Benachrichtigung des Verteidigers über Strafbefehl.
LG Hildesheim – Az.: 26 Qs 66/12 – Beschluss vom 20.06.2012
1. Der Beschluss des Amtsgerichts … vom 03.05.2012 (9 Cs 42 Js 35691/11) wird aufgehoben.
2. Dem Angeklagten wird auf seine Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung des Einspruchs gegen den Strafbefehl des Amtsgerichts … vom 21.12.2011 (9 Cs 42 Js 35691/11) gewährt.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse zur Last.
Gründe
I.
Dem Angeklagten wird eine Beleidigung vorgeworfen. Mit Strafbefehl vom 21.12.2011, zugestellt am 22.12.2011, hat das Amtsgericht … ihn mit einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 10,- EUR belegt. Hiergegen hat der Angeklagte mit Schreiben vom 24.01.2012, bei Gericht eingegangen am selben Tag, verspätet Einspruch eingelegt und beantragt, ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist zu gewähren. Mit Beschluss vom 03.05.2012 hat das Amtsgericht den Einspruch als unzulässig verworfen und den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit der sofortigen Beschwerde.
II.
Das Rechtsmittel ist zulässig und begründet. Der Angeklagte hat einen Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist. Er war im Ergebnis ohne sein Verschulden gehindert, diese einzuhalten.
Die Entscheidung beruht auf §§ 44, 45 StPO.
Das Fristversäumnis des Angeklagten war unverschuldet.
Nachdem der Angeklagte vom Polizeikommissariat … zur Beschuldigtenvernehmung – zu der er nicht erschien – vorgeladen worden war, legitimierte sich dort mit Schriftsatz vom 01.12.2011 nebst Vollmacht sein Verteidiger und ersuchte um Akteneinsicht bzw. um Weiterleitung dieses Gesuchs an die zuständige Behörde. Obwohl dieser Schriftsatz bereits am 01.12.2011 beim Polizeikommissariat Alfeld einging und die Polizeibeamten die Akte nach Abschluss der dortigen Ermittlungen bereits am 14.11.2011 an die Staatsanwaltschaft übersandt hatten, leitete das Polizeikommissariat … den anwaltlichen Schriftsatz nicht unverzüglich weiter, sondern erst mehr als 6 Wochen später, nämlich unter dem 13.01.2012. Ein Grund hierfür erschließt sich aus der Akte nicht. Bei der Staatsanwaltschaft ging die Verteidigerlegitimation so erst am 17.01.2012 ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie den Strafbefehl bereits beantragt und das Amtsgericht diesen erlassen.
Erst nachdem das Amtsgericht am 06.01.2012 die Rechtskraft auf dem Strafbefehl vermerkt und die Akte an die Staatsanwaltschaft zurückgesandt hatte, gewährte diese mit Verfügung vom 25.01.2012 Akteneinsicht an den Verteidiger, der mit Schreiben vom 24.01.2012 bereits für den Angeklagten – wie dargestellt – Einspruch gegen den Strafbefehl erhoben und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begehrt hatte, zunächst unter Hinweis darauf, dass der Angeklagte sich in der Zeit vom 19.12.2011 bis zum 21.01.2012 in … aufgehalten habe. Nachdem er Akteneinsicht erhalten hatte, ergänzte der Verteidiger das Wiedereinsetzungsgesuch um den Hinweis, dass er über die Zustellung des Strafbefehls nicht unterrichtet worden sei.
Die erhebliche zeitliche Verzögerung, mit der die Polizei die Verteidigerlegitimation weiterleitet hat, hat dazu geführt, dass das Amtsgericht den Verteidiger entgegen § 145a Abs. 3 S. 2 StPO nicht von der Zustellung des Strafbefehls an den Angeklagten unterrichtet und dem Verteidiger keine Abschrift der Entscheidung hat zukommen lassen. Dieses Verschulden ihrer Ermittlungspersonen muss sich die Justiz zurechnen lassen.
Das Unterbleiben der Benachrichtigung des Verteidigers nach § 145a Abs. 3 S. 2 StPO begründet die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn nicht besondere Umstände vorliegen, die dem Betroffenen Anlass geben mussten, für die Einhaltung der betreffenden Frist auch selber Sorge zu tragen (KG, StV 03, 343; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 44, Rdnr. 17 m.w.N. und § 145a, Rdnr. 14).
Der Bestimmung wird zwar, soweit es um die Wirksamkeit der Zustellung geht, nur die Funktion einer Ordnungsvorschrift zuerkannt. Die an einem Strafverfahren Beteiligten dürfen aber regelmäßig darauf vertrauen, dass das mit der Sache befasste Gericht alle verfahrensrechtlichen Bestimmungen einschließlich der Ordnungsvorschriften beachtet. Das gilt uneingeschränkt auch für § 145a Abs. 3 StPO. Die dort getroffenen Regelungen dienen dem Zweck, dem Bevollmächtigten oder bestellten Verteidiger die Fristenkontrolle zu übertragen. Der Betroffene soll sich darauf verlassen können, dass der Verteidiger Kenntnis von der Zustellung der Entscheidung erhält, nach der er sich ohne zusätzliche Rückfragen bei dem Betroffenen richten kann. Demgemäß begründet das Unterbleiben der Benachrichtigung des Verteidigers die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn nicht besondere Umstände vorliegen, die dem Betroffenen Anlass geben mussten, für die Einhaltung der Frist auch selbst Sorge zu tragen (KG, a.a.O.). Derartige Umstände sind hier nicht erkennbar. Vielmehr war der Angeklagte selbst in der fraglichen Zeit ortsabwesend und hatte deshalb, wie der Verteidiger weiter vorgetragen hat, diesen im Falle einer negativen gerichtlichen Entscheidung mit der Einlegung von Rechtsmitteln beauftragt, weil er eine solche Entscheidung nicht akzeptieren wollte. Im Fall der Benachrichtigung hätte der Verteidiger deshalb in jedem Fall Einspruch eingelegt. Insofern beruht die Fristversäumung auf der mangelnden Benachrichtigung. Dem Angeklagten war daher die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Dies gilt umso mehr, als jedenfalls im vorliegen Verfahrensstadium eine großzügige Anwendung des § 44 StPO im Interesse der materiellen Gerechtigkeit geboten erscheint. Die Anforderungen dürfen insbesondere dann nicht überspannt werden, wenn es für den Betroffenen – wie hier – um den „ersten Zugang“ zum Gericht, das heißt um die Möglichkeit geht, insoweit erstmals das rechtliche Gehör in der Sache zu erlangen (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 44, Rdnr. 11 m.w.N.).
Die wesentlichen Umstände, die zur Gewährung der Wiedereinsetzung führen – insbesondere die Verteidigerlegitimation und deren verzögerte Weiterleitung durch die Polizei etc. – sind bereits nach Lage der Akten belegt und bedurften insofern keiner Glaubhaftmachung mehr nach § 45 Abs. 2 StPO.
Da dem Angeklagten Wiedereinsetzung gegen die versäumte Einspruchsfrist gewährt wurde, war auch die Verwerfung des Einspruchs als unzulässig aufzuheben. Der Angeklagte hat die Einlegung des Einspruchs binnen einer Woche nach Wegfall des Hindernisses nachgeholt (§ 45 Abs. 2 StPO).
Die Kosten- und Auslagenentscheidungen beruhen auf §§ 467 Abs. 1 StPO analog und 473 Abs. 7 StPO.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 310 Abs. 2 StPO).