Ein Blick auf die Feinheiten der Nebenklagevertretung
In einem tragischen Fall, in dem ein 13-jähriger Junge namens A. vermutlich am 31. Oktober 2020 durch Messerstiche getötet wurde, wurde ein kritischer Aspekt des deutschen Strafrechts in den Fokus gerückt: die Nebenklagevertretung. Beide Elternteile, Mutter N. A. und Vater H. A., haben sich als Nebenkläger der öffentlichen Klage angeschlossen. Sie stehen jedoch vor der juristischen Herausforderung, ob beide Elternteile durch unterschiedliche Anwälte vertreten werden dürfen. Das Hauptproblem ist die unterschiedliche Interpretation von § 397a und § 397b des Strafprozessordnung (StPO) durch das Landgericht und die Betroffenen.
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Übersicht
Eltern fordern individuelle Vertretung
Das Landgericht Berlin hatte zuerst Rechtsanwältin S. als Beistand für die Mutter, Frau N. A., bestellt. Später hat der Vater, Herr H. A., ebenfalls den Antrag gestellt, Rechtsanwalt T. als seinen Beistand zu beauftragen. Doch das Gericht lehnte dies ab und stellte fest, dass Rechtsanwalt T. nach § 397a Abs. 3 Satz 2 StPO hätte bestellt werden können. Als Begründung führte das Gericht an, dass die Interessen beider Elternteile gleichgelagert seien und daher eine Mehrfachvertretung gemäß § 397b Abs. 1 StPO für sachgerecht gehalten wird.
Beschwerde und gerichtliche Überprüfung
Die Ablehnung des Antrags auf individuelle Vertretung für den Vater hat eine Beschwerde ausgelöst. Rechtsanwalt T. hat in Vertretung und im Namen des Vaters Beschwerde eingelegt und die Bestellung als Beistand nach § 397a Abs. 3 Satz 2 StPO gefordert. Das Argument: Die Voraussetzungen für eine gemeinschaftliche Nebenklagevertretung im Sinne des § 397b Abs. 1 StPO lägen nicht vor.
Das Kammergericht entscheidet
In der Folge wurde die Beschwerde vom Kammergericht Berlin überprüft und teilweise anerkannt. Nach § 397a Abs. 1 Nr. 2 StPO stand dem Vater als Nebenkläger grundsätzlich ein Anspruch auf Bestellung eines eigenen Beistandes zu. Das Kammergericht hob den vorherigen Beschluss des Landgerichts auf und anerkannte das Recht des Vaters auf einen eigenen Anwalt. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens wurden zwischen dem Vater und der Landeskasse Berlin geteilt, wobei die Gebühr für das Beschwerdeverfahren um die Hälfte reduziert wurde.
Ein Präzedenzfall für die Nebenklagevertretung
Dieser Fall könnte weitreichende Folgen für die Interpretation und Anwendung der Vorschriften zur Nebenklagevertretung im deutschen Strafrecht haben. Er wirft wichtige Fragen hinsichtlich der Auslegung von § 397a und § 397b StPO auf und könnte als Präzedenzfall für ähnliche Situationen in der Zukunft dienen.
Das vorliegende Urteil
KG Berlin – Az.: 2 Ws 33/21 – 161 AR 72/21 – Beschluss vom 26.04.2021
1. Auf die Beschwerde des Nebenklägers H. A. wird der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 23. März 2021 aufgehoben, soweit dadurch der Antrag, dem Nebenkläger Rechtsanwalt T. als Beistand beizuordnen, abgelehnt und festgestellt worden ist, dass dieser Rechtsanwalt nach § 397a Abs. 3 Satz 2 StPO als Beistand hätte bestellt werden können.
2. Im Übrigen wird die Beschwerde verworfen.
3. Von den Kosten des Beschwerdeverfahrens und den notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers haben dieser und die Landeskasse Berlin jeweils die Hälfte zu tragen; die Gebühr für das Beschwerdeverfahren wird um die Hälfte ermäßigt.
Gründe
I.
Die Staatsanwaltschaft hat dem Angeklagten mit der Anklage vom 22. Januar 2021 u.a. zur Last gelegt, am 31. Oktober 2020 den 13-jährigen A. durch Messerstiche vorsätzlich getötet zu haben (§ 212 StGB). Das Landgericht Berlin hat nach Eröffnung des Hauptverfahrens am 12. April 2021 die Hauptverhandlung begonnen.
Mit Beschluss vom 16. Februar 2021 hatte das Landgericht festgestellt, dass sich die Mutter des Opfers, Frau N. A., als Nebenklägerin wirksam der öffentlichen Klage angeschlossen hat; zugleich hat das Schwurgericht ihr Rechtsanwältin S. als Beistand bestellt (§ 397a Abs. 1 StPO).
Mit Beschluss vom 23. März 2021 hat das Landgericht zudem festgestellt, dass sich auch der Vater des Getöteten, Herr H.A., als Nebenkläger wirksam der öffentlichen Klage angeschlossen hat. Den Antrag auf Beiordnung von Rechtsanwalt T. als Beistand hat es indessen abgelehnt, insoweit aber festgestellt, dass dieser Rechtsanwalt nach § 397a Abs. 3 Satz 2 StPO hätte bestellt werden können. Zur Begründung hat die Strafkammer darauf hingewiesen, dass sie mit dem Beschluss vom 16. Februar 2021 bereits der Mutter des Getöteten eine Rechtsanwältin als Beistand beigeordnet habe und die Interessen beider Elternteile gleichgelagert seien. Deshalb halte „die Kammer vorliegend eine Mehrfachvertretung gemäß § 397b Abs. 1 StPO für sachgerecht“.
