem Maße gemindert werden kann.

Die im Falle einer Verurteilung unter Heranziehung der gesetzlichen Strafrahmen, auch unter Berücksichtigung anzurechnender Untersuchungshaft und einer möglichen, wenn auch angesichts der Schwere der vorgeworfenen Straftaten, die ihrem gesamten Gepräge nach dem Bereich der schweren, organisierten Kriminalität zuzuordnen sind, durchaus nicht selbstverständlichen vorzeitigen Entlassung, bestehende hohe Straferwartung in dem hier anhängigen Verfahren begründet für den Beschuldigten einen erheblichen Fluchtanreiz, dem keine ausreichenden fluchthemmenden Umstände entgegenstehen.

Dabei wird nicht verkannt, dass nicht allein aus der Straferwartung auf das Bestehen von Fluchtgefahr geschlossen werden kann (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 112 Rn. 24 m.w.N.; KK-Graf, StPO, 8. Aufl., § 112 Rn. 19) und dass bei der Beurteilung der Fluchtgefahr jede schematische Beurteilung anhand genereller Maßstäbe ausscheidet, insbesondere die Annahme unzulässig ist, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets (oder nie) ein rechtlich beachtlicher Fluchtanreiz bestehe (KG Berlin, StV 2017, 450). Vielmehr ist eine umfassende Abwägung aller für und gegen eine bevorstehende Flucht sprechenden Umstände des konkreten Einzelfalles vorzunehmen, wobei eine hohe Straferwartung erfahrungsgemäß einen höheren Fluchtanreiz bietet (vgl. OLG Karlsruhe – Senat – StV 2010, 31). Die für eine Fluchtgefahr sprechenden „bestimmten Tatsachen“ brauchen dabei aber nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts festzustehen; es genügt derselbe Wahrscheinlichkeitsgrad wie beim dringenden Tatverdacht. Bei der Beurteilung der Fluchtgefahr ist zudem nicht nur auf äußerlich zutage liegende Tatsachen abzustellen, sondern auch auf Erfahrungssätze und innere Tatsachen, auf die nach der Lebenserfahrung oder aufgrund äußerer Umstände geschlossen werden kann (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 8.4.2019 – 3 Ws 102/19 -, BeckRS 2019, 7771).

Gemessen hieran sind in dem hier zu beurteilenden Fall folgende Umstände zu berücksichtigen: Der Angeklagte hat im Falle seiner Verurteilung angesichts der ganz erheblichen gehandelten Mengen unterschiedlicher Betäubungsmittel (mindestens 5 Kilogramm Kokain, 335 Kilogramm Marihuana) ungeachtet des noch nicht feststehenden Wirkstoffgehalts, der teilweisen Sicherstellung der Betäubungsmittel und des Fehlens von Vorstrafen mit der Verhängung einer erheblichen, mehrjährigen Gesamtfreiheitsstrafe zu rechnen, die weit oberhalb des bewährungsfähigen Bereichs liegen dürfte. Die gesetzliche Mindeststrafe für die in Täterschaft begangenen Delikte beträgt jeweils ein Jahr. Die Annahme minder schwerer Fälle erscheint nach gegenwärtigem Erkenntnisstand angesichts der Menge der gehandelten Betäubungsmittel, darunter auch solche mit hohem Suchtpotential, aber auch wegen des sonstigen Tatbildes (Verwendung von Krypto-Handys, teilweise wöchentlicher Umsatz großer Betäubungsmittelmengen unter Einsatz erheblicher finanzieller Mittel) eher fernliegend.

Aus der Höhe der im Falle einer Verurteilung drohenden Straferwartung ergibt sich für den Angeklagten ein so erheblicher Fluchtanreiz, sei es eine Flucht ins europäische Ausland oder ein Untertauchen im Inland, dass den vorhandenen familiären und beruflichen Bindungen kein ausreichendes fluchthemmendes Gewicht beigemessen werden kann. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Fortführung des vom Angeklagten betriebenen Gewerbes im Hinblick auf die längere Inhaftierung, aber auch die im Raum stehende Einziehung von Wertersatz von mehr als 1,6 Millionen Euro erheblich in Frage gestellt ist. Allein die Beziehungen zu seiner Ehefrau und den beiden gemeinsamen Kindern sowie zu einem Sohn aus einer früheren Verbindung sind vor diesem Hintergrund nicht geeignet, die Fluchtgefahr ausreichend zu mindern, zumal es wahrscheinlich erscheint, dass er aufgrund der über einen längeren Zeitraum betriebenen Betäubungsmittelgeschäfte über Kontakte ins kriminelle Milieu, auch im Ausland – nach den vorliegenden Erkenntnissen wurde jedenfalls das Marihuana aus Spanien bezogen – verfügt, die ihm eine Flucht erleichtern.

Dass es dem Angeklagten gewisse Schwierigkeiten bereiten dürfte, dauerhaft unterzutauchen, und er bei einer Flucht ins Ausland mit seiner Auslieferung rechnen müsste, gilt für den Angeklagten in gleicher Weise wie für jeden anderen einer Straftat Verdächtigen. Mit dieser Argumentation lässt sich eine Fluchtgefahr jedoch nicht grundsätzlich verneinen, zumal es für die Annahme von Fluchtgefahr genügt, wenn der Beschuldigte sich dem Verfahren zumindest für eine gewisse Dauer zu entziehen sucht (vgl. KK-Graf, StPO, a.a.O., § 112 Rn. 17 m.w.N.).

III.

Dem in Haftsachen zu beachtenden Beschleunigungsgebot (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 MRK, § 121 Abs. 1 StPO) wurde entsprochen. Vermeidbare, den Strafverfolgungsorganen anzulastende Verzögerungen liegen nicht vor.

Wegen des Ablaufs des Ermittlungsverfahrens wird Bezug genommen auf den Zuleitungsbericht der Staatsanwaltschaft vom 20.10.2021, der den Beteiligten bekannt gemacht wurde.

Angesichts des Schweigens des Angeklagten und der weiteren Tatbeteiligten waren komplexe Ermittlungen zur Identifizierung der hinter den benutzten EncroChat-Accounts stehenden Personen erforderlich. Obwohl der Vorsitzende der inzwischen zuständigen großen Strafkammer alsbald nach Anklageerhebung Anstrengungen unternahm, mit den Beteiligten Termine für eine Hauptverhandlung abzustimmen, ist ein Beginn der Hauptverhandlung vor allem wegen der Verhinderung des Verteidigers des Angeklagten erst ab dem 13.1.2022 möglich. Da die Termine aber mit den Beteiligten abgestimmt sind, kann danach von einem zügigen Fortgang des Verfahrens und dessen zeitnahem Abschluss ausgegangen werden.

IV.

Die Übertragung der weiteren Haftprüfung beruht auf § 122 Abs. 3 Satz 3 StPO.

V.

Mit der Entscheidung des Senats gemäß §§ 121, 122 StPO ist die vom Angeklagten erhobene Beschwerde gegen den Haftbefehl gegenstandslos (OLG Brandenburg a.a.O. m.w.N.).

 

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