Erkundung des Prozessweges: Voraussetzungen für kurze Freiheitsstrafen
Der vorliegende Fall bietet eine faszinierende Untersuchung der Umstände, unter denen ein Gericht eine kurzfristige Freiheitsstrafe verhängen kann. Das Wesen des Falls liegt in den verschiedenen Straftaten, die der Angeklagte begangen hat, und der anschließenden gerichtlichen Entscheidungen, die letztendlich zu einer Revision führten.
Im Kern geht es um einen Angeklagten, der wegen Körperverletzung in Verbindung mit Beleidigung und Bedrohung sowie tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte und weiterer Körperverletzung verurteilt wurde. Die zentralen Fragen drehen sich darum, wie das Gericht den Schuldspruch und das Urteil im Hinblick auf diese Straftaten formuliert hat und welche Auswirkungen dies auf die Verhängung einer kurzfristigen Freiheitsstrafe hat.
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Übersicht
Prozessdynamik und Urteilsrevision
Der Angeklagte wurde zunächst vom Amtsgericht Essen wegen mehrerer Straftaten verurteilt, darunter Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung und Bedrohung sowie tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte. Daraufhin wurde eine Gesamtfreiheitsstrafe von 20 Monaten verhängt und zur Bewährung ausgesetzt. Eine Berufung führte jedoch zu einer Revision des Schuldspruchs.
In diesem neuen Schuldspruch wurde der Angeklagte wieder wegen ähnlicher Straftaten verurteilt, allerdings mit einer kleinen, aber signifikanten Änderung: der tätliche Angriff auf Vollstreckungsbeamte war nun in Verbindung mit vorsätzlicher Körperverletzung. Diese Veränderung hat weitreichende Auswirkungen auf den Rechtsfolgenausspruch und die Verhängung von Freiheitsstrafen.
Schlüsselmomente und Auswirkungen auf den Rechtsfolgenausspruch
Ein Schlüsselmoment des Falls ist die Situation in der Polizeiwache, in der der Angeklagte einen Polizeibeamten tätlich angriff und verletzte. Dieser Moment führte zu einer Anpassung desSchuldspruchs und hatte direkte Auswirkungen auf die zu verhängende Strafe.
Als Folge der Revision wurde das ursprüngliche Urteil in Bezug auf die für die Beleidigung festgesetzte Einzelfreiheitsstrafe sowie in Bezug auf den Gesamtstrafenausspruch mit den insoweit getroffenen Feststellungen aufgehoben. Der Fall wurde zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Essen zurückverwiesen.
Insgesamt ermöglicht dieser Fall einen tiefen Einblick in die Bedingungen und Auswirkungen der Verhängung kurzfristiger Freiheitsstrafen, insbesondere in Bezug auf verschiedene Straftatbestände und deren rechtliche Bewertung.
Das vorliegende Urteil
OLG Hamm – Az.: III-5 RVs 28/21 – Beschluss vom 27.04.2021
Das angefochtene Urteil wird im Schuldspruch dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte der Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung und Bedrohung, der Beleidigung und des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung schuldig ist.
Im Rechtsfolgenausspruch wird das Urteil in Bezug auf die für die Beleidigung festgesetzte Einzelfreiheitsstrafe sowie in Bezug auf den Gesamtstrafenausspruch mit den insoweit getroffenen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Essen zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Revision als unbegründet verworfen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Essen hat den Angeklagten am 29.04.2019 wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung in Tateinheit mit Bedrohung, wegen Beleidigung und tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 20 Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Ferner hat es den Angeklagten verurteilt, an die Adhäsionskläger E und B Schmerzensgeld nebst Zinsen zu zahlen. Auf die hiergegen gerichtete Berufung des Angeklagten hat die XI. kleine Strafkammer des Landgerichts Essen mit Urteil vom 15.10.2020 den Schuldspruch dahingehend berichtigt, dass der Angeklagte wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung in Tateinheit mit Bedrohung, wegen Beleidigung und tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung verurteilt wird.
In Bezug auf den tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte sowie die Körperverletzungen zum Nachteil des Polizeibeamten E hat das Amtsgericht festgestellt:
„Nunmehr rannte der Angeklagte auf die Tür der Polizeiwache zu. Es handelt sich dabei um eine elektronisch verriegelnde Tür. Der Zeuge E schloss die Tür von innen, um den Angeklagten auszusperren. Da der automatische Verriegelungsmechanismus jedoch noch nicht gegriffen hatte, stürmte der Angeklagte in die Polizeiwache und versetzte dem Zeuge E einen Schlag. Dem zweiten Schlag konnte der Zeuge E ausweichen. Der Zeuge E brachte den Angeklagten mit dem Zeugen C zu Boden und lag kopfgenau über ihm. Während der Angeklagte auf dem Bauch lag, versuchte er zu schlagen und zu treten. Sodann biss sich der Angeklagte am Grundgelenk des linken Daumens des Zeugen E fest, von welchem er erst nach Blendschlägen, der Nutzung von Schmerzpunkten am Kiefer sowie dem Einsatz von Pfefferspray abließ. Der Zeuge E erlitt eine Bisswunde am Daumengrundgelenk, welche folgenlos ausgeheilt ist.“
Hinsichtlich der Beleidigung hat das Landgericht als Einzelstrafe eine kurze Freiheitsstrafe von drei Monaten für angemessen erachtet.