Gegen diesen Beschluss hat Rechtsanwalt T. namens und in Vollmacht des Herrn H. A. Beschwerde eingelegt und beantragt, ihn nach § 397a Abs. 3 Satz 2 StPO als Beistand zu bestellen, da die Voraussetzungen für eine gemeinschaftliche Nebenklagevertretung im Sinne des § 397b Abs. 1 StPO nicht vorlägen.
II.
1. Die Beschwerde ist zulässig und teilweise begründet.
Dem Beschwerdeführer stand als Vater des Getöteten nach § 397a Abs. 1 Nr. 2 StPO grundsätzlich ein Anspruch auf Bestellung eines (eigenen) Beistandes zu.
Ausnahmsweise ist nach § 397b Abs. 1 Satz 1 StPO die Bestellung eines gemeinschaftlichen Rechtsanwaltes als Beistand möglich, wenn mehrere Nebenkläger „gleichgelagerte Interessen“ verfolgen. Die Interessen mehrerer Nebenkläger sind nach § 397b Abs. 1 Satz 2 StPO in der Regel „gleichgelagert“ „bei mehreren Angehörigen eines durch eine rechtswidrige Tat Getöteten im Sinne des § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO“. Die Interessen der Nebenkläger müssen lediglich „gleichgelagert“, nicht aber identisch sein. Auch bei Interessenunterschieden kann von der Möglichkeit des § 397b Abs. 1 StPO Gebrauch gemacht werden. Erst dann, wenn die Interessen in ihrer Gesamtheit so gegenläufig und widersprüchlich sind, dass deren gleichzeitige Wahrnehmung dem Mehrfachvertreter wegen „widerstreitender Interessen“ gemäß § 43a Abs. 4 BRAO berufsrechtlich untersagt wäre, scheidet eine gemeinschaftliche Vertretung aus (vgl. zu alledem BR-Drucks. 532/19, S. 41; ferner OLG Karlsruhe, Beschluss vom 8. Mai 2020 – 2 Ws 94/20 –, juris).
Was der Nebenklägervertreter vorliegend gegen eine gemeinschaftliche Nebenklagevertretung vorbringt, verfängt nicht. Dazu nur das Folgende: Gerade der Umstand, dass die beiden Nebenklageberechtigten miteinander verheiratet sind und durch den Tod ihres gemeinsamen Kindes gleichermaßen betroffen sind, ist Beleg für eine identische, zumindest aber gleichgelagerte Interessenlage. Ebenso wenig sind konkrete Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass ein Vertrauensverhältnis (zwischen Nebenkläger und Vertreter) aufgrund „kultureller Besonderheiten“ (welche das auch immer sein mögen) nur zwischen Personen gleichen Geschlechts hergestellt werden könnte. Der Aktenumfang ist für ein Schwurgerichtsverfahren eher unterdurchschnittlich. Sofern der Nebenklägervertreter schließlich darauf hinweist, dass § 397b StPO nicht dazu führen dürfe, dem „Mehrfachvertreter eine vergütungsfreie Mehrarbeit aufzuerlegen“, übersieht er, dass ihm keine „Mehrfachvertretung“ auferlegt worden ist. Im Übrigen wird der Mehraufwand durch eine gemeinschaftliche Nebenklagevertretung regelmäßig durch den Mehrvertretungszuschlag gemäß Nr. 1008 des Vergütungsverzeichnisses zum RVG abgegolten.
Letztlich kommt es auf all das aber nicht an. Denn die Entscheidung des Landgerichts beruht auf der irrtümlichen Annahme, dass beiden Nebenklägern bereits eine Rechtsanwältin als gemeinsame Nebenklagevertreterin bestellt worden ist. Dies trifft indes nicht zu. Denn durch den Beschluss des Landgerichts vom 16. Februar 2021 war die Rechtsanwältin allein zur Vertreterin der Nebenklägerin bestellt worden. Die Bestellung einer gemeinschaftlichen Nebenklagevertreterin war zu diesem Zeitpunkt auch noch gar nicht möglich, da der Vater des Getöteten erst später erklärt hat, sich dem Verfahren als Nebenkläger anzuschließen.
Da einem Nebenkläger nach § 397a, b StPO aber ein Anspruch auf Bestellung eines anwaltlichen Beistandes (und sei es auch „nur“ eines gemeinschaftlichen) jedenfalls zusteht, war der ablehnende Beschluss des Landgerichts – wie von der Generalstaatsanwaltschaft beantragt – aufzuheben.
Zutreffend weist die Generalstaatsanwaltschaft ferner darauf hin, dass dem Senat in diesem Verfahrensstadium eine weitergehende Entscheidung nicht möglich ist. Vielmehr wird die Strafkammer nach Anhörung der Nebenkläger erneut über die Bestellungsfrage zu entscheiden haben.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 4 StPO.