Gegen dieses in Anwesenheit des Angeklagten verkündete Urteil hat dieser durch seine Verteidigerin mit Schriftsatz vom 16.10.2020, eingegangen beim Landgericht Essen per Telefax am gleichen Tag, Revision eingelegt. Das Urteil ist der Verteidigerin am 06.01.2021 zugestellt worden. Mit weiterem Schriftsatz vom 08.02.2021, per Telefax eingegangen beim Landgericht Essen am gleichen Tag, hat der Angeklagte die Sachrüge erhoben und insbesondere die Verurteilung wegen tateinheitlich begangener versuchter und vollendeter Körperverletzung gerügt sowie die Verletzung von § 47 StGB beanstandet.
Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm hat mit Antragsschrift vom 10.03.2021 beantragt, die Revision des Angeklagten als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.
II.
Die zulässige Revision des Angeklagten hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist sie jedoch unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO, da die aufgrund der Sachrüge veranlasste umfassende Nachprüfung des Urteils insoweit keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat.
1)
Der Schuldspruch war in Bezug auf den tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit versuchter und vollendeter Körperverletzung dahingehend abzuändern, dass der Angeklagte insofern lediglich des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit (vollendeter) Körperverletzung schuldig ist. Denn wird dieselbe Person durch mehrere Handlungen des Täters verletzt oder versucht zu verletzen, handelt es sich nur um eine Körperverletzung, wenn diese Akte – wie vorliegend – in engem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen und mit der Mehrheit der Handlungen das tatbestandliche Unrecht intensiviert wird (Joecks (Hardtung), in: MünchKomm, 3. Aufl. 2017, § 223 StGB Rn. 123).
Der Wegfall der tateinheitlich begangenen versuchten Körperverletzung nötigt indes nicht dazu, den Rechtsfolgenausspruch insoweit aufzuheben. Angesichts der konkreten Umstände des Einzelfalls, insbesondere der hohen Aggressivität des Angeklagten, wie sie nach den Feststellungen des Urteils im unprovozierten, heftigen Zubeißen zum Ausdruck kommt, kann der Senat ausschließen, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Tenorierung zu einer milderen Strafe gekommen wäre. Der Schuldspruch konnte daher abgeändert werden und die Feststellungen sowie die diesbezüglich verhängte Einzelstrafe von 15 Monaten konnten bestehen bleiben.
2)
Die bezüglich der Beleidigung verhängte Einzelstrafe von drei Monaten sowie der Gesamtstrafenausspruch waren hingegen mit den insoweit getroffenen Feststellungen aufzuheben und die Sache war an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Essen zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Nach der gesetzgeberischen Grundentscheidung des § 47 StGB soll die Verhängung kurzfristiger Freiheitsstrafen weitestgehend zurückgedrängt werden und nur noch ausnahmsweise unter ganz besonderen Umständen in Betracht kommen (Senatsbeschluss vom 08.01.2009 – 5 Ss 528/08 -, Rn. 19 – 20, juris; Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 47 StGB Rn. 1). Die Verhängung einer Freiheitsstrafe unter sechs Monaten hat danach regelmäßig nur dann Bestand, wenn sie sich aufgrund einer Gesamtwürdigung aller die Tat und den Täter kennzeichnenden Umstände als unverzichtbar erweist (vgl. hierzu Fischer, a.a.O., § 47 StGB Rn. 7; Heger, in: Lackner/Kühl, StGB, 29 Aufl. 2018, § 47 StGB Rn. 6, jeweils m.w.N.). Zwar können nähere Ausführungen zur Begründung einer kurzen Freiheitsstrafe – worauf die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend hingewiesen hat – ausnahmsweise dann entbehrlich sein, wenn sich aus den Urteilsgründen ergibt, dass die Voraussetzungen des § 47 StGB auf der Hand liegen, insbesondere der abgeurteilten Tat zahlreiche oder einschlägige Vorstrafen, wiederholte Bewährungsbrüchigkeit oder mehrfache Strafhaftverbüßungen vorangingen oder eine auffällig hohe Rückfallgeschwindigkeit vorliegt (Maier, in: MünchKomm, StGB, 4. Aufl. 2020, § 47 StGB Rn. 60). Stellt das Gericht hingegen dem Angeklagten eine günstige Legalprognose und setzt – wie vorliegend – die verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, versteht sich die Unerlässlichkeit der Verhängung nicht von selbst (Maier, in: MünchKomm, a.a.O., § 47 StGB Rn. 59).